§ 14
Kahn, Landmann, Gehlen, Heberer
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Wie die Friedensforschung - vor ihrem von Kahn eingeleiteten revolutionären Neubeginn - als erschütternde Fehlleistung der wissenschaftlichen Vernunft gewertet werden muß, so hat sich auch die Anthropologie des 20. Jahrhunderts als durch und durch blind gegenüber den Zeitläufen und dem sich nunmehr in aller Deutlichkeit abzeichnenden Ziel der menschlichen Evolution erwiesen.
Zwar hat sie in ihren Sparten der biologischen und philosophischen, der Kultur- und Sozialanthropologie zahlreiche Erkenntnisse und Hypothesen über Ursprung und Werden des Menschen formuliert und gesammelt, zwar weiß sie seit Darwin um die Abstammung aus dem Tierreich und kennt dank paläo-anthropologischer Forschungen und Funde die Stadien der Humanisation vom Australopithecus über den Pithecanthropus bis zum Neandertaler und Cro-Magnon-Typus, die unsere Ver-untierung und Entartung besiegelten.
Zwar begreift sie den Menschen als »archaisch unspezialisiert« und »instinktarm«, als »infantilen Affen, bei dem das höhere Wachstum nicht eintritt und der auf kindlicher oder sogar embryonaler Stufe fixiert bleibt« (Landmann 1969: 148), aber sie vermag mit diesen Daten im Grunde nichts anzufangen und hantiert damit wie ein Debiler, der Puzzlestückchen nach Größe oder eigener Vorliebe sortiert und gruppiert, ohne zu erkennen, daß sie sich zu einem Bild zusammenfügen lassen.
Dieses Scheitern der modernen Wissenschaft vom Menschen ist nun keineswegs unerklärlich, sondern sein Grund liegt im Gegenteil offen zutage. Die Anthropologie hat bisher nämlich immer nur hartnäckig nach dem Woher des Untiers gefragt, die Auskunft, ja die bloße Reflexion über das Wohin aber ebenso nachdrücklich verweigert bzw. für außerhalb ihres Kompetenzbereichs liegend erklärt.
Dieses Frageversäumnis mußte sich auf Dauer verhängnisvoll auswirken, denn wie will man Fakten deuten und ordnen, Eigenschaften herausarbeiten und werten, ohne über Informationen bezüglich der Richtung und des Ziels des Evolutionsprozesses zu verfügen, in dem diese Fakten einen ganz bestimmten Stellenwert, diese Eigenschaften konkrete Auslöser-, Beschleunigungs- oder Bremsfunktion besitzen.
Das anthropologische Verfahren der Datenerhebung unter Verzicht auf ein anthropofugales Referenzsystem gleicht somit dem Versuch, ohne Takelage Segel zu setzen und verurteilt die Wissenschaft zu eben der Immobilität einer antriebslos dümpelnden Bark.
Dabei müßte es den Vertretern dieser Disziplin, sobald sie sich einmal mit dem Gedanken der ultimativen Selbstaufhebung des Untiers und des Evolutionsziels der Stillstellung organischen Leidens vertraut gemacht haben, wie Schuppen von den Augen fallen, denn der Mensch ist für seine eigentliche Aufgabe höchst adäquat und sinnvoll ausgestattet und keineswegs bloß der körperlich retardierte Affenfötus, das Mängelwesen, die organische Inkarnation der logischen Kategorie des defizienten Modus, als der er in den Lehrbüchern nur allzu häufig erscheint.
Akzeptiert man die folgende Zusammenfassung Arnold Gehlens unkritisch:
Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d.h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein (Gehlen 1971: 33),
so muß man anschließend in der Tat mit dem Autor die kopfschüttelnde Frage stellen: »Wie ist ein so monströses Wesen lebensfähig?« (Ebd.: 36)
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Fügt man die Einzelbeobachtungen aber derart zusammen, daß im anthropologischen Puzzle das Abbild des Untiers sichtbar wird, sind die Schlußfolgerungen ganz andere, und die Verwunderung macht der Bewunderung der großmütigen Folgerichtigkeit Platz, mit der die Natur ihr mißratenes Geschöpf trotz allem noch für den kurzen Augenblick apokalyptischer Selbstverwirklichung ausgestattet hat. Welcher Vorteil, ohne dichtes Haarkleid oder Panzer zu existieren!
Wie sonst hätte das Untier lernen sollen, sich hinter Schilde zu ducken, Rüstung und Harnisch zu schmieden, sich in armierten Fahrzeugen zu bewegen und schließlich aus dem gigantischen Außenskelett der Raketensilos seine jetzt dreistufigen Pfeile dem Angreifer bis auf dessen Heimatboden entgegenzuschleudern.
Welche Auszeichnung, ohne Angriffsorgane zu sein! Denn wie sonst wären im Kopf des Untiers die Generationen und Abergenerationen neuer Waffen gezeugt worden, gegen die die Zahnreihen eines Krokodils, das Hörn eines Rhinozeros, das Gift der Viper wie Stümpereien eines überängstlichen Demiurgen wirken. Welche Gnade, sich nicht zur Flucht wenden zu können und sich so gegenseitig Mann um Mann niedermachen zu müssen! Welcher Segen, als Instinktkrüppel auf die Welt zu kommen!
Denn die innerhalb der eigenen Gattung unumstößliche Tötungshemmung der Tiere hat sie schon bei den ersten noch dilettantischen Steinigungen menschlicher Urhorden lustlos sich abwenden lassen und macht sie, wie die Erfahrung lehrt, zu Feldzügen gegen ihresgleichen völlig untüchtig. Welches Glück schließlich, über Jahre und Jahrzehnte erzieh- und beeinflußbar zu sein!
Denn wie sonst sollte man in einem Wesen, das auf Kindesbeinen den Versuchungen der Langmut, des Vertrauens, der Liebe und Zärtlichkeit so überaus empfänglich ist, jene gegenteiligen Charaktereigenschaften der Unduldsamkeit, Härte, Gefühlskälte, der Lust an Strafe, Schmerz und Gewalt erzeugen, derer es so nötig bedarf, um die äonenlangen Bemühungen der Gattung um Selbstbefreiung endlich mit globalem Erfolg zu krönen.
Nein, wir sind keine Mängelwesen; wir sind überreich beschenkt mit Anlagen, die uns für die Erfüllung unserer Aufgabe prädestinieren und einem Scheitern auch nicht den Schatten der bequemen Ausrede oder Entschuldigung belassen. Und die weitaus kostbarste Gabe der Natur ist das Organ unter unserer Schädeldecke und seine rapide Entwicklung, die Zerebralisation, über die Gerhard Heberer ausführt:
Sie ist einzigartig in Geschwindigkeit und Ausmaß sowie grundlegend für die Fortführung der »Menschwerdung« seit dem Tier-Mensch-Übergangsfeld. In rasantem Tempo, im Laufe weniger Jahrhunderttausende, wird von einem Gehirnvolumen von maximal etwa 600 cm3, vielleicht auch ein wenig darüber (Australopithecinen), über 1000, 1100, 1200 (Frühmenschen), 1600 (Neandertaler) bis 2000 cm3 (extremer Wert von Homo sapiens) das heutige Volumen erreicht, das in der Lage ist, die biologisch-technischen Großtaten zu vollbringen, die unser heutiges Weltbild bestimmen
(Heberer 1973: 93),
und das - so ist man geneigt hinzuzusetzen - diese Welt in einem Zustand hinterlassen wird, von dem sich eben dieses Organ gegenwärtig noch kaum ein Bild macht.
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wikipedia Gerhard_Heberer *1901 in Halle bis 1973
Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)