§ 10 Horstmann-1983
(Hartmann, Schopenhauer)
51-53
Niemand hat diesen Bruch eines Denkens — dem Leben kollektives Leiden bedeutete, das aber, um diesem Leiden abzuhelfen, nur völlig unzulängliche partikulare Mittel vorzuschlagen wußte und dabei auf die bewährten Narkotika fernöstlicher Mystik verfiel — klarer gesehen als der in seiner <Philosophie des Unbewußten> (1869) an Schopenhauer anknüpfende Ex-Offizier und Privatgelehrte Eduard von Hartmann — und niemand hat sich die Ohnmacht einer spekulativen Phantasie nüchterner eingestanden — die im prä-atomaren 19. Jahrhundert von der Frage, wie denn konkret auch nur die leidvolle menschliche Existenz in globalem Maßstab sollte aufgehoben werden können, schlicht überfordert blieb.
Hartmann kommentiert die Erlösungsvorstellung Schopenhauers und sein Konzept der individuellen Negation des Willens zum Leben wie folgt:
Es liegt aber auf der Hand, daß diese Annahme mit den Grundgedanken Schopenhauers ganz unvereinbar ist. Denn der Wille ist ihm ja ... das all-einige Wesen der Welt, und das Individuum nur subjektiver Schein. Wie soll diesem da die Möglichkeit zustehen, seinen individuellen Willen als Ganzes nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch zu verneinen, da sein individuelles Wollen doch nur ein Strahl jenes all-einigen Willens ist. ... Darum ist das Streben nach individueller Willensverneinung ebenso töricht und nutzlos, ja noch törichter als der Selbstmord, weil es langsamer und qualvoller doch nur dasselbe erreicht: Aufhebung dieser Erscheinung, ohne das Wesen zu berühren, das für jede aufgehobene Individualerscheinung sich unaufhörlich in neuen Individuen darstellt und objektiviert. (v. Hartmann 1913 II: 219f.).
Gerade weil er den Schopenhauerschen Pessimismus als totalen und totalitären ernstnimmt und mit seinem Lehrer bekennt, die Welt sei »eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß einer der Teufel des andern sein muß« (Schopenhauer 1966: 159), kann sich Hartmann mit dessen halbherzigem asketischen Meliorismus nicht zufriedengeben.
Wo das Leiden allumfassend und das Glück immer Illusion ist — Hartmann seziert die vielgestaltigen Phantasmata eines diesseitigen, jenseitigen und zukünftigen Glücks über fast fünfzig Seiten —, da muß auch die Erlösung allumfassend und damit Ergebnis nicht eines individuellen, sondern eines kollektiven Aktes sein. Das den Weltprozeß tragende und in seiner Elendigkeit fortzeugende absolute Unbewußte ist nicht sukzessive und Stück für Stück, sondern nur als Ganzes in einem gleichsam eruptiven Akt apokalyptischer Auflehnung des Bewußtseins aufzuheben:
Für den, der den Begriff der Entwicklung gefaßt hat, kann es nicht zweifelhaft sein, daß das Ende des Kampfes zwischen dem Bewußtsein und dem Willen ... nur am Ziele der Entwicklung, am Ausgang des Weltprozesses liegen kann. Und für den, der vor allem an der All-Einheit des Unbewußten festhält, ist die Erlösung, die Umwendung des Wollens ins Nichtwollen, auch nur als all-einiger Akt, nicht als individuelle, sondern nur als kosmisch-universale Willensverneinung zu denken: als der Akt, der das Ende des Prozesses bildet, als der jüngste Augenblick, nach welchem kein Wollen, keine Tätigkeit, und »keine Zeit mehr sein wird«. (v. Hartmann 1913 H: 220)
Hartmanns Schlußfolgerung ist nunmehr widerspruchsfrei und als Korrektur des Schopenhauerschen Lösungsvorschlags überzeugend. Als es aber darum geht, das letzte Glied einer abstrakten Deduktionskette zu veranschaulichen, ein Postulat visionär vorwegzunehmen und die Frage zu beantworten, »auf welche Weise das Ende des Weltprozesses: die Aufhebung alles Wollens ins absolute Nichtwollen, mit dem bekanntlich alles sogenannte Dasein (Organisation, Materie usw.) eo ipso verschwindet und aufhört, zu denken sei« (ebd.: 222), versagt Hartmanns Vorstellungskraft; und er ist aufrichtig genug, sich und seinen Lesern dieses Scheitern einzugestehen. Immerhin denkmöglich scheint ihm eine Terminierung durch gemeinsame Willensanstrengung aller bewußten menschlichen Einzelgeister; gleichwohl versäumt er nicht hinzuzufügen:
Indes sind unsere Kenntnisse viel zu unvollkommen, unsere Erfahrungen zu kurz und die möglichen Analogien zu mangelhaft, um uns auch nur mit einiger Sicherheit von jenem Ende des Prozesses eine Vorstellung bilden zu können.
(ebd.)
Bis zur Revokation der Schöpfung rechnete Hartmann noch mit Jahrhunderten, wenn nicht gar - wie ein Hinweis auf das Entropiegesetz nahelegt - mit kosmischen Zeiträumen. Daß die unserer Gattung am 6.8.1945 über Hiroshima, am 9.8. über Nagasaki aufgesetzten Lichter und die anschließenden waffentechnologischen Bravourleistungen des Untiers einer apokalyptischen Phantasie in weniger als drei Generationen auf die Sprünge helfen würden, hat er sich ebensowenig ausmalen können wie die Tatsache, daß wenn schon nicht der Welt-, so doch der Erduntergang gegen Ende des 20. Jahrhunderts in militärischen Planspielen und Computersimulationen bereits tausendfach Generalprobe gefeiert haben würde und die letzte globale Tathandlung des homo sapiens, »die Aufhebung allen Wollens ins absolute Nichtwollen« deshalb mit der mühelosen Geschicklichkeit und lässigen Präzision des Routiniers ablaufen dürfte, derer unsere bisherige Karriere auf diesem Planeten in so schmerzlicher Weise ermangelt.
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Ulrich Horstmann (1983)