§ 12
(Barnet, Leyhausen, Kneutgen, Krippendorf, McNamara, Kahn)
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So ungeheuerlich und verheißungsvoll sich die militärtechnologischen Fortschritte des Untiers im 20. Jahrhundert darstellen — weit über einhundert Millionen Menschen sind seit der Jahrhundertwende durch Kriegseinwirkung ums Leben gekommen (vgl. Buchan 1968: 10) —, so jämmerlich nehmen sich demgegenüber seine philosophischen Anstrengungen aus, diese Entwicklung auf den ihr gemäßen Begriff zu bringen.
Wie in den Jahrhunderten zuvor schreckt die Philosophie auch diesmal mit wenigen Ausnahmen vor der Beschäftigung mit dem Unheil, mit dem homo extinctor, wie vor der Berührung eines Aussätzigen zurück und beugt sich in kindlicher Konzentration über die Baukästen der Wissenschaftstheorie, Hermeneutik, Ideologie- und Ökologiekritik.
Weit davon entfernt, die Erkenntnisse eines d'Holbach, Schopenhauer und von Hartmann aufzunehmen, voranzutreiben und so die letzte Tathandlung eines vorbewußten Annihilismus mit dem triumphalen und bewußten Ja anthropofugaler Aufklärung zu begleiten, hat sie deren Wegbereiter in ein geistesgeschichtliches Kuriositätenkabinett abgeschoben und sich der hingebungsvollen Pflege des moribunden Humanismus verschrieben.
Die letzten Metastasen, die dank ihrer lebensverlängernden Maßnahmen in der verrottenden humanistischen Doktrin noch zur Ausbildung gelangen und die die philosophischen Therapeuten in grotesker Fehleinschätzung zu Zeichen der sich abzeichnenden Wiederherstellung und Gesundung des Untiers erklären, sind Marxismus, Existentialismus und ein praxisorientiertes Arbeitsfeld, das sich Friedens- und Konfliktforschung nennt.
Während der Marxismus als säkulare Heilslehre und Menschheitsreligion in kaum mehr als hundert Jahren eben die Phänomenologie des Märtyrertums und Cäsaro-Papismus, des Schismas und der Ketzerverfolgung, der Heiligenverehrung und Heidenmission mit dem Schwerte ausbildete, zu deren Entfaltung das Christentum noch eineinhalb Jahrtausende benötigt hatte und folglich geistesgeschichtlich eine bloße Reprise darstellt — wenngleich uns sein erster thermonuklearer Kreuzzug ins Neue Jerusalem der Nichtexistenz führen könnte —, während der Existentialismus die Chimäre des Humanen in einem leerlaufenden Dezisionismus und substanzfreien Aktionismus des sich selbst Entwerfens, Wählens, Übersteigens wider Willen eher verdeutlicht als vergessen macht, erfordert die Friedensforschung, die das Ruder der Weltgeschichte im letzten Augenblick herumwerfen und das Untier so um die Früchte eines Hunderte von Generationen währenden Ringens bringen will, eine eingehendere Widerlegung.
Friedensforschung — das ist der fleischgewordene Skrupel, das ist spekulativer Defätismus, das Zurückschrecken vor dem Unausweichlichen, Sabotage des anthropofugalen Willens zum Ende. Dabei sind die Forschungsresultate bei Licht besehen und vorurteilsfrei gewichtet höchst mutmachend und beruhigend, und nur die interpretative Deutung und Einbettung der Friedens- und Konfliktforscher selbst verwandelt sie in das schaurige Inventar ihrer humanistischen Geisterbahnen.
Was sollte auch skandalös sein an der Feststellung, »daß es in den 3400 Jahren übersehbarer Menschheitsgeschichte nur 243 Jahre ohne einen bekannt gewordenen Krieg gegeben hat« (Leyhausen 1970: 61) und daß nach einer anderen Statistik »im Durchschnitt 2,6 Kriege pro Jahr geführt worden sind« (ebd.: 103), wenn man die Funktion bewaffneter Auseinandersetzungen mit anthropofugaler Klarsicht nicht wie die Friedensforschung als ständige Entgleisung verteufelt, sondern auch noch das kleinste Geplänkel, das unbedeutendste Gemetzel als Schritt in die richtige Richtung, als Vorbereitung für das globale Harmageddon würdigt.
Wen schreckten die heute auf Abruf bereitstehenden Zehntausende taktischer und strategischer Kernwaffen, von denen eine einzige die gesamte Explosivkraft aller im Zweiten Vorbereitungskrieg von den Vereinigten Staaten auf Deutschland und Japan abgeworfenen Bomben um den Faktor 10 bis 15 übertrifft (vgl. Friedensanalyse 1976 II: 16), wenn er sich die Größe der Aufgabe vor Augen führt, die in der Dekontamination eines ganzen Planeten besteht, auf dem die Untiere ja keineswegs nur in leicht zugänglichen Metropolen anzutreffen sind, sondern sich bis ins ewige Eis, in Wüsten und entlegenste Gebirgstäler ausgebreitet haben.
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Müßte man nicht im Gegensatz zu dem verantwortungslosen Gezeter der Konfliktforscher auf entschiedene weitere Aufrüstung drängen, die allen Eventualitäten gerecht wird und verhindert, daß der kommende Waffengang, statt die ersehnte Apokalypse zu bringen, zum Dritten Vorbereitungskrieg degeneriert und damit für die Überlebenden einen nochmaligen qualvollen Anlauf notwendig macht?
Müßte man den Mechanismus, der die Politiker und Militärs daran hindert, auf eine humanistische »Vernunft« und den »gesunden Menschenverstand« zu hören und den Richard J. Barnet in seinem Traktat <Der amerikanische Rüstungswahn oder die Ökonomie des Todes> mit den Worten skizziert:
Da es beinahe kein Waffensystem gibt — und es sei noch so abgelegen —, das die Sowjets nicht bauen könnten, wenn sie genügend Zeit, Energie und Geldmittel darauf verwenden würden, bildet die Vorstellungskraft des Pentagon die einzige Begrenzung für die Militärausgaben der USA.
In der realen Welt nennt man Leute, die den größten Teil ihres Geldes ausgeben, um sich gegen Bedrohungen zu wappnen, die nur in ihrer Einbildung existieren, Paranoiker. In der Welt der nationalen Sicherheit ist das System selbst paranoisch (Barnet 1969: 18),deshalb nicht gerade segensreich nennen, statt ihn als paranoid zu diffamieren — im übrigen eine Eigenschaft, zu der das System der Abschreckung selbst, wie das ingeniöse Kürzel seiner Zentraldoktrin MAD (Mutual Assured Destruction = gesicherte gegenseitige Vernichtung) belegt, zu Recht eine durchaus entspannte Beziehung pflegt.
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Der sogenannte Schumpeter-Effekt1), d.h. die Verselbständigung und die aggressive Eigendynamik von Rüstungskomplexen, ist der Motor unserer glücklichen Selbstaufhebung, und die Friedensforschung muß mit allen Mitteln daran gehindert werden, diesen Motor etwa mit den illusorischen Konzepten des passiven Widerstandes oder der gewaltfreien Aktion (vgl. Krippendorff 1968: 477ff.), mit unilateralen oder gradualistischen Abrüstungsmodellen (vgl. ebd.: 250ff.) abzuschalten oder auch nur seine ständig akzelerierende Tourenzahl zu senken.
Glücklicherweise sind die Faktoren, die einem Abbremsen der Rüstungsdynamik im Wege stehen — wie die intellektuelle Solidität und Verläßlichkeit breitester Bevölkerungsschichten, Feindbildorientierung, ungebrochenes Vertrauen in die Tugenden des Gehorsams, der Wehrhaftigkeit und des Nationalismus —, immer noch und wohl auch in alle Zukunft stark genug, um die subversiven Aktivitäten der Friedensforscher, die dem wohlverstandenen Interesse der gesamten Menschheit zuwiderlaufen, zu konterkarieren. Darüber hinaus haben aber auch die Militärs den Ernst der Lage erkannt und bemühen sich, ihre unablässige Sorge für das Wohl ihrer Schutzbefohlenen in einer nicht von Menschentümelei und Friedenshetze vergifteten Atmosphäre deutlich werden zu lassen. So gilt etwa für die USA schon in den späten 60er Jahren:
Im Pentagon sind 6410 Leute für die Public Relations angestellt.
Die Informationsstelle der Abteilung für öffentliche Angelegenheiten im Verteidigungsministerium verfügt allein über einen Etat von 1,6 Millionen Dollar und beschäftigt mehr als 200 Offiziere und Zivilisten, die ihren Arbeitsplatz im Pentagon und in den wichtigsten Städten des Landes haben.
Das Informationsbüro für die bewaffneten Streitkräfte hat einen Etat von 5,3 Millionen Dollar, der für ein globales Rundfunknetz verwendet wird, mit dem riesige zivile und militärische Hörerkreise erreicht werden.
Der Rundfunk- und Fernsehdienst der bewaffneten Streitkräfte unterhält 350 Sendeanstalten in 29 Ländern und 9 weitere auf US-Territorium; er gibt jährlich mehr als 10 Millionen Dollar aus und hat 1700 Beschäftigte. Das ist die größte Senderkette auf der Welt.(Barnet 1971: 53)
1) Den Schumpeter-Effekt skizzierte Dieter Senghaas in seinem Aufsatz »Abschreckungspolitik oder Abrüstungspolitik« wie folgt:
»Joseph Schumpeter hat in einer berühmten soziologischen Abhandlung 1919 die These vertreten, daß häufig in der Geschichte zu beobachten ist, wie Nationen, die sich einer begrenzten und zeitweiligen militärischen Bedrohung gegenübersehen, schließlich Fertigkeiten entwickeln, mit denen sie dieser Bedrohung begegnen, um nach ihrer Bewältigung mit riesigen objektiv funktionslosen Rüstungskomplexen weiterzuleben. Diese Rüstungskomplexe entwickeln dann eine eigene Wachstumsdynamik, deren Richtung und Geschwindigkeit in keinem Zusammenhang mehr steht mit der ursprünglichen Bedrohung.«
(Leyhausen 1970: 129)
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Inzwischen sind die Informationsanstrengungen global intensiviert worden, und sie haben in Einzelfällen auch bei Vertretern der Friedensforschung selbst Wirkung gezeitigt und zu einer Überprüfung der Standpunkte geführt. So hat beispielsweise Johannes Kneutgen in der 1970 veröffentlichten Arbeit <Der Mensch; Ein kriegerisches Tier> von der Schwarzmalerei und dem Kassandra-Ton des wissenschaftlichen Pazifismus Abstand genommen und sich zu einem Optimismus durchgerungen, der von anthropofugaler Bewußtheit immer noch weit entfernt ist und die Entwicklung folglich weiterhin verkennt, sie aber jetzt zumindest nicht mehr behindert, sondern die mit dem Tranquilizer des »Es-wird-schon-gut-gehen« beliefert, die seiner noch bedürfen.
Kneutgen schreibt:
Noch kann man die Kernwaffen nicht endgültig als Imponierstrukturen betrachten wie die Halskrause des Kampfläufers, die »bei Bedarf« entfaltet wird, oder die Geweihe der Hirsche. Ich bin aber der Meinung, daß die Menschheit auf dem besten Wege ist, ihre gefährlichsten Waffen immer unbrauchbarer zu machen. Diese »positive« Entwicklung kann man meiner Meinung nach getrost abwarten, da ihr Abschluß »dicht vor der Tür« steht. Die Menschheit ist auf dem besten Wege, auf rationale Weise etwas zu schaffen, was bei den sozialen Tieren mit gefährlichen Waffen im Laufe der Evolution zum Instinktverhalten wurde.
(Kneutgen 1970: 102)
Andere, wie die Mitarbeiter der Studie Kriegsfolgen und Kriegsverhütung, beschränken sich jetzt trotz des irreführenden Titels im wesentlichen auf Dokumentation und sehen ihre Aufgabe darin, auf 700 Seiten und mittels eines auf den Einsatz atomarer Waffen spezialisierten Computermodells »die entstehenden Verluste an Menschenleben, Gesundheit, Wohnungen und Industrieanlagen bei verschiedenen Formen des Waffeneinsatzes abzuschätzen« (Weizsäcker 1970: 6).
Der positivistisch-beschreibende Ansatz von Beiträgen wie »Mathematische Analyse der Wirkungen von Kernwaffenexplosionen in der BRD« oder »Die Zerstörung des Agrarpotentials und die Überlebenschancen der Bevölkerung« oder »Überlegungen zur Seuchengefahr im Atomkrieg« enthält sich in wohltuender Weise des Pathos humanistischen Flagellantentums und stellt statt dessen »Kriegsbilder« vor, die das grandiose Panorama des Untergangs in nüchternen Zahlen beschreiben:
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Kriegsbild 9 hat 75 Bomben à 2 MT gegen die Bevölkerungszentren eingesetzt. Der dabei entstehende Fallout verseucht 58 % der Fläche mit über 1000 r ERD. Die Hälfte der Bevölkerung der BRD ist tot, ein Viertel strahlenkrank. Mehr als der halbe Viehbestand ist vernichtet. Entsprechend dem Zulassungsintervall für Radioaktivität liegen die Kapazitätsverluste zwischen 196 und 227 Mrd. DM, d.h. hier ist diese Unsicherheit kaum noch relevant.
Zu evakuieren sind zwischen 900.000 und 6 Millionen Menschen. ... Die Produktion auch nur des Mindestbedarfs [ist] ausgeschlossen, da in der Elektrizitätswirtschaft, im Bergbau, in der Chemie, in der Mineralölverarbeitung und der Eisen- und Stahlerzeugung, d.h. in allen Grundstoffindustrien die Kapazitäten um 100 % überfordert sind. Bei Evakuierung wäre sogar die Mehrzahl der Kapazitäten, einschließlich der Nahrungsindustrie, nicht mehr ausreichend
(ebd.: 264).
Lektüreresultat ist hier ein aufgeklärter Fatalismus, der sich auf der Höhe wissenschaftlicher Prognostik weiß und sich zugleich der zielgerichteten Dynamik und Selektion des historischen Prozesses erinnert, zu der Quincy Wright in seiner Study of War ausführt:
Aus kriegerischen Völkern ging die Kultur hervor, während die friedlichen Sammler und Jäger in die Randzonen der Erde vertrieben wurden, wo sie allmählich ausgerottet und absorbiert werden — mit der einzigen zweifelhaften Genugtuung, beobachten zu können, wie die Nationen, die den Krieg so effektiv handhabten, sich selbst vernichten
(Krippendorf 1968: 38).
Vergleicht man diese Einsicht mit der Perspektive des ehemaligen Verteidigungsministers McNamara, aus der
die Geschichte der Menschheit nicht so sehr durch lange Perioden des Friedens charakterisiert ist, die manchmal von Kriegen unterbrochen wurden, sondern vielmehr durch eine Kette ständiger Kampfhandlungen, zwischen denen von Zeit zu Zeit Epochen der Erschöpfung und des Wiederaufbaus fallen, die man dann stolz als Frieden bezeichnet
(McNamara 1970: 62),
so zeichnet sich eine Annäherung der Standpunkte ab, die trotz des desolaten Zustandes der Friedensforschung in den zurückliegenden Jahrzehnten für die Zukunft aufhorchen und hoffen läßt.
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Wie in den weit über 6000 Gesprächen zwischen russischen und amerikanischen »Abrüstungsdelegationen«, die seit dem Zweiten Vorbereitungskrieg geführt wurden — das Genfer Abrüstungskomitee konnte bereits 1971 das Jubiläum der 500. Sitzung begehen (vgl. Seidler 1974: 12.) —, ja keineswegs konkrete Abrüstungsschritte vereinbart, sondern im Gegenteil eine immer rasantere entweder quantitative oder qualitative Aufrüstung programmiert, die technologischen Sektoren für immer neue Wettläufe abgesteckt wurden, so würde sich die Friedensforschung nach ihrer Tendenzwende gleichfalls nicht mit Wegen zur Konfliktverhütung, sondern mit politischen und militärischen Provokationsverfahren und ihrer situationsgerechten Anwendung befassen.
Die Ratschläge der Friedensapostel brauchen zu diesem Zweck fürs erste nur beherzt umgepolt, ihre Empfehlungen in Verbote, ihre Verbote in Imperative verwandelt zu werden; eine über den gesamten Forschungsbereich verhängte strikte Geheimhaltung könnte im übrigen der Anpassung an das neue, gesamt-gesell-schaftlichen Bedürfnissen Rechnung tragende Forschungsziel nur förderlich sein.
Ein vorbildliches Muster dieser an Leib und Gliedern reformierten neuen Friedensforschung liegt seit den 60er Jahren vor und dokumentiert auf das eingängigste die wichtigen Zuliefererfunktionen, die diese Disziplin für die Planung der globalen Endlösung, vor allem aber auch die notwendige ideologische Aufrüstung der Kombattanten, besitzen könnte. Die Rede ist von Herman Kahns Studie über Eskalation und deren Vorläufer On Thermonuclear War.
Kahn nennt in seiner Eskalationsschrift als erstes Forschungsziel: »Die Vorstellungskraft anzuregen« (Kahn 1970: 28), erweist sich dabei aber als gänzlich immun gegenüber den anthropozentrischen Anwandlungen und Vorurteilen seiner Fachkollegen. Seine Maxime meint nämlich gerade nicht Aufstachelung zum Frieden durch düstere Schreckensvisionen, sondern nüchternes Kalkulieren und Durchdenken des bis dahin kategorisch für undenkbar Erklärten.
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Wie jeder bisherige Waffengang so braucht auch der letzte, die Apokalypse und das planetarische Inferno — das ist der implizite argumentative Ausgangspunkt Kahns — gründliche gedankliche Vorarbeit und Planung. Pfusch und Schluderei kann sich eine Menschheit, die zum letzten Gefecht gegen sich und die Natur angetreten ist, nicht leisten, geht es doch zum ersten Mal um mehr als den Sieg der einen und die Niederlage der anderen Partei oder Nation, nämlich um ein kollektives und totales Ausmerzen. Gelingt diese Operation nicht auf Anhieb, so werden die Überlebenden so bald nicht die Kraft für einen zweiten Anlauf aufbringen, und das Leiden würde sich erneut über endlose Generationen von Erbkranken, Strahlengeschädigten und Mutanten und in einer Umwelt, der gegenüber die heutige als Garten Eden in Erinnerung bliebe, zu jenem fernen Punkt aufschaukeln müssen, an dem ihm die Instrumentarien der Selbstauslöschung abermals zu Gebote stünden.
Um die Möglichkeit eines fahrlässigen Umgangs mit den vorhandenen Potentialen auszuschließen und ihre nach menschlichem Ermessen vollständige Ausschöpfung sicherzustellen, entwirft Kahn eine 44 Sprossen umfassende Eskalationsleiter, die von einer Krisensituation ausgeht, auf Stufe 12 den »großen konventionellen Krieg« erreicht, die atomare Schwelle bei 21 überschreitet und schließlich zum »Zentralkrieg« führt, dessen Eskalationsrelief sich wie folgt darstellt:
33: Langsame Kriegführung gegen »materielle Werte«
34: Langsame Kriegführung gegen Waffensysteme
35: Begrenzte Salve zur Herabsetzung der militärischen Leistungsfähigkeit
36: Begrenzter Entwaffnungsschlag
37: Schlag gegen die Waffensysteme unter Aussparung anderer Ziele
38: Rücksichtsloser Angriff auf die Waffensysteme
39: Langsame Kriegführung gegen Städte
40: Salve gegen materielle Werte
41: Verstärkter Entwaffnungsangriff
42: Vernichtungsangriff auf Zivilobjekte
43: Andere Formen des gelenkten allgemeinen Krieges
44: Krampfartiger oder wahnwitziger Krieg.(ebd.: 72)
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Im letzten Stadium des Spasmus und der Agonie werden nach Kahn »alle Abzüge ... gleichzeitig betätigt« (ebd.: 88), und es bleibt zu hoffen, daß das Untier, sofern es die aufgelisteten Vorarbeiten nur sorgsam genug erledigt hat, sich hier den Kelch seio* ner qualvollen Existenz in der Tat auf immer abtut und den qualitativen Sprung vom homo extinctor, dem auslöschenden Menschen, zum homo extinctus, dem ausgelöschten Menschen, zu vollziehen vermag.
Kahns auf die vorhandenen Verheerungstechniken abgestimmtes Einsatzmodell gibt — wie der Klappentext notiert — »den Verantwortlichen unschätzbare Instrumente in die Hand« und erlaubt darüber hinaus einer revolutionierten Friedensforschung die Rückwendung und das offene Bekenntnis zu ihrer lange verschütteten Tradition, nämlich einer philosophischen Apologetik des Krieges, der es von Plato bis Hegel2), von Hobbes' Hymnus auf den Kadavergehorsam:
Wenn ich auf Befehl etwas tue, was für den Befehlenden eine Sünde ist, so begehe ich, wenn ich es tue, keine Sünde, sofern der Gebietende mein Herr von Rechts wegen ist. Wenn ich z.B. auf Befehl meines Staates in den Krieg ziehe, so tue ich damit kein Unrecht, wenn auch meiner Meinung nach der Krieg mit Unrecht begonnen ist; vielmehr täte ich Unrecht, wenn ich den Kriegsdienst verweigerte (Hobbes 1959: 194),
bis zu der schon von philanthropischen Wunschvorstellungen überwucherten und doch ihrer Zeit um Jahrhunderte vorauseilenden Eingebung Kants, »daß ein Ausrottungskrieg ... den ewigen Frieden ... auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde« (Kant 1976: 21), nie an renommierten Vertretern und Autoritäten gefehlt hat.
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* (d-2008: ) Vielleicht ein Druckfehler? Und besser "seiner" statt "seio ner"?
2) Im Platonischen Idealstaat existiert neben dem Lehr- und Nährstand bekanntlich auch ein Wehrstand, der sich ganz der Kriegskunst verschrieben hat und von sozial nützlichen Tätigkeiten freigestellt ist. Plato widmet dem Nachdenken über die besten Trainings- und Indoktrinationsmethoden breiten Raum und schätzt die Bedeutung des Militärs so hoch ein, daß er für die Zensur wehrkraftzersetzender Glaubensvorstellungen, defätistischer Literatur und verweichlichender Musik eintritt (vgl. Plato 1961: 72ff.).
Hegel würde dem fraglos zugestimmt haben, wie er überhaupt den Frieden geringschätzte und in seiner Rechtsphilosophie notierte: »Im Frieden dehnt sich das bürgerliche Leben mehr aus, alle Sphären hausen sich ein, und es ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen.... Aus den Kriegen gehen die Völker nicht allein gestärkt hervor, sondern Nationen, die in sich unverträglich sind, gewinnen durch Kriege nach Außen Ruhe im Inneren« (Hegel 1968: 308); folglich empfiehlt er den Regierungen, die erstarrende bürgerliche Welt »von Zeit zu Zeit durch Kriege zu erschüttern, ihre sich zurechtgemachte Ordnung und Recht der Selbständigkeit dadurch zu verletzen und zu verwirren, den Individuen aber ... in jener auferlegten Arbeit ihren Herrn, den Tod, zu fühlen zu geben« (Hegel 1952.: 324).
Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)