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  § 20   

(Günter Anders, d'Holbach)

 

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Was schert die anthropofugale Vernunft der Geifer der Humanisten, die schon mit der Vergangenheit des Untiers nicht zu Rande kommen und nun gegen seine Zukunft mobil machen möchten. 

Wer achtet noch des Geplärres von Unmenschlichkeit, Barbarei im Geiste und Jugendverderbnis, das sich immer dann erhebt, wenn die Wahrheit über den Menschen zu Buche schlägt. 

Wer schenkte dem Sophismus Glauben, das anthropofugale Denken säe eben die Gewalt und den Terror, die es dann aufzuheben verspräche, rede die Apokalypse herbei, statt sie im Verein mit den Menschentümlern zu verhindern.

Nichts davon ist wahr. Das Leiden kann sich nur durch seine Totalisierung aufheben. Aber im Inferno, der Revokation der Schöpfung, transzendiert sich der kreatürliche Schmerz, hellt sich auf, durchheitert sich im Tier mit der Ahnung, im Menschen mit der Gewißheit, daß das Rad der Generationen, der Wiedergeburten in Qual nunmehr endlich zerbrochen ist, daß das Ungeborene fürderhin ungeboren bleibt, das Leben ungelebt, das Leiden undurchlitten.

Wer wäre für solche Verheißung nicht mit seinem Leben zu zahlen bereit, das er eines Tages ohnehin und um keinen vergleichbaren Lohn wird hingeben müssen. Wem wäre nicht, als hörte er im Grollen der Detonationen, über dem Stöhnen, Röcheln und Winseln der Zerbombten schon die Engelschore, die Lobpreisungen und Hymnen jener zahllosen Phantome von Nicht-mehr-zu-Gebärenden, von Ungezeugten, von Freigelassenen und der Folter Entsprungenen, denen durch sein Opfer die irdische Hölle erspart bleibt.

Und wer von denen, die die Apokalypse mit ihren schwachen Kräften, in ihrem Stand und Beruf nach Kräften gefördert und verteidigt haben, spürte nicht im Augenblick des Untergangs, wie sich die Fratze des Untiers zu zersetzen beginnt und über der altbekannten Mörderphysiognomie die edle, die heilige Totenmaske des erlösten und erlösenden Menschen auskristallisiert.

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Schwerer als alle humanistischen Anathemata und Redeverbote wiegt aber nun eine ganz anders motivierte Mahnung zur Zurückhaltung und zum Schweigen aus den eigenen Reihen. Könnte denn, so die Befürchtung, die unvermittelte Offenlegung und Propagierung dessen, was unzählige Generationen einander verheimlicht und mit Fleiß vor sich selbst, vor Kind und Enkel verborgen gehalten haben, nicht Konsequenzen zeitigen, die mit der ursprünglichen Absicht der anthropofugalen Aufklärung nicht in Einklang stehen, ja offen mit ihr kollidieren?

Wäre es zum Beispiel nicht absehbar, daß die breite Masse aufgrund ihrer humanistischen Konditionierung das, was hier als zu bejahendes Ziel der Gattungs­entwicklung geschildert wird, die universale Dispensierung vom Sein nämlich, trotz aller Erläuterungen und Richtig­stellungen doch wieder nur als mit allen Mitteln abzuwehrende furchtbare Bedrohung gewärtigt, womit die philosophische Darstellung sich im Endeffekt gerade in einen Bremsklotz jener Entwicklung verkehrte, die sie durch ein beherztes Bekenntnis zu rechtfertigen und zu fordern gedachte?

Noch anders gesagt:  

Steht die anthropofugale Reflexion, der der Humanismus vorwirft, sie rede das Unheil herbei, eben durch ihre freimutige Entdeckung der Wahrheit der Geschichte nicht ständig in der Gefahr, von eben diesem menschentümelnden Denken hinterrücks für seine honetten Zwecke vereinnahmt und als willkommenes Schreckensbild zum Mittel herabgewürdigt zu werden, um sich um die Apokalypse herumzureden, die Erlösung zu verteufeln und ein trostloses Leiden Generation um Generation fortzuschreiben? 

Wandelt sich das, was Verlöschen und Ende der Qualen verheißt, nicht, sobald es in Bibliotheken und Bücherregalen auftaucht, zum warnenden Menetekel und Aufbegehren gegen das scheinbar Unausweichliche, zum in die Paranoia getriebenen letzten Protest einer vor Angst verrückten Humanität, zu einem irrsinnigen Gnadengesuch des Lebens?

Wer die Rezeptionsgeschichte etwa Ciorans und Besprechungen seiner Werke kennt, der wird sich über die verläßlichen Automatismen humanistischer Entstellung und Umdeutung, über die professionelle Gründlichkeit jener Retuscheure des Kulturbetriebs keinen Illusionen hingeben, denen nichts Menschliches fremd ist und die mit humanophiler Kosmetik alles das zum Verschwinden bringen, was ihrem ideologischen Schönheitsideal widerspricht.

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Trotzdem aber besteht kein Grund zur Sorge, denn der neuzeitliche Kulturfetisch des »Humanen« ist wehrlos gegenüber der inneren Logik der Menschheits­entwicklung und in seiner beschriebenen Wirkung, jener halluzinierenden Realitäts­untüchtigkeit nämlich, nicht der Messias, sondern der Totengräber der Gattung. 

Man lasse sich nicht irremachen von der Tatsache, daß die erdrückende Mehrheit derer, die mit Manifestationen anthropofugalen Denkens in Kontakt kommen, es nicht an seinem eigentlichen Anspruch messen, sondern es zur im Geheimen noch selbst humanistisch legitimierten Karikatur oder Satire umdeuten. 

Schon d'Holbach hat den ideologischen Star der vielen* deshalb in Rechnung gestellt und sich zur Exklusivität der Wahrheit bekannt:

Wir wollen uns indessen nicht der Hoffnung hingeben, die Vernunft könne das Menschengeschlecht mit einem Male von den Irrtümern befreien, mit denen es zu vergiften sich so viele Ursachen vereinigt haben. 

Es wäre ganz unvernünftig, glauben zu wollen, man konnte in einem Augenblick die ansteckenden, erblichen, seit so vielen Jahrhunderten eingewurzelten Irrtümer beseitigen, die durch die Unwissenheit, die Leidenschaften, die Gewohnheiten, die Interessen, die Ängste, die immer wiederkehrenden Nöte der Völker immerfort genährt und bestärkt werden... 

Nehmen wir uns also nur vor, solchen Menschen die Vernunft zu zeigen, die imstande sind, sie zu verstehen, denen die Wahrheit zu erläutern, die imstande sind, ihren Glanz zu ertragen, diejenigen vom Irrtum zu befreien, die sich der Evidenz nicht widersetzen.

( d'Holbach 1978: 538 f )  

Das anthropofugale Denken tritt also, was seine Breitenwirkung angeht, von vornherein gar nicht in Konkurrenz zum Humanismus, den es als funktionales Sedativ der letzten Aufrüstungsphase durchschaut und in seiner Unvermeidlichkeit akzeptiert. Es definiert sich zu keinem Zeitpunkt als mehrheitsfähige Doktrin, als säkulare Religion oder weltanschaulichen Sozialkitt, sondern jederzeit als Minoritäten­perspektive, als Philosophie einer kleinen exilierten Fraktion von Nachdenkenden.

* (d-2010:)  "ideologischen Star der vielen" -- : Mit 'Star' ist die Augenkrankheit gemeint und nicht der Vogel oder der Himmelsstern oder der Pop-Star. Und "viele" sind/ist die Masse, Mehrheit.

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Seine Wahrheit allerdings ist trotzdem seit mehr als zweieinhalb Jahrhunderten, seit der französischen Aufklärung nämlich, publik und damit jedem ohne Vorbedingung und Einschränkung zugänglich, der einem kindlichen Anthropozentrismus und humanistischer Eigenliebe entwachsen ist. Jedes Plädoyer für taktisches Schweigen oder gar ein Hoffen gegen besseres Wissen muß deshalb schon historisch als überholt und indiskutabel gelten — auch um den Preis, daß die menschenflüchtige Vernunft sich dort, wo sie redet, immer von neuem groben Mißverständnissen aussetzt.

Den irreversiblen Weltlauf beeinflussen und eines globalen Schicksals Herr werden, kann keine Philosophie — weder in der humanistischen Komplizen- noch in der anthropofugalen Zuschauerrolle. Also ist auch die — oben skizzierte — gleichsam kopfstehende Pragmatisierung der Gewißheit des nahen Endes zu hinhaltendem Widerstand mittel- und langfristig nicht zu befürchten.

Selbst gesetzt den Fall, das Undenkbare geschähe, und der horizontlose Humanismus nähme sich die Warnung, als die er das anthropofugale Paradigma mißversteht, zu Herzen und riefe alle, die guten Glaubens sind, auf zum Kreuzzug gegen Militarismus und Rüstungswahn — auf Dauer hätte alles das keine Wirkung, und schon gar nicht die, ein visionäres menschenflüchtiges Denken für eigene Zwecke vereinnahmen und dessen Erlösungs­sehnsucht zum Einschüchterungs­instrument für die Vertagung des Inferno mißbrauchen zu können.

Die von Rudolf Bilz analysierte angeborene Automatik des »Verdrängungsschutzes«1) nämlich neutralisiert jeden langdauernden eschatologischen Terror und verhindert damit die nachhaltige Aktivierung der Bevölkerungsmehrheit, auf der der Erfolg der Kampagne beruhte; vielmehr läßt sie die Verängstigten nach einer kurzen Stimulations- und Erregungsphase rasch wieder in den lethargischen Fatalismus, in jene bewußtlose Loyalität zurücksinken2), die das globale Harmageddon nach wie vor garantiert.

 

1)  Bilz führt dazu in seiner paläo-anthropologischen Studie <Wie frei ist der Mensch> aus: 

»Wir kennen heute eine fast lawinenartig anwachsende Endzeit-Literatur, zu der sogar namhafte Autoren ihren Beitrag gegeben haben, wenn man an Namen wie Samuel Beckett, Jean Cocteau oder Eugène Ionesco denkt. Ohne Frage ist die Vernichtung allen Lebens technisch möglich, das verschärft die Situation, aber man beobachte sich selbst, wenn man eins dieser Bücher gelesen oder einen der Endzeit-Filme gesehen hat: Man ist im Augenblick erschüttert, aber dann bewahrt uns der Verdrängungs­schutz vor der Faszination. Am anderen Morgen ist das Grauen längst vergessen.« (Bilz  1973:272)

2)  Arthur Koestler gelangt in der Auseinandersetzung mit der Aggressionsthese der Psychoanalyse zu der Schlußfolgerung: 

»Unsere Spezies leidet nicht etwa an einem Übermaß an Aggression, sondern an einer übermäßigen Neigung zu fanatischer Hingabe. Schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte zeigt: Die Zahl der individuellen Morde, begangen aus selbstsüchtigen Motiven, spielt in der menschlichen Tragödie eine unbedeutende Rolle, verglichen mit der Zahl der Menschen, die aus selbstloser Loyalität gegenüber einem Stamm, einer Nation, einer Dynastie, einer Kirche oder einer politischen Ideologie hingemetzelt wurden — ad majorem Dei gloriam ... Das vorherrschende Phänomen in der Geschichte ist Mord aus selbstlosen Beweggründen, unter Einsatz des eigenen Lebens.«    (Koestler 1978: 24 f.)  

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In diesem Zusammenhang scheint es nicht ohne amüsante Pikanterie, daß wir ausgerechnet einem Erzhumanisten und aktiven Atomwaffen­gegner die minuziöse Darstellung jener psychischen Mechanismen verdanken, die das Untier trotz aller Warnungen der verhängnisvollen ultima ratio der Waffen­technologie in die Arme treiben werden und die damit auch die vom Verfasser — die Rede ist von Günther Anders — ständig herausgekehrte menschenfromme Sorge letztlich als verstockten Selbstbetrug(3) enthüllen.

 

3)  Daß seine Haltung mehr als philosophisch unabgesichert und naiv, nämlich vorreflexiv-dogmatisch ist, hat Anders in <Der Mann auf der Brücke. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki> selbst eingestanden; auf die Nachfrage eines Konferenz­teilnehmers, wie er denn seine moralischen Postulate begründen wolle, antwortet er nämlich: 

»Gar nicht. Umgekehrt müssen wir das Problem der <Sanktionierung> ... willentlich als <tabu> draußen lassen. ... Denn wo Ertrinkende auf Rettung warten, ist es nicht erlaubt, auf der Brücke stehen zu bleiben, um die philosophische oder die theologische Frage zu diskutieren, aufgrund wovon wir dem Leben der zu Errettenden Wert beizumessen haben: Wir haben bewußt darauf zu verzichten, religions-philosophisch bis zu den Wurzeln vorzustoßen. Tiefsinn verboten.«   (Anders 1967: 29)

Humanismus als rettendes Denkverbot also, als ex cathedra verkündete Überlebensreligion samt anhängendem Unfehlbarkeits­anspruch — so offen und unverschämt hat kaum jemals ein »Humanist« die Wahrheit über sein Denken zu Protokoll gegeben, ohne nicht vorher an ihm irre geworden zu sein.

Nicht so Anders, der gegen alle anthropofugalen Anfechtungen gefeit scheint und in verbohrter Fixierung auf das Schibboleth des Überlebens auch noch dessen seit Jahrhunderten abgetakelte Rechtfertigung, die Leibnizsche Theodizee, nachliefert:

»Zweitens weiß ich, daß die Welt eine ingeniöse und unvergleichliche Erfindung ist, eine Einrichtung, die der Erhaltung wert ist. Und daß, in ihr dazusein, Spaß macht. Und daß ich die Menschen, die ebenfalls da sind, gern habe. Und daß mir der Gedanke, daß alles, was sie an Leiden und Freuden durchgemacht haben und durchmachen, vergeblich gewesen sein soll, und daß die Welt künftighin als verödeter Ball durch die Einode des Weltalls kugeln solle, höchst unangenehm ist. Mir sogar die Kehle zuschnürt«  (ebd.: 102) 

— eine »Beweisführung«, die Anders' offenbar aufgeklärteren Gesprächspartner fassungslos zurückfragen läßt: 

»Und Sie glauben, dieses Kehlenargument beweist, daß die Welt sein soll? Daß wir überleben sollen?« und ihn wenig später zum Abbruch des Dialogs zwingt. 

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Schon 1956 ist Anders in seiner Untersuchung über <Die Antiquiertheit des Menschen> aufgegangen, daß wir zu »Herren der Apokalypse« geworden sind, die zwar nicht über die Schöpfungsallmacht der göttlichen creatio ex nihilo, aber immerhin über eine »potestas annihilatioms, die reductio ad nihil« (Anders 1956: 239), also die Allgewalt des Vernichtens, verfügen.

Allein, um diese neue Auszeichnung wissen wir nur gleichsam abstrakt, ohne sie aber wirklich aufgefaßt, realisiert und sie uns in ihrer ganzen Ungeheuer­lichkeit vor Augen geführt zu haben (vgl. ebd.: 285 f.). Anders fragt nun in humanistischer Verwirrung nach den Gründen für die ihm höchst inadäquat scheinende Reaktion auf die Installierung der militärischen Erduntergangs­maschinen, für jenen »Analphabetismus der Angst« (vgl. ebd.: 265), der das Fürchten verlernt hat und so weitermacht, als wäre nichts geschehen.

Das Ergebnis seiner Überlegungen legt er Jahre später in Endzeit und Zeitende - Gedanken über die atomare Situation vor. Was die erdrückende Mehrheit der Zeitgenossen auszeichne, führt er aus, sei nicht »Apokalypse-Blindheit«, sondern »Apokalypse-Indifferenz« (Anders 1972: 185), ein Zustand, der durch die »Überschwelligkeit« der Bedrohung ausgelöst werde, die »durch ihre Immensität die begrenzte Kapazität unserer Auffassung (der Wahrnehmung sowohl wie der Phantasie)« überfordere (ebd.: 184).

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Nach Anders ist unser emotionaler Wahrnehmungs- und Verarbeitungsapparat noch auf archaische Umwelt­reize programmiert, d.h. beweinen können wir einen Ermordeten, vorstellen können wir uns zur Not ein Dutzend, aber bei Tausenden oder gar Millionen von Leichen versagt die Vorstellungskraft, versiegt das Mitleid und Einfühlungsvermögen, »streikt die Seele« (Anders 1956: 269). 

Die Folge ist eine groteske Disproportion des modernen Massenvernichtungs­potentials und unserer zurückgebliebenen psychischen Kapazitäten, ein Ungleichgewicht, das das Abfeuern einer Rakete, die eine Großstadt auslöscht, für uns emotional problemloser macht als das Schlachten eines Huhns.

Anders definiert die Situation mit Hilfe seines »Inversions-« oder »Harmlosigkeitsgesetzes«, das besagt:

Je großer der Effekt, desto kleiner die für dessen Verursachung erforderliche Bosheit. Das Ausmaß der für eine Untat verlangten Gehässigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zum Ausmaß der Tat (Anders 1972: 189).

Die Entfremdung zwischen Tat und Täter sei inzwischen soweit fortgeschritten, die Schere zwischen dem »Auslöser« eines Ereignisses und dem zunehmend schimärenhaften moralisch Verantwortlichen soweit geöffnet, daß ethisches Zurechnungsdenken als antiquiert, seine Invokation als peinlicher Fauxpas erscheine:

Das Quantum an Haß und Bösartigkeit, das für die Abschlachtung eines einzigen Menschens durch den Mitmenschen erforderlich ist, erübrigt sich für den Angestellten am Schaltbrett. Knopf ist Knopf. Ob ich durch meine Schaltbrett­bedienung eine Fruchteismaschine in Gang setze, ein Elektrizitätswerk anstelle, oder die Endkatastrophe auslöse — attitüdenmäßig macht das keinen Unterschied. In keinem dieser Fälle wird mir Gefühl oder Gesinnung irgendwelcher Art zugemutet. Als Knopfdrücker bin ich von Güte ebenso wie von Bosheit absolviert... Kein Hiroshimaflieger hat dasjenige Quantum an Bosheit aufzubringen nötig gehabt, dessen Kain bedurft hat, um seinen eigenen Bruder Abel erschlagen zu können. Und das für die Durchführung der letzten maßlosen Untat erforderliche Bosheitsquantum wird bereits gleich Null sein. 
(ebd.: 189 f.)

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Die »Automatisierung« der Verantwortung durch Delegation an elektronische Entscheidungsträger, an masch­in­elle Befehlsempfänger und operative Systeme läßt folglich unmenschliche Taten zusehends zu »Taten ohne den Menschen« (ebd.: 200) werden, die dem ebenfalls von Anders aufgestellten »Oligarchie­gesetz« — »je größer die Zahl der Opfer, desto kleiner die Zahl der für die Opferung erforderlichen Täter« (ebd.: 194) — gehorchen und schließlich als selbstgesteuerte und -regulierte Abläufe niemandem mehr moralisch imputierbar sind.

Daraus folgt die für den Humanisten Anders skandalöse, für den anthropofugalen Denker tröstliche und erhebende Einsicht in ein gleichsam vorprogrammiertes Inferno, zu dessen Realisation es im Grunde keinerlei Kraftanstrengung mehr bedarf, während ein Abweichen von den eingespeicherten Abläufen, eine Umpro­grammierung, wahrhaft übermenschliche kollektive Energien, eine Revolution unseres gesamten Denkens, Fühlens und Wertens erforderte und als entsprechend unwahrscheinlich gelten muß:

Nicht anders als ein großer Teil heutiger Effekte wird auch die Endkatastrophe nicht nur keine Folge des Wollens sein, nicht nur keine Folge einer »Handlung«, nicht nur keine Folge einer »Arbeit«, sondern die Folge einer schlechthin beiläufigen, vielleicht spaßmachenden Fingerbewegung.

Nicht durch Zorn oder Verbissenheit wird unsere Welt untergehen, sondern ausgeknipst wird sie werden. Die Zahl derer, die in diesem Fall unbeteiligt bleiben, und die »mit unbefleckten Händen« dastehen werden, wird unvergleichlich viel größer sein als die Zahl derer, die sich früher in Kriegen, gleich in welchen, unbeteiligt und unbefleckt hatten halten können. 

Wir leben im Massenzeitalter der unbefleckten Hände, die Inflation von Gutwilligen ist unabsehbar. In einer Sintflut von Unschuld werden wir ersaufen.

(ebd.: 193; Kursivierung U.H.)

Angesichts der unerhörten Anstrengungen unserer Ahnen, die Mittel und Instrumente zu ersinnen, um uns selbst und unsere Umwelt dem Fluch zu entziehen, der uns an das Dasein kettet, angesichts der Tatsache, daß aufgrund des Fleißes und der Opfer­bereitschaft unzähliger Geschlechter die Eskalationsleiter, die aus der Senkgrube der Schöpfung in die Freiheit des Anorganischen führt, für die Letztgeborenen endlich zur Rolltreppe geworden ist, die sie dem Scheitelpunkt jetzt ohne eigenes Zutun entgegenträgt, muß uns der Aberwitz eines Anders beschämen, der — obgleich er den Mechanismus unseres Fortschritts durchschaut — nichts Besseres zu tun weiß, als ihn zu verketzern, als sich umzuwenden und seine Mitreisenden dazu zu ermuntern, gegen die Bewegungs­richtung der Treppe die Stufen wieder hinab­zusteigen.

Über eine Weile aber werden auch die Verstocktesten die Unsinnigkeit dieses Vorhabens einsehen, davon ablassen, gegen den Strom der Geschichte zu schwimmen, ihre Ohren gegen die rückwärts gewandte Botschaft des Humanismus verschließen und sich — wenn nicht mit anthropofugalem Frohlocken, so doch ohne Gegenwehr und Bestürzung — jenem sanften Transport in die Vernichtung überantworten, die aller Not ein Ende bereitet.

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Das Untier von Ulrich Horstmann (1983)