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§ 6 

(Leibniz, Voltaire)

 

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Dafür aber, daß der neuzeitlichen Philosophie des Menschen endgültig die Augen aufgingen und sie das animal rationale, die res cogitans des Descartes, in ihren nicht mehr narzißtisch und humanistisch getrübten unverwandten Blick nahm, war weder Bacon noch Machiavelli noch Montaigne zureichender Grund und Anstoß.

Dazu brauchte es mehr als Skepsis und Wissenschaftskritik, nämlich Anschauungsunterricht. Die notwendige Lektion über sich selbst und seine Möglichkeiten erteilte das Untier von 1618 bis 1648 in dem nicht endenwollenden Blutbad, das eine vergeßliche Geschichtsschreibung mit dem nichtssagenden Etikett »Dreißigjähriger Krieg« versehen hat.

Das kollektive und hautnahe Erlebnis des organisierten Völkermordes und einer Amok laufenden Militär­maschinerie hat in der Philosophie einen traumatischen Schock ausgelöst, auf den sie nur mehr zwei Antworten fand: metaphysische Überkompensation oder den schmerzhaften Versuch der Aufklärung. Den ersten Weg beschritten ein Descartes, ein Spinoza — der gleichwohl, die Mentalität der Soldateska unbewußt abbildend, Mitleid und Reue unter die Untugenden einreiht —, später ein Leibniz.

Ihre gigantischen Systeme sind spekulative Fluchtburgen und Prunkschlösser zugleich. Fluchtburgen, weil sie den Rückzug aus der aberwitzigen und unsäglichen Wirklichkeit erlauben; Prunkschlösser, weil sie gegen das viehische Wüten jenseits der metaphysischen Wälle und Laufgräben eine unbefleckte Vernunft inthronisieren helfen, die zur Erkenntnis des Absoluten und des Seins befähigt sein soll und zur Rechten der Substanz, ihrer Attribute, Modalitäten und Akzidenzien absolutistisch hofhält.

Während Hobbes in seiner Staats- und Gesellschaftsphilosophie die Zeitläufe dahin zurückprojiziert, wo sie eigentlich angesiedelt sein sollten — nämlich in einem vorgeschichtlichen und vorsozialen Raum, in dem einst der Kampf aller gegen alle geherrscht habe und der Mensch dem Menschen ein Wolf gewesen sei, und damit indirekt die Tiefe des zivilisatorischen Absturzes auch während des englischen Bürgerkrieges verdeutlicht —, schwingt sich der zwei Jahre vor Abschluß des Westfälischen Friedens in Leipzig geborene Gottfried Wilhelm Leibniz, dem auf seinen frühen Reisen die Ruinen und Trümmerfelder, die Krüppel und die Invaliden alltägliche Kulisse gewesen sein müssen, zur Theodizee, d.h. der Rechtfertigung der existenten Welt als der besten aller möglichen, auf — und leistet damit eine ungeheuer­liche kulturelle Verdrängungsarbeit, die man, hätte sie nicht die grandiosen Proportionen der Leibnizschen Monadologie, in den Bereich pathologischen Wirklichkeitsverlusts abzuschieben geneigt wäre.

Leibniz erklärt das Unheil für eine optische Täuschung, ein aus Informationsmangel geborenes Phantasma. Alles, was sei, sei so, wie es sei, zum besten bestellt und in vollkommener gottgewollter Harmonie, denn es gebe »nichts Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes im Universum, kein Chaos, keine Verwirrung, außer dem Anscheine nach« (Leibniz 1959: 59). Höchste philosophische Tugend ist deshalb ein kratzfüßiger Quietismus, der sich mit der Gewißheit bescheidet,

daß es [das Universum] alle Wünsche der Weisesten übertrifft, und daß es unmöglich ist, die Welt besser zu machen als sie ist, und zwar nicht nur in bezug auf das allgemeine Ganze, sondern auch und besonders für uns selbst, wenn wir dem Urheber des Ganzen in gebührender Weise ergeben sind

(ebd.: 69).

Leibniz' System ist in diesem Sinne eine einzige Ergebenheitsadresse und erfreute sich nicht zuletzt deshalb in höfisch-absolutistischen Kreisen ungekannter Popularität. Das aufs schwerste lädierte Menschenbild seiner Epoche retuschiert er in ergebener Devotion gegenüber Gott und seinem Kurfürsten; allein, das prometheische Idealbild der Renaissance will sich trotz aller Mühen nicht mehr einstellen, die restaurierte Gestalt bleibt verkrümmt, untertänig, der Prästabilierung bedürftig, und nur ihre eilfertige spekulative Identifikation mit dem weltlichen und himmlischen Herrscher läßt vergessen, daß ihre Physiognomie im Grunde immer noch die eines von Pikenstößen entstellten, um Almosen bettelnden Landsknechtes ist.

Es ist erwiesen ... daß die Dinge nicht anders sein können als sie sind, denn da alles zu einem bestimmten Zweck erschaffen worden ist, muß es notwendiger­weise zum besten dienen. Bekanntlich sind die Nasen zum Brillentragen da — folglich haben wir auch Brillen; die Füße sind offensichtlich zum Tragen von Schuhen eingerichtet — also haben wir Schuhwerk; die Steine sind dazu da, um behauen und zum Bau von Schlössern verwendet zu werden, und infolgedessen hat unser gnädiger Herr ein wunderschönes Schloß. ... Und da die Schweine dazu da sind, gegessen zu werden, so essen wir das ganze Jahr hindurch Schweinefleisch.

Also ist es eine Dummheit zu behaupten, alles auf dieser Welt sei gut eingerichtet; man muß vielmehr sagen: alles ist aufs beste bestellt.

(Voltaire 1972: 11)

Diese bloßstellende Summe der Leibnizschen Lehre, die ihre Anbiederungsbereitschaft und anthropo­zentrische Kurzschlüssigkeit unterstreicht, stammt von dem Spötter Voltaire, der sie in Candide oder der Optimismus (1759) dem in der Metaphysico-theologico-cosmologie bewanderten Hauslehrer Pangloß in den Mund legt.

Pangloß ist mit metaphysischer Blindheit geschlagen und nicht einmal mehr willens, sich durch am eigenen Leibe erfahrenes Leid sein philosophisches Sinnsystem in Frage stellen zu lassen. 

Auf die Frage Candides, ob er angesichts der zugefügten Schmerzen und des erlittenen Unrechts denn nie daran gezweifelt habe, auf der besten aller möglichen Welten zu leben, antwortet er:

Ich bin immer noch derselben Meinung, ... denn schließlich bin ich Philosoph, und es ist mir daher unmöglich, meine Worte zu widerrufen, um so weniger, als Leibniz ja nicht Unrecht haben kann und es im übrigen nichts Schöneres auf der Welt gibt als die prästabilierte Harmonie, den erfüllten Raum und die immaterielle Substanz.

(ebd.: 173 f.)

Die burleske Komik und Vitalität, mit der in Candide argumentiert wird, hat sich für die pedantische Akkuratesse und mathematische Hölzernheit der Leibnizschen Konstruktion als tödlich erwiesen, weil sie ihren Popanzcharakter und das hohle Pathos aufdeckte. 

(Wie im übrigen der Hegelsche Weltgeist heute dastünde, hätte sich auch für die Phänomenologie und Enzyklopädie ein voltairescher Kommentator gefunden, mag man sich aus Pietätsgründen kaum auszumalen.)

Trotz der sofort einsetzenden Unterdrückungsmaßnahmen und Zensurbemühungen — Voltaires Buch wird in Genf öffentlich verbrannt, in Paris verboten und 1762 vom Vatikan auf den Index gesetzt — wird das Scheitern der Versuche eines rationalistischen Wegvernünftelns und Eskamotierens des Untiers nach den Massenvernichtungen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit Candide damit auch für das Bildungs­bürgertum unübersehbar.

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 www.detopia.de     Literatur     ^^^^ 

Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)