§ 11
(de Maistre, Nietzsche)
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Nach einer über zweitausendjährigen spekulativen Odyssee ist die Philosophie mit Schopenhauer und Hartmann zu der ursprünglichen Gewißheit des Mythos zurückgekehrt, daß wir Parias und Entartete der Schöpfung sind, eine evolutive Fehlform, die sich in einem Spasmus der Vernichtung selbst ad absurdum führen und zurücknehmen wird.
Die Wahrheit des anthropofugalen Denkens ist damit eine so einfache und sinnfällige, daß es fast unverständlich wird, wie sie überhaupt verlorengehen konnte — und in der Tat gibt es eine Form der Erkenntnis, die im Gegensatz zur philosophischen Reflexion die Erinnerung, daß wir besser nicht wären, gegen die Zeitläufe bewahrt und ihr niemals abgeschworen hat, die Kunst nämlich, mit der wir uns an anderer Stelle beschäftigen werden.
Allerdings kann die exponierte Stellung beider Denker in der Geschichte einer Philosophie der Distanz und Menschenflucht nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwar ihre zentrale Einsicht in die Notwendigkeit der Selbsterlösung des Untiers, die tendenziell auf Aufhebung allen organischen Leidens überhaupt abzielt, den Charakter eines unumstößlichen Axioms besitzt, hinter das nicht mehr zurückzufallen ist, daß die konkrete Formulierung des »hard core« aber zeitgebunden und im Gewande des spekulativen Idealismus des frühen 19. Jahrhunderts erfolgte und deshalb keineswegs als sakrosankt gelten kann.
Die Hypothese eines Weltwillens oder absoluten Unbewußten ist dem metaphysikfeindlichen 20. Jahrhundert ebenso suspekt wie der solipsistisch-phänomenalistische Tenor der erkenntnistheoretischen Ausführungen Schopenhauers, und beides mag man getrost als überholt ad acta legen.
Wozu gleichsam hegelianisch einen Welt-Ungeist hypostasieren, wenn Mythos und Kataklysmus-Phantasien, vor allem aber die blutigen Annalen der Weltgeschichte die ganz unmetaphysische Tatsache bekunden, daß sich »die Menschheit ... nach dem Nichts, nach Vernichtung [sehnt]« (v. Hartmann 1913 II: 215),
wozu noch Meditation und Askese propagieren oder wie Hartmann über geheimnisvoll-spiritistische Methoden zur kollektiven Stillstellung des Seins nachsinnen, wenn in den Bunkern, auf Startrampen und in U-Boot-Schächten seit Jahren weit verläßlichere und nach vertrauten physikalischen Gesetzen funktionierende Instrumentarien zu Gebote stehen.
Umgeben von den wohlgefüllten, wohlgewarteten Arsenalen der Endlösung, im begründeten Vertrauen auf die angesparten Overkill-Kapazitäten und die schon in Greifweite liegenden Technologien zur Pasteurisierung der gesamten Biosphäre, ausgestattet mit den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Vorbereitungskrieges, massenmedial durchkonditioniert und auf die Gestaltwerdung brueghelscher Höllenfahrten und eines planetarischen Totentanzes mit Fleiß vorbereitet, haben wir Letztgeborenen naturgemäß leicht kritisieren gegenüber Denkern, die statt über unmittelbare Anschauung nur über deren metaphysische Surrogate, über die Hilfskonstruktionen idealistischer Einbildungen verfügten, in denen selbst das undenkbar war, was heute als überholte Waffengeneration schon wieder zur Ausmusterung ansteht.
Tadeln wir also mit Rücksicht und Bedacht und sehen wir dem anthropofugalen Denken eines Arthur Schopenhauer und Eduard von Hartmann nach, daß sie bei aller Brillanz zwar die Aufgabe definierten, das geeignete Bewältigungsverfahren aber noch nicht entdecken konnten, wenngleich im nachhinein die Lösung nicht weniger augenfällig scheint als ihr simpler philosophischer Imperativ: »Das Leiden muß ein Ende haben!«
Skizziert nun wird der einzig gangbare Weg zur Erfüllung dieses Postulats schon 1820, also ein Jahr nach Erscheinen der Welt als Wille und Vorstellung, in den Soirées de Saint-Petersburg des französischen Philosophen und Staatsministers Joseph Marie Comte de Maistre, dessen erzreaktionär-klerikale Gesinnung ihn gleichwohl zu einer Einsicht befähigte, zu der sich das weniger bornierte Denken des 20. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen immer noch nicht ermannt hat, nämlich:
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Es ist dem Menschen aufbehalten den Menschen zu erwürgen. ... Der Krieg ist es, der das Urtheil vollstrecken wird. — Hören Sie nicht, wie die Erde schreit und Blut verlangt? Das Blut der Thiere genügt ihr nicht, auch nicht das Blut der Schuldigen, welches von dem Schwerdte der Gesetze vergossen wird. ... So geht, von der Milbe bis zum Menschen, ohne Unterlaß das große Gesetz der gewaltsamen Zerstörung aller lebendigen Wesen in Erfüllung. Die ganze Erde, immerfort mit Blut getränkt, ist nur ein unermeßlicher Altar, auf welchem alles, was lebt, ohne Ende, ohne Maß, ohne Unterlaß, bis zur Vollendung der Dinge ... geopfert werden muß. ... Der Krieg ist also göttlich an sich.
(de Maistre 1815 II: 31 ff.)
Seit das Untier existiert, hat es im Kriege gestanden gegen sich selbst und mit Faustkeil und Schwert, mit Armbrust und Gewehr, mit Streitwagen und Raketenwerfern das Unheil, das es den Unbilden der Natur verdankt, immer noch mühelos durch selbstbewirktes zu übertreffen gewußt.
All die endlosen und bis zur Erschöpfung durchfochtenen Schlachten, all das Bombardieren, Sprengen und Schleifen, all die Harnischtürme, Schrotthaufen und Schädelpyramiden, die die wütenden Heere wie Strandgut zurückließen, aber sind nicht verloren.
Weit entfernt davon, Ausdruck und Mahnmal fehlgeleiteter Verteidigungsbereitschaft, mißbrauchter Vaterlandsliebe oder eines beklagenswerten Aggressionstriebs zu sein, enthüllen sie sich einer anthropofugalen Vernunft als Übungen, Vorbereitungen, Exerzitien. Wenn das Untier auch nur den geringsten Grund zum Stolz hätte, dann knüpfte er sich nicht an die Aufbauleistungen von Zivilisationen, sondern an den sprühenden Erfindungsreichtum bei der Entwicklung von Mitteln und Wegen zu ihrer nachhaltigen Beseitigung.
Imposant ist allein die verbissene Hartnäckigkeit, mit der Waffen entwickelt, im Einsatz erprobt, verbessert und durch neue wirksamere ersetzt werden — und wenn das Konzept des Fortschritts jenseits der bloßen Ersatz-Eschatologie überhaupt Sinn und ein fundamentum in re besitzt, dann ist dieses Fundament in den Pionierleistungen der Militärtechnologie zu entdecken.
Sind nicht alle anderen Kreaturen bei Gift und Stachel, bei Klaue, Zahn und Hörn stehengeblieben? Und welches vernünftige Wesen hätte sich nicht mit dem Stock zufriedengegeben, um sich seines zudringlichen Nächsten zu erwehren?
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Nicht so das Untier. Unter Hintanstellung von Frieden und Freundschaft, von Liebe und Leben hat es sich der Vervollkommnung jener Wehrhaftigkeit verschrieben, die ihm die Natur so nachdrücklich verweigert. Mit höchster Hingabe hat es die Erde von seinen bescheidenen Anfängen in jenem Geröllfeld an, wo es sich die ersten Waffen zurechtschlug, über einen vieltausendjährigen mühevollen Aufrüstungsprozeß in eine einzige Waffenschmiede verwandelt, Gattungsgeschichte aus dem dumpfen Idyll des Primitiven, des Sammelns und Seins, befreit und sie in ein rücksichtsloses Turnier, eine Spartakiade der Blitzkriege und Völkerschlachten, ein unerschöpfliches Lernfeld für Eroberer, Demagogen und Machtpolitiker verwandelt.
Nicht ein Jahrzehnt des Ausruhens, der Rast und des völligen Friedens hat sich das Untier in der von der Geschichtsschreibung erschlossenen Zeitspanne seit der Antike gegönnt, sondern waffenklirrend Schritt vor Schritt gesetzt, Hieb um Hieb geführt, als Lohn für die selbstlos dem militärischen Fortschritt dienenden Legionen Grab um Grab geschaufelt und damit jener Maxime die Ehre gegeben, die Friedrich Nietzsche im Zarathustra in die Sätze kleidete:
Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen. ... Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.
(Nietzsche 1967 I: 575).
Nietzsche und de Maistre haben recht. Dem Untier ist der Krieg heilig von Anbeginn, und niemals hat es versäumt, seinem Gotte überschwenglich und ohne Maß zu opfern; niemals hat die Gattung als solche die Gewißheit verlassen, daß ihr Heil in den Waffen liege, und sie hat sich von Friedensaposteln und Menschentümlern, wie die mörderischen Folgen der Christianisierung des Abendlandes zur Genüge verdeutlichen, in dieser ihrer Überzeugung nur bestärken lassen.
Nicht zuletzt deshalb erscheint es als glückliche Fügung, wenn die Philosophie, die dem Untier gleichermaßen vergeblich Enthaltsamkeit und die Wonnen der Waffenruhe gepredigt hat, sich am Ende mit einigen ihrer Vertreter doch noch zur Weisheit des Untiers bekehrt und in neugewonnener anthropofugaler Klarsicht ihren humanistischen Irrtümern abschwört.
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Wären diejenigen, die im Troß des Kyros, Alexander, Caesar mitmarschierten, in den Horden des Attila und Dschingis-Khan vorwärtsstürmten, nicht dem Kriegsgott, sondern den vielgestaltigen Lehren der Menschenliebe gefolgt, wir ständen heute noch mit Steinäxten und Wurfhölzern da und hätten nicht die geringste Aussicht, dem fleischgewordenen Leiden auf diesem Planeten in absehbarer Zeit ein Ende zu bereiten.
So aber sind wir mit unseren rastlosen Anstrengungen nahe ans Ziel gekommen. Wir haben das ABC der Abschreckung durchbuchstabiert. Wir sind befähigt, der organischen Qual ein Cannae zu bereiten, von dem sie sich nicht mehr erholen wird. Und wir haben zu guter Letzt erkannt, daß wir selbst der auserwählten Generation angehören, die die apokalyptischen Visionen des Mythos in die Wirklichkeit übersetzen wird und damit die uralte Sehnsucht der Gattung, nicht mehr sein zu müssen, in Erfüllung gehen läßt.
Weltgeschichte — ein Schlachthof, zweifellos.
Aber das Grauen ist endlich geworden, und wenn wir schon seinen Anfang nicht bestimmen konnten, so haben wir jetzt doch die Macht, seine unaufhörliche Fortzeugung zu verhindern. Weltgeschichte — auch ein nacheiszeitliches Trainingslager also, eine Arena, in der das Untier seine Gladiatorenkunst vervollkommnet und sich verbissen hochrüstet, watend in einem Brei von Knochen, Blut und Hirn, bis es das Inferno anrichten, den großen Streich gegen sich und das Leben führen kann, dessen sehnsüchtige Vorahnung schon dem Neandertaler die Keule führte.
»Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist«, schreibt Nietzsche (1967 I: 551). Das anthropofugale Denken hat seinen Traum vom Übermenschen aufgekündigt und hält die Aussicht auf das Ende, den Untergang, an sich schon für tröstlich genug.
Ziel der Menschheitsentwicklung ist ihm nicht sein Nihilismus der Umwertung aller Werte, sondern der Annihilismus, d.h. die Selbstaufhebung des Untiers mit all seiner Gier nach Sinn und Wahrheit, nach jenem metaphysischen Opium, das ihn während der Jahrtausende der Vorbereitung so gnädig betäubte und unter glücksverheißenden Halluzinationen hielt, derer wir Letztgeborene nun nicht mehr bedürfen.
Der anthropofugale Blick hat das Unbewußte offengelegt und dessen Paradoxon ist ohne Schrecken: wir sind da, um uns zu vernichten; der »Sinn« unserer Existenz ist der Untergang eben des sinnenden Untiers; und die Äonen, die seit unserer Deportation in das Ghetto der Vernunft vergangen sind, haben wir weidlich genutzt, um unser Abtreten schließlich mit höchster wissenschaftlicher Rationalität und der Brillanz von Nobelpreisträgern zu bewerkstelligen.
Tiergattungen mögen aussterben, von Seuchen dahingerafft, ihrer ökologischen Nische beraubt, überspezialisiert, dem Druck der Nahrungskonkurrenten nicht mehr gewachsen, ohnmächtig den Gesetzen der Natur ausgeliefert; nicht so der Mensch. Er hat sich auf die Hinterbeine gestellt und aufgerichtet vor der Schöpfung; autonom geworden und dem biologischen Selektionsdruck entwachsen läßt er auf diese Weise nicht mehr mit sich umspringen — sondern entledigt sich seiner in eigener Regie.
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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)