§ 7
(Meslier, Voltaire)
37-39
Es ist die Stunde der Aufklärung, des - wie Kant später formulierte - »Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, einer Unmündigkeit, die sich auch in einem ganz und gar wirklichkeitsfernen und spekulativ aufgedunsenen Selbstbild äußerte.
Hinter den Projektionsschirmen und spanischen Wänden des Gottgewollten, der höheren Weisheit, des demütigen Ertragens, die jetzt die Schlachtfelder und Hinrichtungsstätten umstellten, mußte Wirklichkeit erst wieder mühsam freigelegt, sichtbar und vorurteilsfrei beschreibbar gemacht werden, denn der durchdringende Blick jenes lange vergessenen Abbé Jean Meslier (1684-1729) war selbst den Großen des »siècle des lumières« nicht immer eigen.
Meslier, der vierzig Jahre lang eine Pfarrstelle unweit Sédan — jenes Ortes, an dem sich seine Einschätzung des Menschen knapp 200 Jahre später auf das grauenvollste bestätigen sollte — innehatte, war gleichwohl überzeugter Atheist, Materialist und Anarchist und wünschte in seinem Testament nichts sehnlicher, als daß »all die Großen der Erde und alle Adeligen mit den Gedärmen der Priester erhängt und erwürgt werden sollten« (Meslier 1976: 74), hatte sich aber gleichzeitig durch historische Erfahrung davon überzeugen müssen, daß das Reich der Freiheit wohl niemals Wirklichkeit werden würde.
Der Ekel, den er gegenüber seinesgleichen und vor sich selbst und der ihm aufgezwungenen lebenslangen Maskerade empfand, ließ die idealistische Glorifizierung des Menschen ebensowenig zu wie sentimentales Mitleid mit dem Untier; was blieb, war allein der ohnmächtige Wunsch nach dem Ende, nach Widerruf des Existenzrechts dieser Kreatur:
Ich habe soviel Bosheit in der Welt erlebt, ja selbst die vollendetste Tugend und die reinste Unschuld waren vor der Tücke der Verleumdung nicht sicher.
Ich sah, und man sieht immer noch alle Tage eine Unzahl schuldlos Unglücklicher, die ohne Grund verfolgt und zu Unrecht unterdrückt werden, ohne daß jemand durch ihr Los gerührt würde oder daß barmherzige Beschützer ihnen hülfen.
Die Tränen so vieler gebrochener Gerechter und das Elend so vieler von den schlechten Reichen und den Großen dieser Erde so tyrannisch unterdrückten Menschen haben mir... so großen Ekel und solche Verachtung vor dem Leben eingeflößt, daß ich ... den Zustand der Toten weitaus glücklicher halte als den der Lebenden — und jene, die niemals gelebt haben, für noch tausendmal glücklicher als die Lebenden, die noch immer unter solch großem Elend seufzen
(ebd.: 62f.).
Zu solch prinzipieller Absage vermag sich ein Voltaire mit seinem »Ecrasez l'infame« allenfalls gegenüber der Kirche, nicht aber gegenüber dem Menschen durchzuringen.
Dabei stehen ihm die Untaten und Schrecknisse nicht minder klar vor Augen — in der Geschichte der Reisen Scarmentados (1756) wird eine Weltreise zur Irrfahrt durch ein Pandämonium, in dem sich die unterschiedlichen Nationen gegenseitig in rohester Menschenverachtung überbieten; in Zadig (1747) kommt dem Protagonisten der Mensch vor wie »Geziefer, das sich auf einem Schmutzstäubchen gegenseitig verschlingt« (Voltaire 1961: 73) und in Babuk oder der Lauf der Welt (1764) findet sich folgender »Augenzeugenbericht« jener Schlachten, die nach Maßgabe der Leibniz-Wolffschen Lehre aus dem unerforschlichen Ratschluß Gottes zwecks Stabilisierung der universalen Harmonie geschlagen wurden:
Er sah, wie Soldaten ihre eigenen sterbenden Kameraden umbrachten, um ihnen ein paar blutige, zerfetzte, kotbedeckte Lumpen zu entreißen. Er ging in die Lazarette, wohin die Verwundeten gebracht wurden, von denen die meisten durch die unmenschliche Nachlässigkeit derer zugrunde gingen, die der König ... als ihre Pfleger teuer bezahlte. »Sind das Menschen«, rief Babuk aus, »oder wilde Tiere?«.
(Ebd.: 9)
Aber Voltaire schützt sich gleichzeitig vor dem Ekel und der tiefen existentiellen Betroffenheit eines Meslier durch die Droge des Spottes und der Ironie, deren wundersam versöhnliche Wirkung wir schon von Erasmus kennen.
Der Effekt ist halluzinogen; statt metaphysischer Weichzeichner liefert sie Entlastung durch Vorgabe eines gleichsam olympischen Standortes, durch eben das homerische Gelächter, in das die beiden riesenwüchsigen Reisenden von Sirius und Saturn in Mikromegas (1752) ausbrechen, als ihnen ein für sie nur durch die Lupe erkennbarer Thomist klarzumachen versucht, das gesamte Universum sei um des Menschen willen geschaffen worden.
Diese Sicherung garantiert für den Leser Amüsement auch bei so bitteren Wahrheiten wie der Einsicht, daß
.... hunderttausend Narren unserer Art, die Hüte tragen, hunderttausend andere Tiere umbringen, die Turbane tragen, oder von ihnen abgeschlachtet werden und daß das nahezu auf der ganzen Erde seit undenklichen Zeiten Brauch gewesen ist ... [und daß der Streit] um ein paar Schmutzhaufen [geht] ... und nicht etwa, daß ein einziger unter all diesen Millionen von Menschen, die sich niedermetzeln lassen, auch nur einen Strohhalm von diesem Schmutzhaufen forderte.
Es handelt sich lediglich darum, herauszubekommen, ob er einem gewissen Manne gehören soll, der Sultan genannt wird, oder einem andern, der aus irgendeinem Grunde Caesar genannt wird. Keiner von beiden hat jemals das Fleckchen Erde gesehen, um das es geht, noch wird er es jemals zu Gesicht bekommen; und fast keins der Tiere, die sich gegenseitig töten, hat jemals das Tier erblickt, für das es sich töten läßt.
(ebd.: 151).
Möglicherweise ist das, was hier so leichtfüßig und frivol daherkommt, auch nur mühsam getrimmter Galgenhumor, und vielleicht tut unsere Betrachtungsweise Voltaire deshalb ein wenig unrecht.
Fest steht allerdings, daß er sich außerstande sieht, den letzten radikalen Schritt zu unternehmen oder ihn, als er von einem anderen getan wird, auch nur zu begreifen. »Ich war sehr verärgert«, schreibt er in einem Brief, »daß man die Philosophie so weit getrieben hat. Dieses verfluchte Buch <Système de la nature> ist eine Sünde wider die Natur.«
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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)