§ 19
(Cioran)
101-103
Das Untier ist in der Tat »ein Attentat [der Natur] auf sich selbst« (Cioran 1977: 65), doch es liegt jetzt allein in unserer Verantwortung, ob dieser Anschlag scheitert oder gelingt. Das aber ist der Punkt, selbst einem Cioran ins Wort zu fallen und seinem Irrtum abzuhelfen. Denn gerade weil sich die Welt als »ein Rezeptakulum der Seufzer« darstellt, gilt nicht:
Ob man nun die Arme kreuzt oder das Schwert zieht,
auf diesem Schlachthof ist beides gleichermaßen vergeblich (Cioran 1978: 51),
ist nicht Indifferenz und Tatenlosigkeit am Platze, sondern immer und immer nur das Schwert.
Wir, die wir nicht in molluskenharter Dumpfheit dahinzuleiden verdammt sind, sondern mit unserem auch das globale Elend durchschauen, die wir — dem Fluch ewiger Fortzeugung entwachsen — über Mittel gebieten, Geschehenes ungeschehen, Daseiendes nichtexistent, Erinnerung Subjekt- und damit gegenstandslos werden zu lassen, die wir in anthropofugaler Selbstbesinnung Auskunft über das Woher und das Wohin einzuholen vermögen, haben eine ganz andere, fundamentalere Wahl als die zwischen den Vergeblichkeiten Ciorans.
Unser militärtechnologischer Leistungsstand dürfte uns schon jetzt dank der angesammelten thermonuklearen Overkill-Kapazitäten, der biochemischen Einsatzreserven und bakteriologischen »Ausputzer« in den Stand versetzen, unsere Spezies bis auf das letzte Exemplar vom Angesicht der Erde zu vertilgen.
Damit wäre ein evolutionärer Fehltritt korrigiert, das Prinzip der natürlichen Selektion als absoluter Souverän wiedereingesetzt und das Trojanische Pferd der Schöpfung, der menschliche Geist, in dem das Leiden zu dem es nochmals potenzierenden Bewußtsein seiner selbst gelangt, zerstört.
Das Untier hätte in nachhaltigster Weise seine lange beklagte Absurdität ratifiziert und sich aus dem bloßen Konditional des »Ich hätte nie existieren dürfen« in das Perfektum des »Ich habe nie existiert« begeben.
Verflucht aber sei eine Menschheit, die derart Schindluder treibt mit ihren destruktiven Gaben und geizig haushält mit ihrer Nekrophilie! Ist es denn nicht die verwerflichste aller Taten, so man die Mittel besitzt, nur sich selbst die große Absolution zu erteilen, sich auszulöschen aus dem Register der Leidenden, den Brutschrank der Qualen aber intakt zu lassen für alle übrige Kreatur? Sind wir nicht alle Kinder jener ersten Zelle, der das Sterben mißlang? Sind wir nicht ein schmerzdurchglühtes, schüttelndes, quiekendes Fleisch, das um Erlösung wimmert?
Sind denn das Reh, der Delphin, die Ameise, die Lilie weniger als wir, nur weil sie nicht zu sagen verstehen, was sie leiden?
Können wir, die wir über Jahrtausende die Folterknechte und Konquistadoren dieses Planeten gestellt haben, die die Natur nur deshalb gewähren ließ, weil eine verbotene Hoffnung auf uns ruhte, uns am Ende unserer Tage dieser Hoffnung entziehen und angesichts unserer Dankesschuld einem Egoismus sondergleichen frönen, dem des selbstsüchtigen Verschwindens?
Möge uns die anthropofugale Vernunft vor diesem ungeheuerlichen Frevel gegen die Schöpfung bewahren! Nur noch wenige Jahrzehnte der Forschung und Erprobung sind vonnöten, um uns Waffen in die Hand zu geben, die die Erlösung allen Lebens, die globale Pasteurisierung von den Gipfeln der Berge bis in die Nacht der Tiefseegräben werden bewirken können.
Nur noch eine Generation Geduld und Zurückhaltung, und die Apokalypse wird nicht mehr nur eine verräterische private, sondern die aller Geschöpfe sein! Der Jüngste Tag des Organischen! Die Wiederkunft der unbefleckten Materie! Das Anbrechen des Himmelreichs auf Erden!
Und das Blitzen der Detonationen und der sich über die Kontinente fressende Brand werden sich spiegeln in den Augen des Letzten unserer Art und sein Antlitz erleuchten und verklären. Und alle Geschöpfe werden niedersinken in der Glut und dem Untier huldigen in der Stunde ihres Untergangs als dem Heilande, der sie erlöst hat zum ewigen Tode.
Und dann wird dem Letzten das Sinn werden, was zuvor Absurdität war, und er wird die Hände aufheben über dem versengten Fleisch, es segnen und zu ihm sprechen: »Seid getrost; die Last des Seins ist von euch genommen, und die Prüfung ist vorüber. Jedes von euch war nur der Alp eines Quarzkristalls. Wir, wir alle, sind nie gewesen!«
Und er wird in Frieden sterben.
Das also ist die wirkliche Wahl, die wir zu treffen haben. Eine Wahl nicht zwischen ohnmächtiger Kontemplation und erfolglosem Aktionismus, sondern eine Entscheidung zwischen rücksichtslosem Gattungssuizid ohne Mitleid und Erbarmen für die hinterbliebenen Muscheln, Flechten, Fliegen und Ratten, einem Selbstmord, der uns allenfalls einen Zeitgewinn von wenigen Jahrzehnten einbringt, und einem verantwortungsvollen Annihilismus, der uns drei oder vier Schritte über das unmittelbare Gattungsziel hinaus zumutet — hinein in die Solidarität des von allem Lebendigen nachgesprochenen kategorischen Nein.
101-103
#
Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)