§ 8 Horstmann-1983
(Holbach)
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Was bei dem Spiritus rector der französischen Aufklärung so vehemente Ablehnung hervorruft, ist in Wahrheit epochale Synopsis und das Zuendedenken ihrer Anschauungen und Theorien und unter unserer Fragestellung eine der wichtigsten philosophischen Arbeiten der Neuzeit überhaupt; Paul Thiery d'Holbach's 1770 anonym erschienenes System der Natur, das in seinem militanten Materialismus als legitimer Vollstrecker und Vollender des Meslierschen Testamentes gelten darf.
D'Holbachs Leistung ist der gelungene Grenzübertritt vom neuzeitlichen Humanismus zum anthropofugalen Denken, das in seiner Sprache »materialistisch« heißt, die Aufkündigung der geheimen homerischen Sympathie für die von den Göttern belächelten »Irdischen« zugunsten eben jener unverwandten, affektneutralen »orbitalen« Sicht, wie sie in der Einleitung skizziert wurde.
Damit haben die zahllosen Anläufe seit der antiken Stoa, die Versuche der Gattung, sich ohne anthropozentrischen oder theozentrischen Selbstbetrug, ohne das spekulative Sublimat von Eigenliebe und Eigenlob, ohne das Spiegelkabinett der Historiographie der Sieger und der Philosophie von Tributpflichtigen in den Blick zu nehmen, zum ersten Mal uneingeschränkt Erfolg.
D'Holbach erkennt den naturwüchsigen Selbstbezug und Selbstbetrug, dem die Gattung ihr Überleben und ihren evolutionären Fortschritt verdankt:
Der Mensch macht sich notwendigerweise zum Mittelpunkt der gesamten Natur; er kann die Dinge in der Tat nur nach der Art und Weise beurteilen, wie er selbst von ihnen affiziert wird; er kann nur das lieben, was er für sein Dasein als vorteilhaft erachtet; er haßt und fürchtet notwendigerweise alles, wodurch er leiden muß; schließlich bezeichnet er... alles das als Unordnung, was seine Maschine stört, und er glaubt, alles sei »in Ordnung«, sobald ihm nichts widerfährt, was seiner Existenzweise nicht entspräche.
Diesen Ideen zufolge mußte das Menschengeschlecht notwendig zu der Überzeugung gelangen, daß die gesamte Natur allein seinetwegen geschaffen worden sei, daß sie bei all ihren Werken nur den Menschen allein im Auge habe oder vielmehr daß es die mächtigen Ursachen, denen die Natur Untertan sei, in allen Wirkungen, die sie im Universum hervorbringen, nur auf den Menschen abgesehen hätten.
(D'Holbach 1978: 312).
Und er entdeckt zugleich den einzig möglichen Fluchtweg aus dem Gefängnis des Gattungsnarzißmus, nämlich die philosophische Erinnerung an das urtümlich mythologische Bewußtsein, daß wir Fremde, Ausgestoßene, daß wir die Parias der Schöpfung sind, weil wir als einzige spüren, daß das Organische nichts ist als ein großes wechselseitiges Würgen und Verschlingen, ein Einverleiben ohne Ende, ohne Sinn, ohne Ziel:
Scheint der Eroberer seine Schlachten nicht für die Raben, für die wilden Tiere und die Würmer zu schlagen? Sterben die angeblichen Günstlinge der Vorsehung nicht, um Tausenden von verächtlichen Insekten, für die die Vorsehung ebenso zu sorgen scheint wie für uns, als Nahrung zu dienen?
Der Haifisch freut sich über den Sturm und tummelt sich auf den hohen Wellen, während der Matrose auf dem Wrack des zerschellten Schiffes seine zitternden Hände zum Himmel emporhebt. Wir sehen, daß sich die Wesen in einem ständigen Kriege befinden, und jedes sucht auf Kosten des anderen zu leben und aus dem Mißgeschick Nutzen zu ziehen, das sie alle heimsucht und zerstört. Betrachten wir die Natur in ihrer Gesamtheit, so zeigt sich, daß alle Dinge... entstehen, um unterzugehen, daß sie dauernden Wechselfällen ausgesetzt sind, denen sich kein einziges entziehen kann.
Ein sehr flüchtiger Blick genügt also, um uns darüber zu belehren, daß die Idee falsch ist, nach der der Mensch die Endursache der Schöpfung und der beständige Gegenstand der Tätigkeit der Natur... ist.
(ebd.: 452.)
Die Abkehr von einem teleologischen Naturbegriff bedeutet damit zugleich Abschied von einer Seinspyramide, deren Sockel das Anorganische bildet und die über die Stufungen des Pflanzlichen und Tierischen als sich zum Menschen aufgipfelnd gedacht wird.
Statt als unüberholbare und unverlierbare Krone der Schöpfung zu gelten, sinkt das Untier in den Überlebenskampf und die Konkurrenz alles Seienden zurück, wird endlich und in dieser Endlichkeit aus einer fiktiven Retrospektive erstmals als nicht mehr existent, als ausgestorben und fossil, philosophisch vorstellbar:
Welche Ungereimtheit oder welche Inkonsequenz liegt denn in der Vorstellung, daß der Mensch, das Tier, der Fisch, der Vogel einst nicht mehr sein werden? Sind diese Geschöpfe denn für die Natur eine unerläßliche Notwendigkeit, und könnte sie ohne diese Geschöpfe ihren ewigen Gang nicht verfolgen? ...
Sonnen erlöschen und verkrusten, Planeten werden zerstört und zerstreuen sich in dem weiten Weltraum; andere Sonnen entzünden sich, neue Planeten bilden sich, um ihre Umdrehungen auszuführen oder um neue Bahnen zu beschreiben, und der Mensch, ein unendlich kleiner Teil des Erdballs, der in der unermeßlichen Weite nur ein unendlicher Punkt ist, glaubt, daß das Universum für ihn gemacht sei, bildet sich ein, daß er der Vertraute der Natur sein müsse, schmeichelt sich, ewig zu sein, und nennt sich König des Universums!
(Ebd.: 80)
Dieser anthropofugale Blickwinkel und d'Holbachs darwinistische Erkenntnisse vorwegnehmende Einschätzung des Untiers als naturgeschichtlich überholbares »Eintagswesen« (ebd.) ist trotz der geschilderten Vorarbeiten eine gedankliche Pionierleistung, die in der Geschichte der Philosophie nicht mehr ungeschehen zu machen war, weil sie Vernunft als Verklärungs- und Selbsttäuschungsmedium ersetzte durch eine neue und selbstkritische Verständigkeit, die sich neben ihrer Fehlbarkeit jetzt auch ihre eigene Sterblichkeit einzugestehen vermochte und auf die Anmaßung der Teilhabe an göttlichem Allwissen oder einer ewigen spirituellen Substanz Verzicht leistete.
Während sich an der kulturellen Peripherie, in der Abgeschiedenheit des ostpreußischen Königsberg, Immanuel Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) ganz im Sinne des d'Holbachschen Skeptizismus daran macht, die Grenzen möglicher Erkenntnis abzustecken und metaphysische Sätze in den Bereich des Glaubens oder des hoffnungslos Aporetischen auszulagern, kommt es unter den französischen Aufklärern selbst zu wiederholten Versuchen, den Desillusionismus des Systems der Natur abzuschwächen oder ihn — wir erinnern uns an Voltaires Kommentar — als überspitzt und fehlerhaft abzutun.
Man konstruiert in diesem Zusammenhang - wie Condorcet - in seinem Tableau historique des progres de l'esprit humain (1794) eine säkulare Metaphysik des unendlichen Fortschritts oder — wie Rousseau — ihre gleichsam seitenverkehrte Kopie, eine bußfertige Zivilisationskritik, um so das Destillat des jüdisch-christlichen Auserwähltheitsbewußtseins und seiner Heilserwartungen zu retten und sich eben der Sonderstellung des Menschen im Kosmos zu versichern, die d'Holbach so hartnäckig leugnete.
Diese »Aufklärung« war der Aufklärung nicht gewachsen. Statt von der ontologischen Exzentrizität des Untiers und dem ständigen katastrophalen Scheitern seiner Selbstentwürfe her zu denken, sieht der anthropozentrische Revisionismus in hoffnungslosem Selbstbetrug wieder einmal die Aurora eines neuen Zeitalters heraufziehen und beeilt sich, den jetzt bürgerlichen Prometheus des tiers etat mit den ihm gemäßen Standestugenden der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auszustatten.
Es kommt, wie es kommen muß. Das Untier begreift im Augenblick, daß es fürderhin nicht mehr nur für Gott und Vaterland, sondern unter dem Feldzeichen der Menschenrechte und mithin unter dem Generalpardon höchster Ideale wird wüten, brandschatzen und morden dürfen, zieht flugs die Trikolore auf, macht sich besten Gewissens an die Dezimierung seiner Landsleute und wenig später unter der Führung eines zwergenhaften Korsen an die Verheerung ganz Europas.
Der guillotinierende Patriotismus und die guillotinierte Rechtschaffenheit der Französischen Revolution hätte, so möchte man meinen, doch endlich den Anachronismus humanistischer und philanthropischer Spekulation, die Notwendigkeit der Aufnahme der d'Holbachschen Thesen und das Desiderat einer Anthropologie der Distanz mit unmißverständlichem Nachdruck vor Augen führen müssen. Aber weit gefehlt; die Lernbereitschaft der Philosophie erwies sich wie nach dem Germanensturm, wie nach den Exzessen des Mittelalters, wie nach den Greueln des Dreißigjährigen Krieges erneut als überfordert. Man hatte es doch gut gemeint, das Beste der Menschheit im Auge gehabt, Patentrezepte der Emanzipation entwickelt und Briefe zur Beförderung der Humanität verfaßt.
Angesichts der praktischen Perversion dieser doch so klaren Handreichungen und Maximen zog man sich in den philosophischen Schmollwinkel zurück; daß der aufgeklärte Humanismus an der Fehlerhaftigkeit seines eigenen Menschenbildes gescheitert war, wollte man nicht wahrhaben. Die Theorie war rein und makellos, und wenn sie gewissenlose Heißsporne befleckt und als Deckmantel für ihre üblen Machenschaften benutzt hatten, so mußte man sich in Zukunft eben aus den Niederungen politischen Handelns heraushalten.
Als infolge der napoleonischen Eroberungspolitik und der anschließenden Befreiungskriege alles in Stücke geht und später die Metternichsche Restauration mit Karlsbader Beschlüssen und Demagogenverfolgung für Ruhe in den Ruinen sorgt, raunt ein Schelling von Urgrund und der polaren Ausfaltung der Natur, hält ein Hegel Zwiesprache mit dem Weltgeist, dem bar aller empirischen Erfahrung Weltgeschichte Fortschritt zur Freiheit ist, predigt ein Wilhelm von Humboldt, ein Friedrich Schleiermacher - ohne Rücksicht auf »beiherspielende« Wirklichkeit - Humanität und sittliche Persönlichkeitsentfaltung.
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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)