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4. Endspiele. Todestrieb und apokalyptische Simulation

 Mitte 1989 in der taz-Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1989

 

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Es gibt Leute, die können das Ausnüchtern nicht leiden — nicht bei sich und noch weniger bei anderen. Deshalb haben sie sich ein Schimpfwort einfallen lassen für diejenigen, die das anstehende Jahrtausendende nicht im Vollrausch des Fortschritts erleben möchten, sondern ihren weltan­schau­lichen Kater lieber vorher hinter sich bringen: Lust am Untergang.

Nicht daß ich böse wäre, selbst als ein solcher Bruder Lustig verschrien zu sein. Ich habe volles Verständnis für alle diejenigen, die nicht von der Bildfläche verschwinden wollen, insbesondere für Fernseh­moderatoren, deren Talkshows und Gesprächsrunden ohnehin dem Prinzip des Nichtenden­wollens gehorchen.

Aber der Sache auf den Grund gehen muß man doch einmal.

Frisch auf denn in den Tod! Seinen Stachel, den kennen wir. Aber der ist hier nicht gefragt. Die Frage lautet vielmehr andersherum: Tod, wo ist deine Wonne

Ist diese Frage — aberwitzig? Hat es — von unserer thermonuklearen Endzeitstimmung und dem ökologischen Alp zunächst einmal ganz abgesehen — überhaupt jemals so etwas wie einen lustvollen Tod gegeben? Die Antwort lautet ja. Die Geschichte bewahrt nicht nur die Erinnerung an Menschen, die die Todesangst niederrangen und in stoischer Unbewegtheit endeten; sie berichtet auch von fröhlich, mehr noch, von euphorisch Abscheidenden.

Sokrates zum Beispiel war bei seinem forcierten Hingang deutlich besserer Laune als seine kopfhängerischen Schüler, Pablo Picasso empfahl sich mit dem Satz »Trinkt auf mein Wohl«, und Raffael hinterließ eben jene lakonische Botschaft, die auch die britische Schauspielerin Ellen Terry, als sie schon nicht mehr sprechen konnte, in den Staub ihrer Nachttisch­platte kritzelte: »glücklich«. 

Mehr noch, auch die Seligkeit vor dem Tode ist bezeugt, und nicht nur bei jenen frühchristlichen Märtyrern, die der Überlieferung nach gar nicht schnell genug unters Gladiatorenschwert oder zwischen die Raubtierzähne kommen konnten. 

Es gibt für diesen Gemütszustand auch weit rezentere Zeugnisse, die Abschiedsbriefe des Heinrich von Kleist zum Beispiel, die er nicht von ungefähr als »Triumphgesang, den meine Seele in diesem Augenblick des Todes anstimmt«, bezeichnet, wobei sein Hoheslied Zeilen wie die folgenden enthält:

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Der herrlichste und wollüstigste aller Tode ... Du wirst begreifen, daß meine ganze jauchzende Sorge nur sein kann, einen Abgrund tief genug zu finden, um mit ihr hinab zu stürzen ... Ein Strudel von nie empfundener Seligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt. ... Ach, ich versichre Dich, ich bin ganz selig.  

In solcher Verzückung zieht er seine Pistolen ab, zuerst gegen die krebskranke Henriette Vogel und dann gegen sich selbst. Offenbar war es ihm eine Lust, mit der Waffe in der Hand zu sterben. Und wenn man es recht bedenkt, hat dieses Utensil Legionen von Gattungsgenossen den Übertritt aus dem verletzlichen Fleische ins Reich der hieb- und stichfesten Schatten versüßt. Dulce et decorum est pro patria mori steht auf dem Fahnentuch über ihren Särgen, und Thanatos senkt grüßend die Fackel.

 

Nun ist seit geraumer Zeit der Verdacht aufgekommen, daß der suizidäre Taumel kein Privileg von Individuen sein müsse, sondern möglicherweise auch das Kollektivsubjekt Menschheit erfassen könne. Freud hat bekanntlich einen Todestrieb postuliert, der in allen Organismen waltet und der, wie uns die Biologie wissen läßt, nicht nur die Existenzspanne des Einzelwesens, sondern auch die der Gattung, der es angehört, terminiert

Verlöschen, Aussterben ist eine evolutionäre Pflichtübung, der sich kaum eine Lebensform länger als ein paar Millionen Jahre zu entziehen vermag. 

Eine Menschheit, die sich selbst ausrottet, würde diese Gesetzmäßigkeit nur um eine eher dümmliche Variante bereichern; dümmlich deshalb, weil sie so nicht an natürlichen Veränderungen der Umwelt zugrunde geht, sondern ihr Anpassungsvermögen durch eigenaktive Schädigung bzw. Verseuchung ihres Lebensraums überstrapaziert und, verblendet von dem Wahn, der Natur beständig in den Arm fallen zu müssen, eben dieser höchsten Instanz zu- und in die Hände arbeitet. Die Mühen der Entsorgung, der Eliminiation des Störfaktors Mensch bleiben der Evolution erspart; der Fremdkörper erledigt das mit Feuereifer selbst.

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Ob dieser rastlose Fleiß allerdings auch noch mit Lustgewinn prämiert wird, wenn es soweit ist und der Zeitzünder unter unserer Schädeldecke detoniert, lasse ich dahingestellt. Die Vorstellung einer orgiastischen Vereinigung im Tode, eines Paroxysmus der Heiterkeit, der Globalisierung der Kleistschen Verzückung in letzter Minute scheint denn doch eher märchenhaft. In Wirklichkeit wird wohl alles viel prosaischer und in den üblichen Bahnen ablaufen. 

Wir werden uns zwar prinzipiengläubig, dafür aber zunehmend lustlos gegenseitig den Garaus machen, mit Pfusch und Schlendrian, mit nach menschlichem Ermessen ausgeschlossenen Störfällen, mit halbherzigen Korrekturen, deren Nebenwirkungen schlimmer ausfallen als die Schäden, die sie wiedergutmachen sollten, und mit jener naßforschen <Alles-wird-sich-schon-einrenken>-Mentalität, die im letzten Krieg an Wunder­waffen glaubte und in unserem vielleicht letzten Frieden je nach Coleur an die <Wende>, die <moralische Erneuerung>, an Greenpeace, New-Age oder die <Geburt des neuen Menschen> aus Sojaschrot und Grünkernbrat­lingen. Auch die aber wird in den gewaltsamen Abort einmünden — und da wird sein Heulen und Zähneklappern.

 

Ist die so oft beschworene <Lust am Untergang> also ein Phantom, ein bloßer Analogieschluß von individual­psychologischen Strukturen auf den Metaorganismus Menschheit, der, aus dem gebührenden Abstand betrachtet, eher einen amöbenhaft bewußtlosen Eindruck hinterläßt? Oder tarnt sich ein uns allen eingepflanzter transsubjektiver Todesinstinkt, der dann auch affektbesetzte Gratifikationen kennen muß, so geschickt, daß wir ihn genausowenig direkt zu Gesicht bekommen, wie sich das Auge beim normalen Wahrnehmungsvorgang mitsehen kann? 

Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht einmal, ob wir es am Ende unserer Tage wissen werden — in jener Apokalypse, die ja wörtlich übersetzt Enthüllung bedeutet und uns die Offenbarung verspricht.

Natürlich wollen wir uns bis dahin nicht gedulden, und unsere Ignoranz ruht nicht eher, bis sie etwas in die Welt gesetzt hat, dessen Existenz längst über jeden Zweifel erhaben ist und das sich vor das Unzugängliche, Unerreichbare schieben läßt wie ein buntbemalter Paravent vor eine verschlossene Zimmertür. Dieses Ersatzprodukt für die höchst zweifelhafte kollektive Lust am Untergang ist die Denklust am Katastrophalen und Apokalyptischen, die in unserem fin de millénaire erneut in prächtiger Blüte steht.

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Über den Reiz und die Anziehungskraft dieses Substituts möchte ich im folgenden handeln, und zwar als Betroffener, als jemand, der dieser Denklust frönt und den Sirenenklängen vom Ende der Welt mit Leib und Seele verfallen ist. 

Von Expeditionen in die Nachgeschichte, Ausflügen in das Land Menschenleer wird dabei die Rede sein, von Entdeckungen, Strapazen und dem Preis, der hier ebenso zu entrichten ist wie bei anderen Grenzüberschreitungen auch. Vom Sinnhunger und dem Verlust des Tatendurstes habe ich zu berichten und von den Versuchen der Gegenwehr — nicht gegen das Verschwinden, wohl aber gegen die Unterstellung, wer sich die Apokalypse ausmale, der sei automatisch ihr Zuhälter, ein Unmensch und Massenmörder im Geiste.

Könnte ich mit den entsprechenden Verhaltensmustern dienen, müßte ich meine Apologie der Denklust am Untergang wohl mit einem Fluch auf Gott und die Welt eröffnen, so aber bleibt mir in Ermangelung einschlägiger Talente nur die Liebeserklärung. 

Wir leben in einer großartigen Epoche, die sich vor allen anderen Zeitaltern auszeichnet, und ich betrachte es als unerhörtes Privileg, jetzt gegenwärtig zu sein.

Warum? 

Weil zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit eben diese Geschichte überschaubar wird, und zwar nicht nur von ihrem Anfang her, sondern auch zu ihrem Ende hin. Die Gattung hat mit Hiroshima gleichsam einen neuen Aggregatzustand erreicht, ein Vorgang, den Günther Anders in einem Essay auf die inzwischen klassische Formel brachte:

Bis 1945 waren wir nur die sterblichen Glieder einer als zeitlos gedachten Gattung gewesen, mindestens einer Gattung, der gegenüber wir uns die Frage <sterblich oder unsterblich?> eigentlich niemals gestellt hatten. Nunmehr gehören wir einem Geschlecht an, das als solches sterblich ist. ... Aus dem Stand <genus mortalium> sind wir in den Stand <genus mortale> hinübergewechselt.  

Diese Rückstufung bezeichnet er zu Recht als ebenso elementare Umwälzung wie den Zusammenbruch des geozentrischen Weltbildes, und die landläufigen Reaktionen auf die Verendlichung unserer Gattungs­existenz durch die eigene Erfindungsgabe zeugen denn auch von tiefer Verstörung und teilweise irreversiblen Traumatisierungen. 

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Viele erleben unsere Welt, die jetzt eine gestundete —  eine Realität auf Widerruf — geworden ist, als durch und durch angstgetönt und beklemmend. Ihnen ist, als schrumpfe die Wirklichkeit zwischen den immer näher zusammenrückenden apokalyptischen Horizonten wie die Kerkerzelle der Inquisition in Edgar Allan Poes »Die Grube und das Pendel«, wo die beweglichen und glühenden Wände den Gefangenen einkesseln und unerbittlich auf das namenlose Grauen der Grube in der Raummitte zutreiben.

Diesen Eindruck der Ausweglosigkeit als Einbildung abzutun, wäre verlogen. Denn im Ausgang des zweiten Jahrtausends nach Christus beginnt sich in der Tat etwas auf ewig einzurollen, zu verkapseln und abzuschließen, von dem unzählige Generationen gelebt und gezehrt haben, die Hoffnung auf bessere Zeiten nämlich und auf die graduelle Rekultivierung des Gartens Eden. Bessere Zeiten mögen heraufdämmern für alle Kreatur, aber das Überborden des Lebens wird kausaliter mit unserem Verschwinden verknüpft sein; das Paradies mag wiedererstehen wie am sechsten Schöpfungstag, doch wir haben begriffen, daß es nicht für, sondern nur ohne den Menschen zu haben sein wird.

Das sind die Gründe der grassierenden Endzeitstimmung, des Katastrophismus und der kulturellen Atemnot, und sie bezeugen die überraschende Tatsache, daß auch der Glamour der Medien und die Selbsthypnose des Konsums den Realitätssinn nicht haben ausschalten können. 

Uns ist etwas in Scherben gegangen, was keine Reue, keine Umkehr wieder ganz werden läßt, und die einzig vernünftige Reaktion darauf ist nicht Trotz, sondern Trauer und ein melancholisches sich Lösen von dem, was unwiderbringlich* dahin ist.

Erst wenn wir Abschied genommen haben von den tausend Gestalten des heiligen Grals, dessen neueste miniaturisierte Ausgabe der Mikrochip und sein elektronisches Schlaraffenland ist, Abschied vom anthropo­zentrischen Dünkel und dem anhangenden Auserwähltheits- und Unsterblichkeitsanspruch, wird sich die Einschnürung und Beklemmung lösen, wird sich Neuland auftun hinter der Flammenwalze des computer­gesteuerten Feuersturms. Eine Terra incognita, fremder und zauberhafter als die Hochplateaus des Mars mit ihren vom Morgennebel durchzogenen Canons und Grabenbrüchen, zu der keine unserer Raum­sonden mehr hinabsteigt. 

*(d-2007:)  richtig wohl: "unwiederbringlich" - so steht es auch im Rücktext.

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Ein geläutertes Neues Atlantis, von dem sich der korrupte Lordkanzler Francis Bacon, geistiger Ziehvater von Generationen unbestechlicher Empiristen, nichts träumen ließ und das doch auf den Porträts seines 1909 geborenen Namensvetters schon durch den wieder und wieder abgebildeten großen Wundbrand des Fleisches hindurch zu ahnen ist.

Überhaupt ist die Kunst längst im Bilde und weiß vielleicht als einziger Schiffbrüchiger auf Gericaults <Floß der Medusa> auch von der Geborgenheit im Ruinösen und Ruinierten. Viele der Bilder Caspar David Friedrichs strahlen etwas aus vom Frieden der Niederlage, und wenn die Worte Versöhnung und Versöhnlichkeit überhaupt noch einen Sinn besitzen, dann wird er in der großartigen Schlußeinstellung von Andrej Tarkowskijs <Nostalghia> augenfällig, in der die Mauern der verfallenen Abtei San Galgano den sterbenden Gortschakow umfangen und bergen wie ein Mutterschoß.

 

Wer so enden will, eingebettet in eine neue und wieder unberührte Welt, in der Menschenwerk nur noch als resorbiertes Relikt und Denkmal einer schon verziehenen Anmaßung überdauert, der muß zunächst aus dem altvertrauten Milieu, dem Spiegelkabinett der Zivilisation des späten 20. Jahrhunderts, ausbrechen. Denn hier verstellen uns unsere eigenen Produkte auf Schritt und Tritt den Weg; wir begegnen nur noch dem, was unsere Industrie ausschwitzt, was unsere Fabrikationszwänge auftürmen. Arbeiten wir uns aber mühsam in die Tiefe des Warenlagers vor, stoßen wir urplötzlich auf die blankpolierten Oberflächen der Waffen, die uns mit unseren eigenen angstverzerrten Gesichtern abschrecken, wieder zum Ausgangspunkt zurücktreiben und in jenem Zentrum zusammenpferchen, dessen Stickigkeit wir doch gerade entkommen wollten.

Und diese Kreuzung aus Rumpelkammer und Geisterbahn, in der wir nicht mehr aus noch ein wissen, soll eine Liebeserklärung wert sein? Allerdings, und zwar gerade, weil sie uns die üblichen Fluchtwege abschneidet. Früher oder später kommen wir in diesem dekadenten Ambiente um die Einsicht nicht mehr herum, daß unsere bisherige Hyperaktivität, das ständige Bewerkstelligen, Intervenieren und Manipulieren ohnehin nur eine skurrile Spielart der Duldungs­starre war, mit der wir das Unheil über uns hereinbrechen machen. Und eben weil unser Untergang aus unserer Emsigkeit resultiert, können wir ihm nicht mehr davonlaufen oder davonreisen.

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Wir sind umstellt und umzingelt, auf Tahiti ebenso wie in Swakopmund, auf dem Roten Platz nicht weniger als unter den Salinen von Bad Rothenfelde. Wir haben mobilgemacht über Jahrtausende, und keine Mobilität kann uns vor den Folgen in Schutz nehmen. Wir jetten, wir hasten an alle Enden der Welt, aber das Weltende ist allgegenwärtig und das Asylrecht rund um den Globus suspendiert.

Was tun, wenn die Reisebüros keine Absolution mehr erteilen können? Antwort: Umbuchen auf Gedanken­flug! 

Unsere Ausweglosigkeiten zu tranzendieren, dem Gruselkabinett Marke Eigenbau zu entrinnen vermögen wir nur noch im Kopf; nicht im Jumbo, — sondern allein auf den Flügeln der Phantasie.

Sollen die, die nicht mehr abheben können, das getrost Eskapismus schimpfen; wir Phantasten winken ihnen zu und machen uns aus dem Staube. Der Kopf ist ein unerhörter Apparat, eine Weltzertrümmerungs­maschine und zugleich ein Selbstüberholungsorgan und Welterneuerungssimulator. Von der ersten Funktion haben wir ad nauseam Gebrauch gemacht, nun bleiben uns nur noch wenige Augenblicke, die beiden anderen auszuprobieren. Wollen wir sie vergeuden wie so vieles andere auch?

Die Verschwendungssucht der Gattung wird dafür sorgen. Aber einige werden doch das Lager wechseln und sich von Lemmingen zu Lüstlingen des Untergangs mausern, zu Gedankenschwelgern und Libertins im Geiste, wohlgemerkt. Und die könnten beispielsweise eine Nachgeschichts­metaphysik entwerfen, die in weiser Voraussicht schon jetzt auf das Moratorium allen Denkens reagiert, das wir für den <Verteidigungs­fall> zu gewärtigen haben.

Philosophie ist ein Produkt des Sinnhungers, den sie stillen wollte, aber immer nur für eine Weile zu überspielen oder zu betäuben vermochte. Versetzen wir einen Philosophen in eine nachdesaströse, postapokalyptische Welt, in der der Mensch zerblitzte und nur noch durch Abwesenheit glänzt, so ist abzusehen, daß das professionelle Hungergefühl nicht nur nicht verschwunden ist, sondern sich mit nie gekannter Intensität zu Wort melden wird. Der Philosoph kann also selbst hier nicht anders, als das zu tun, was alle seine Vorgänger getan haben. Er wird aus dem, was passiert ist, Sinn destillieren und über kurz oder lang dahin gelangen, den Gang der Ereignisse für logisch einsehbar, folgerichtig, ja endlich für vernünftig zu erklären.

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Allerdings hat er mit einem selbst für Metaphysiker irritierenden Handicap fertig zu werden: Es gibt ihn nämlich nicht, weil er zerstrahlt und ionisiert ist wie die übrigen Zweibeiner. Und selbst wenn wir eine auf geheimnisvolle Weise mit der Erklärungssucht zusammenhängende temporäre Immunität erfinden und ein paar Stöße unverkohltes Papier dazu, erreichten die Produkte ultimativen Scharfsinns doch keine Leser mehr. Und das wäre, wie jeder zugeben wird, doch eigentlich jammerschade. 

Also müssen wir die Bücher, von denen wir wissen, daß sie nicht mehr geschrieben werden können, wenn die Zeit reif ist, aus der Nachgeschichte ins Präapokalyptikum transportieren und sie jetzt unter die Leute bringen, damit sie zumindest erklärt bekommen, warum sie post festum keinen Erklärungen mehr zugänglich sein werden.

Solche Eventualitätsliteratur zur Kenntnis zu nehmen, mag der Kathederphilosophie als eine Last erscheinen, die ich ihr hiermit von den aristotelischen Schlüsselbeinen nehme. Solche Bücher zu schreiben aber, das versichere ich allen, die es auch ausprobieren möchten, ist eine Lust.

Natürlich darf man in diesem Zusammenhang nicht damit hinter dem Berg halten, daß auch die Denklust jenem Elend alles Kreatürlichen tributpflichtig bleibt, von dem auf einem ähnlich umtriebigen Sektor die Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten ein Liedchen zu singen wissen. Lustgewinn wird hier wie dort mit mannigfachen Verlusten austariert, und die anthropofugale Vernunft, der ich des öfteren beiwohne, ist sogar eine reichlich infektiöse Geliebte.

Wer auf Distanz gehen will zum Alltäglichen und Gewohnten und deshalb auf Berge klettert, wer den unver­wandten Blick einzuüben gedenkt und vielleicht Drachenflieger wird oder sich dem freien Fall überläßt, der nimmt Risiken für Leib und Leben in Kauf und tut das bewußt, weil die Erfahrung, die er nur so machen kann, diesen Einsatz wert ist. Beim Rückblick auf uns selbst aus dem Jenseits der Nachgeschichte und Menschenleere geht es nicht anders. Die Reise in die Fremdheit, in die äußerste Objektivität sich selbst und seinesgleichen gegenüber ist kein Sonntagsspaziergang, und mancher, der es nicht glauben wollte, kehrt seltsam kleinlaut geworden in den ersten Geröllfeldern wieder um. 

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Von denen aber, die weitermarschieren, verschwinden nicht wenige auf Nimmerwiedersehen wie der Zeitreisende in H.G. Wells' <Zeitmaschine> bei seiner zweiten Exkursion. Von der ersten bringt er einen Bericht zurück über jenen Punkt am Ende der Zeiten, der der anthropofugalen Vernunft als Aussichtsplattform dient und der in alle Ewigkeit nur über die Einbildungskraft und Imagination zu erreichen sein wird. 

»Weiterer Ausblick« lautet die Überschrift des Kapitels, und was es beschreibt, ist die nature morte des finalen Schöpfungstages, ein letzter Strand vor dem alles revozierenden »Es werde Nacht!«, ein elementares Stillleben, eine elegische Idylle, wie sie nur entstehen kann an der Grenze zum definitiven Vorüber. Irgendwann beginnt es zu schneien, eine eisige Kälte kriecht dem Zeitreisenden in die Glieder, betäubt ihn halb, beginnt, den Willen zur Heimkehr auszuschalten.

Die klimatischen Verhältnisse in der Region größtmöglicher philosophischer Menschenferne, der Antarktis in unserem Kopf, sind vergleichbar, Frostbeulen gehören deshalb zum anthropofugalen Denken wie Herzrasen zum Humanismus. Und wer bis zum Pol vorstößt, weiß nie, ob er als Scott oder als Amundsen den Rückmarsch antritt, was übrigens nicht weiter schadet, weil sich die Ungewißheit positiv auf den Stoffwechsel und die Sorgfalt der Tagebuch­eintragungen auswirkt.

Aber nehmen wir an, er ist robust genug, überlebt physisch und psychisch und kehrt mit einer reichen Ausbeute an Aufzeichnungen und Erfahrungen in den Kreis seiner Lieben zurück. Dann hat er dort im Gegensatz zum Polarforscher alles andere als Konfettiparaden zu gewärtigen. Der philosophische Fremdgänger und Erkunder einer distanzierten Retrospektive wird vielmehr mißtrauisch beäugt, und wenn man ihn überschüttet, dann nicht mit Papierschnipseln, sondern mit Vorhaltungen und Anklagen.

Pessimismus, Defätismus, Antihumanismus, Gewaltverherrlichung, Kollaboration mit dem Unheil, Nihilismus und viele andere ähnlich weitherzige Stempel werden dem aufgedrückt, der Menschheits­geschichte zu Ende zu denken sucht und dabei das himmlische Jerusalem zu kartographieren vergaß. 

Arthur Schopenhauer ist es so ergangen, Giacomo Leopardi, Eduard von Hartmann, Philipp Mainländer, Ludwig Klages, Theodor Lessing, Albert Caraco, E.M. Cioran. 

Die erwähnten Wert-, oder genauer, Unwertzuweisungen aber basieren samt und sonders auf einem Mißver­ständnis, an dessen Entstehung das anthropofugale Denken mit seiner Lust am Untergang allerdings nicht ganz unschuldig ist.

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Etliche seiner Vertreter haben es nämlich nicht nur bis zu der Einsicht Theodor Lessings gebracht: »Eine Nation, die ihren eigenen Untergang als sittlich-sinnvoll bejubelte, würde möglicherweise den letzten Gipfel der Ethik darstellen.« Sie waren sich darüber hinaus auch für das Anerbieten nicht zu schade, beim sittlichen Gipfelsturm der gesamten Menschheit den Bergführer abzugeben. Wie üblich machten sie bei der Bewältigung dieser praktischen Aufgabe eine eher komische Figur. 

Doch der gute Wille ließ den Exoffizier Eduard von Hartmann, Verfasser der 1869 erschienenen <Philosophie des Unbewußten>, immerhin knapp siebzig Jahre vor der Entdeckung der Kernspaltung zu der Überzeugung gelangen, »daß die Sache nicht ganz so undenkbar ist, als sie manchem auf den ersten Blick scheinen möchte«.

Das Aushecken der planetarischen Pasteurisierungsmethode selbst haben dann die Kollegen von der natur­wissen­schaftlichen Fakultät übernommen, deren handfestere Mentalitäten nicht auf Hartmanns Sankt-Nimmerleins-Tag warten wollten, 

wenn ...

... das Bewußtsein der Menschheit von der Thorheit des Wollens und dem Elend alles Daseins durchdrungen [ist] ... und alle bisher für das Wollen und Dasein sprechenden Motive so sehr in ihrer Eitelkeit und Nichtigkeit durchschaut sind, daß jene Sehnsucht nach der Vernichtung des Wollens und Daseins zur widerstandslosen Geltung als praktisches Motiv gelangt.  

So sind wir trotz aller Widrigkeiten doch noch in Peter Sloterdijks »Biedermeier mit Raketen« angekommen und brauchen uns als Philosophen nicht länger an Dingen zu überheben, von denen wir nichts verstehen, oder uns die Köpfe über Versuchsanordnungen und Experimenten zu zerbrechen.

Kurz und gut, wir dürfen uns nach all dem, was passiert ist, und angesichts dessen, was noch passieren wird, wieder rückhaltlos zur Ohnmacht philosophischen Räsonnierens bekennen, die übrigens ein Privileg sondergleichen darstellt. Denn schließlich können die sogenannten exakten und harten Wissenschaften ihre Ideen nicht halten und müssen zwanghaft alles und jedes ausprobieren und in die Tat umsetzen, was ihnen in den Sinn kommt. 

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Die Philosophie dagegen bleibt von derartigen Inkontinenzproblemen unberührt, weil keines ihrer kunstvollen Systeme jemals wirklich funktioniert und die Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt hat.

Heiter und genesen von der dementia pragmatica sind wir dem Schwefelbad tausendjähriger Disputationen, dem Gebrodel der Aporien und Halbwahrheiten entstiegen, mit wohliger Erschöpfung haben wir auch die feuchtheißen Umschläge der Dialektik hinter uns gebracht. Das Fieber der Weltverbesserer schüttelt uns nicht mehr, und den Aktivisten, die sich noch in unser Bagno Vignoni verirren, rufen wir ungläubig die Frage Andrej Tarkowskijs hinterher:

»Sollte es denn immer noch nicht klar sein, daß die Kunst niemandem etwas beizubringen vermag, wo der Menschheit doch in viertausend Jahren nichts beizu­bringen war?« 

Wir haben mit Oscar Wilde und Fernande Pessoa die Paradoxie wiederentdeckt, die nicht wie die Logik alles an den zwei Fingern des Wahren und Falschen abzählt, sondern einer unendlich vielfältigen Wirklichkeit die ganze Hand hinhält. Wir leben nicht mehr gegen das <Andere der Vernunft> wir existieren in und aus dem Selbstdementi, und wir lassen es im Gegensatz zu den Pionieren des Anthropofugalen auch nicht länger an jener konsequent durchdachten Inkonsequenz fehlen, die sich etwa bei E.M. Cioran in der Auskunft manifestiert:

Ich verbringe meine Zeit damit, den Selbstmord schriftlich zu empfehlen und mündlich von ihm abzuraten. Im ersten Fall handelt es sich nämlich um eine philosophische Lösung; im letzteren um einen Menschen, um eine Stimme, um eine Klage ...

Auch dem Rückblick aus der Menschenleere und dem Land Nimmermehr geht es in diesem Sinne um »philosophische Lösungen«. Sie haben, wie ausgeführt, mit unserem angeborenen Sinnhunger zu tun, taugen aber nicht für die Anstachelung des Tatendurstes. Denn woher soll die agitatorische Kraft eines Nachsinnens kommen, das gelernt hat, die verheerende Wirkung von Patentrezepten historisch nachzuzeichnen, Utopien aus Ausrottungs­verheißungen zu dechiffrieren und die Apokalypse als Resultante nicht unserer Entgleisungen, sondern gerade unserer Fortschritte, als Endpunkt einer imposanten Kette von Erfolgen zu begreifen.

 

Nein, Leopardi hat recht, wenn er feststellt: »Die höchste Philosophie ist entschieden tatenfeindlich.« Sie ist die Femme fatale der Gedankenspieler, nicht die Hure der Macher. In Wahrheit war sich die Reflexions­kunst immer selbst genug — wie die Poesie, die Musik, das Theater. Und wie jene ist sie auf ihrem Felde zu erstaunlichen Leistungen in der Lage. Eine der wundersamsten Denkfiguren entsteht dann, wenn sich der Intellekt selbst wegdenkt und aus der Welt verschwinden läßt. 

Den Affekt, der diese nur für Fortgeschrittene zu empfehlende Übung begleitet, nannten wir Denklust am Untergang. Sie hat mit Zerstörungswut und berserkerhaftem Kontrollverlust nur in den Augen derer zu schaffen, die selbst — aus welchen Gründen auch immer — ihr Mütchen kühlen möchten. Die Philosophie verfertigt Gedankengemälde. Und wer wollte einem Maler verbieten, die Apokalypse auf die Leinwand zu bringen?

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 Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990