16 Literatur in der Dunkelkammer
Die Wiederentdeckung des viktorianischen Pessimisten James Thomson (*1834)
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Als James Thomson wieder einmal eine seiner <Profanitäten> veröffentlicht, wendet sich ein Leser mit der Feststellung an den verantwortlichen Herausgeber: »Ihre Zeitung, Sie selbst und all Ihre Anhänger gehören verbrannt.« Dieser fromme Wunsch sollte nicht ungehört verhallen, denn im Leben des <Laureaten des Pessimismus>, Virtuosen des Schattenspiels und Ehrenbürgers der <City of Dreadful Night> gab es zumindest drei lichte Momente, dreimal Feuer.
Es brennt am 4. November 1869 im Kamin, als James Thomson wenige Wochen vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag alle Papiere, Briefe und unveröffentlichten Manuskripte vernichtet. Die Prozedur dauert fünf Stunden, »Nach diesem schrecklichen Jahr mußte ich die Vergangenheit auslöschen«, steht in seinem Tagebuch, und weiter:
»Ich fühlte mich wie jemand, der an einem langen Seil bis zur halben Höhe hinaufgeklettert ist und das ganze Stück unter sich abschneidet. Er muß weiterklettern und wird mit der guten alten Erde nie wieder in Berührung kommen, ohne abzustürzen.«
Es brennt im Frühjahr 1882 in einem möblierten Zimmer, Huntley Street No. 7. Als der Vermieter hereinstürzt, sitzt der völlig betrunkene Thomson reglos auf seinem Stuhl und starrt in die Flammen. Er hat das Seil losgelassen. Eine haltlose Existenz, die auf der Suche nach Fusel und einem billigen Rausch in ausgetretenen Hausschuhen durch die Gassen schlurft. In den Briefen seines Freundes Percy Holyoake heißt er jetzt »der große Bedauernswerte«. Die Erde ist schon sehr nah.
Es brennt 1890, acht Jahre nach Thomsons letzten Worten, die angeblich »unprintable« waren und die die Ohrenzeugen deshalb der empfindsamen Nachwelt vorenthielten. Das Feuer bricht in einem Lagerhaus aus, in dem auch der Verlag Reeves and Turner seine Bestände untergebracht hat. Von den Restauflagen der drei Bücher, die Thomson zu Lebzeiten veröffentlichen konnte, ist wenig zu retten.
Dreimaliges sich Entzünden, Aufflackern, verkohltes Papier. Kein unpassender Rahmen für einen Ausgebrannten und Mystiker der Leere, dem als ausgemacht galt: »Die Natur hält uns nur durch ein ausgeklügeltes System schamlosester Einbildungen am Leben.« Leuchtzeichen aber auch gegen das Abdunkeln und Vergessen, mit dem ihm Zeitgenossen und Nachwelt gleichermaßen begegnet sind. Denn immer noch existiert keine Werkausgabe, und bis zur Übersetzung auch nur der wichtigsten Texte ins Deutsche ist gut ein Jahrhundert ins Land gegangen.
Ein derartig verfestigtes Übersehen kommt nicht von ungefähr, und schon die Tatsache, daß die viktorianischen Treuhänder dessen, was Thomson als »Schrebergartenliteratur« bezeichnete, das Kompliment erwiderten und seine Veröffentlichungen in der Regel wie Brennesseln behandelten, verdeutlicht die Automatik der Ausgrenzung. Thomson wußte nur zu gut, daß er aneckte und damit jene soziale Abwehrreaktion auslöste, die noch 1895 einen Oscar Wilde per Gerichtsurteil unschädlich machen und hinter Gitter bringen konnte.
Deshalb überlebte und publizierte er in einer Art Nische, den Zeitschriften der englischen Freidenkerbewegung, die von den Gebildeten belächelt wurden und mit denen sich kein Literat einließ, der ein Fünkchen Ehrgeiz besaß und auf sein Renommee bedacht war. Für den Autor der wenig menschenfrommen »Vorschläge zur umgehenden Vertilgung allen Übels und Elends« aber war jenes Ghetto die einzig zugängliche Freistatt, wenngleich er sich, wie der Schluß von »Philister, Philistertum, Philisterei« beweist, keinen Illusionen über den Preis der Bewegungsfreiheit hingab:
Wäre ich ein etablierter und erfolgreicher Schriftsteller, der für eine angesehene Zeitschrift arbeitete, hätte ich nicht im Traum daran gedacht, auch nur einen Zipfel der heiligen Geheimnisse des Spießertums zu lüften. Zum Glück aber bin ich ein ganz unbekannter Autor und schreibe für ein Periodikum von mehr als zweifelhaftem Ruf. Man ist sehr frei, wenn man keinen Namen zu verlieren hat, und man ist noch freier, wenn man sich keinen schlimmeren Ruf einhandeln kann, als man schon besitzt, und, unter uns, ich verfüge über beide Privilegien.
*(d-2015:) wikipedia James Thomson poet born 1834
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Den Sonderstatus der literarischen Unperson, durch die man hindurchsieht, teilt Thomson im 19. Jahrhundert u.a. mit Heinrich Heine und Giacomo Leopardi, die er in den 60er und 70er Jahren ins Englische überträgt, sowie mit Arthur Schopenhauer, der ihm als Systemdenker weniger liegt. Und auch der Grund für die Exilierung ist zumindest bei den beiden Letztgenannten der gleiche: Renitenz gegenüber dem Prinzip Hoffnung. Als George Eliot* sich für die Übersendung der <City of Dreadful Night> bedankt und zwischen den Zeilen ihrem Wunsch Ausdruck verleiht, Thomson möge über die <Enge des pessimistischen Standpunktes> hinauswachsen, reagiert der Angesprochene auf diesen Abwerbungsversuch mit den Worten:
Ich erkenne die gutgemeinten Bemühungen all derer, die unser Los nach Kräften verbessern wollten, von Herzen und mit Freuden an; aber ich vermag nicht einzusehen, daß all ihre Anstrengungen viel gegen den Fluch auszurichten vermochten, der von Anbeginn auf unserer Existenz lag.
Und Thomson, der schon 1867 in seinem Vorwort zu »A Lady of Sorrow« zwischen der »Wahrheit des Winters und der schwarzen Nacht« und der »des Sommers und des strahlenden Mittags« unterschieden hatte, fährt fort:
Ich bin mir bewußt, daß die Wahrheit der Mitternacht die des höchsten Sonnenstandes nicht ausschließt, aber seine Natur bringt einen vielleicht dazu, sich eher bei der ersten als bei der letztgenannten anzusiedeln.
Die Nacht- und Schattenseiten des Daseins, die Poesie des Scheiterns und der Untergänge, die gebrochenen Farben der Enttäuschung und der korrodierte Glanz verratener Ideale — das faszinierte Thomson, das war sein Metier, hier lagen seine Talente, und in dieser dem gesunden Optimismus von jeher nicht geheuren Grauzone der Vergeblichkeit entstand mit der Nachtstadt sein bedeutendstes Werk und zugleich eines der größten Melancholiegedichte, das wir besitzen. Es erschien 1874 willkürlich zerhackt und in unleserlichem Druck in drei Nummern des National Reformer und wurde von der Kritik eine »trostlose Sackgasse« genannt.
*(d-2015:) George Eliot (* 1819 in Nuneaton, Grafschaft Warwickshire; † 1880 in London) ist das Pseudonym der englischen Schriftstellerin Mary Ann Evans. wikipedia George_Eliot
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Trotzdem findet sich dieser Text — als einziger Thomsons — heute in nahezu jeder Epochenanthologie und verleiht dem Einspruch des britischen Philosophen Ferdinand Schiller Gewicht, der schon 1934 energisch die Perspektiven zurechtgerückt und geschrieben hatte:
Die Nachtstadt kann nicht als alkoholische Entgleisung abgetan werden; man muß sie so behandeln, wie sie es verdient — als eine großartige poetische Anklage gegen den Optimismus.
Das ist eine glückliche Formulierung, denn Thomson ist tatsächlich nirgendwo besser aufgehoben als in der Gesellschaft derer, die unbelehrbar genug waren, dem Fortschritts- und Perfektibilitätsdenken den Prozeß zu machen. Um einen solchen Häretiker, diesen Forschungsreisenden in die Hoffnungsleere und Ausleuchter der rabenschwarzen Ecken und Winkel des fabrizierten und organisierten Heils zur Normalität und literarischen Dezenz des Viktorianismus zu bekehren, hätte es einer Gehirnwäsche bedurft.
Swinburne, dessen skandalöse <Poems and Ballads> Thomson so rückhaltlos verteidigt hat, hatte das Unglück, einem der selbstlosen Praktikanten dieser Konformisierungskunst in die Hände zu fallen. Theodore Watts-Dunton verhütete, wie es so schön heißt, das Schlimmste, gewöhnte seinem Mündel das Trinken ab, machte es wieder vorzeigbar und gesellschaftsfähig — und ruinierte dadurch den Dichter Swinburne für immer.
Grillparzer, der es wissen mußte, nannte so etwas »mit seiner eigenen Leiche gehen«. Thomson ist dieses Schicksal erspart geblieben. Als er mit vierzig leergeschrieben war, hat ihn niemand daran gehindert, auch noch jenes existentielle Poem zu Ende zu bringen, das alles, was er je zu Papier gebracht hatte, umfing, fortsetzte und übertraf: seine Biographie.
Hier ist nur Zeit für einen Blick auf das Endspiel, das mit der Selbstüberforderung durch die summa melancholica der Nachtstadt beginnt. Nach dem ersten ihn auslaugenden Produktionsschub desertiert Thomson — wider besseres Wissen:
Wem's widerfährt, der will die Seligkeit kaum glauben,
und mancher weint, der in der Nachtstadt ohne Tränen blieb,
nie wieder läßt er sich den inneren Frieden rauben,
kehrt er zurück, wohin ein böser Fluch ihn trieb.
Der Narr! Wer einmal seinen Fuß in jene Welt gesetzt,
kommt nicht mehr los, wird vom Verhängnis stets zurückgehetzt
in ein Erschrecken, das die Hoffnung wegstiehlt wie ein Dieb.
Ein halbes Jahr verbringt er als Beauftragter der »Champion Gold and Silver Mines Company« in Colorado, dann ist er zurück, arbeitet weiter, flieht im Juli 1873 erneut. Die zweite Ausstiegsphase dauert ganze acht Wochen, bevor ihn die New York World aus Spanien zurückbeordert, wo er vom dritten Karlisten-Krieg berichten sollte. Nein, mit Thomson war kein Geld zu verdienen, im Bergbau nicht und auch nicht in der journalistischen Goldmine der Krisenherde. Ende September hat ihn der Moloch London wieder, von dem so viel in sein magnum opus eingeflossen ist, und jetzt endlich bringt Thomson sein Meisterwerk zum Abschluß und verurteilt sich gerade dadurch als Poet unwiderruflich zum Schweigen.
Die restlichen acht Jahre seines Lebens sind Epilog.
Thomson hält sich mit Autorenporträts und Kritiken über Wasser. Sporadische Kontakte zur Literaturszene, zu William Michael Rossetti, James Anthony Froude, Madox Brown, Ford Hueffer, George Meredith ergeben sich und schlafen fast sämtlich wieder ein. Die kommentarlos übersprungenen Tage in Thomsons ansonsten penibel geführtem Tagebuch — sichere Indizien alkoholischen Kontrollverlusts — werden häufiger, die Zeitspannen vor dem zittrigen Wiedereinsetzen der Notate immer größer.
Er überwirft sich mit dem Freidenkerpapst Charles Bradlaugh, der ihn mehr als zwei Jahrzehnte lang unterstützt hatte, schreibt jetzt für Cape's Tobacco Plant, die literarisch drapierte Werbebroschüre einer Liverpooler Tabakhandlung.
1880 gelingt es seinem späteren Biographen Bertram Dobell endlich, einen Verleger für Thomsons ersten Gedichtband The City of Dreadful Night and Other Poems zu finden, der sich zur Überraschung aller Beteiligten so gut verkauft, daß der Verlag eine weitere Gedichtauswahl und ein paar Monate später auch noch die Essays and Phantasies nachschiebt. Für den Autor aber spielt dieser immer noch überaus begrenzte Erfolg schon keine Rolle mehr.
Die Wirklichkeit dringt nur noch bruchstückhaft zu ihm, in Wahrnehmungs- und Erinnerungsfetzen, die immer kleiner werden wie eine hartnäckig wieder und wieder zerrissene Buchseite.
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Die Kinder des Zimmervermieters, die ihn entsetzt anstarren, ihm dann die Eingangstür vor der Nase zuschlagen und ihrem Vater melden: »Draußen steht Mr. Thomsons böser Bruder.« Die aufeinandergepreßten Lippen Percy Holyoakes, der ihm die flachen Brandyflaschen aus den Rocktaschen zieht. — Der Entschuldigungsbrief an die Barrs in Leicester, die das Menschenmögliche versucht hatten: »...wenigstens meine Geldschulden zu tilgen, denn all die anderen Wohltaten kann ich ohnehin niemals wiedergutmachen. Wenn mir die Rückzahlung nicht gelingt, was sehr wahrscheinlich ist, liefert mir das nur den schlagenden Beweis für etwas, das ich schon lange glaube, daß ich nämlich tot für mich selbst und für meine Umwelt weitaus erträglicher bin als lebendig.« — Das Betteln um Geld. — Die vierzehn Tage Gefängnis. — Die erbärmliche Stadtstreicherei, in die die innere Unbehaustheit eines ganzen Lebens einmündet und in der sie sich wie bei Poe, wie bei Nikolaus Lenau noch einmal zu einer fleischgewordenen Metapher verdichtet.
Am 1. Juni 1882 läßt der blinde Dichter Philipp Bourke Marston einen zerlumpten Bekannten in seine Wohnung. Die Wut des Nachtstadt-Dichters, »die manchmal kalt und roh aufsteigt / und an der alten Wahrheit sich vergreift / sie nackt und welk und ohne Flitter zeigt«, verkehrt sich dort in das blinde Wüten eines Delirium-tremens-Opfers. Erst ein Blutsturz macht dem Veitstanz ein Ende. Man schafft Thomson in das nahegelegene University College Hospital. Am folgenden Tag ist er wieder bei Sinnen und erklärt, er werde das Krankenhaus innerhalb der nächsten drei Tage verlassen, wenn es sein müsse, in einem Sarg. Er hält Wort. Am 3. Juni setzt man seine sterblichen Überreste in Highgate bei. Die Bestattungskosten begleicht sein Verleger im Vorgriff auf den zu erwartenden Honoraranteil aus dem Verkauf seiner Bücher.
Thomsons melancholische Revolte gegen die erfolgreiche Zurichtung von Welt, jene uns erst heute wieder fragwürdig werdende Zwangsvorstellung des Projekts Moderne, war schon deshalb radikaler als die zeitgenössische Querköpfigkeit etwa eines Ruskin oder Pater, weil sie keine Differenzierung zwischen künstlerischer und existentieller Beglaubigung zuließ.
So kommt es, daß man das Szenario seiner letzten Jahre schon in dem 1867/68 entstandenen Gedicht »In der Kammer« nachlesen kann. Dieser Text ist eine Art Nachruf auf einen Lohnschreiber, dessen Welt längst schon auf sein Zimmer und die sich darin abspulenden Routinen der Vergeblichkeit zusammengeschrumpft ist.
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Er ist toll,
ein Wurm in seiner Bücherwelt,
der nichts tut außer schreiben, lesen
und eine Pfeife raucht, die stinkt,so die Erinnerung eines <Hinterbliebenen>, bei dem es sich allerdings nicht um einen Menschen, sondern um ein Ding handelt. Im ganzen Gedicht redet nämlich ausschließlich das spärliche Mobiliar, während der Gegenstand der Unterhaltung nicht nur seine Menschenwürde, sondern auch die ontische Dignität des Brauchbaren verloren hat:
Der Rest liegt niedrig und versunken
in der Verwesung Friedensreich,
hat seinen Kelch ganz ausgetrunken,
nutzlos und nicht mal Möbeln gleich.Diese auf den ersten Blick bizarre und märchenhafte Verkehrung, die es dem Unbelebten erlaubt, sich mitzuteilen, und dafür der Krone der Schöpfung jedes Mitspracherecht raubt, ist bei Thomson weit mehr als eine literarische Spielerei. Sie verdeutlicht vielmehr die kompromißlose Abwendung von theozentrischen und anthropozentrischen Sichtweisen, wie er sie bis zu seinem 30. Lebensjahr kultiviert hatte.
Thomson war ein ausgesprochener Spätentwickler und wäre über eine epigonale Produktion wohl kaum hinausgelangt, hätte er nach seiner unehrenhaften Entlassung aus der Armee nicht im Haus Charles Bradlaughs und damit in der intellektuell stimulierenden Umgebung Londons Zuflucht gefunden. Insbesondere der damals in Freidenkerkreisen mit lebhafter Anteilnahme verfolgte Ausbau der Evolutionstheorie vermittelte ihm entscheidende Impulse, wenngleich die ästhetischen Implikationen des Darwinismus sicher keinem seiner Propagandisten bewußt waren.
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Trotzdem steckten in den streitbaren Publikationen etwa eines T. H. Huxley, der sich nicht von ungefähr <die Bulldogge Darwins> nannte, auch künstlerischer Sprengstoff und eine Produktivkraft, von der nicht zuletzt die »scientific romances« seines späteren Schülers H.G. Wells Zeugnis ablegen. Schon 1863 nämlich hatte Huxley in <Evidence as to Man's Place in Nature> zu einem Standortwechsel aufgerufen und dabei im Dienste wissenschaftlichen Objektivität paradoxerweise an die Phantasie appelliert:
Versuchen wir für einen Augenblick, unser denkfähiges Ich von der Maske der Humanität zu befreien. Stellen wir uns vor, wir seien Wissenschaftler vom Saturn... und schon ziemlich vertraut mit allen tierischen Erdbewohnern.
Wie Wells hat auch Thomson dieses Programm nicht forschungspraktisch umgesetzt, sondern literarisch transformiert, indem er den Anthropozentrismus des Frühwerks durch eine anthropofugale Dezentrierung ersetzte. Deren kategorischer Imperativ hieß nicht mehr Humanismus und Empathie, sondern — wissenschaftsanalog — Einübung des unverwandten Blicks, der Abstandnahme und eines kognitiven Befremdens.
Die von Huxley geforderte Demaskierung verstand Thomson als Absage an metaphysischen Mummenschanz, an Nabelschau, Auserwähltheitsdenken und Heilserwartung. Deshalb war es nur konsequent, daß er zunächst in zwei fulminanten Satiren gegen die groteske Aufblähung des Menschen zum Ebenbild und Ansprechpartner Gottes zu Felde zog. Er durchbricht dabei bewußt das Erzählmonopol der Religion und schreibt mit der »Geschichte eines altehrwürdigen jüdischen Unternehmens« die Entstehungsgeschichte des Christentums zur Konzernchronik um:
Die Geschäftszentrale wurde von Jerusalem nach Rom verlegt, Zweigstellen nach und nach in allen Städten und Dörfern Europas eröffnet, darüber hinaus auch viele in Asien und Afrika, später dann auch in Amerika und Australien. ... Der neue, unverwechselbare und nützlichste Artikel im Warenangebot des Unternehmens war ein Brot, das ... Brot des Lebens genannt wurde. Der Werbeprospekt ... erklärt, daß das Haus Jah, Sohn und Co. im Alleinbesitz derjenigen Gebiete ist, in denen das Getreide zur Herstellung des Brotes gedeiht, daß es weiterhin allein über patentierte Mühlen und Backöfen verfügt und daß niemand sonst das Geheimnis zur Gewinnung der Teigmasse kennt.
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In »Heiligabend in höheren Kreisen«, das unschwer als Vorlage für Oskar Panizzas Liebeskonzil gedient haben könnte, steht dem Leser dann sogar der Himmel offen. Die Eingangsszene präsentiert Gottvater, der »mißmutig an seinen Lacrimae Christi nippte«, denn mit den Familienbanden steht es nicht zum besten:
Während er so dasaß, klopfte es höflich an der Tür ... »Sieh an, mein Junge«, sagte der alte Herr, »du scheinst diese bitteren Zeiten ganz gut zu überstehen. Du kommst, um meinen Segen zur Feier deines Geburtstages zu erbitten?« -- »Ich fürchte, es geht Euch nicht gut, mein geliebter Vater; aber laßt Euch nicht entmutigen. Siehe, einst lebte ein Mann -« -- »O, zum Teufel mit deinen Gleichnissen! Traktiere deine Jünger damit, diese pausenlos grienenden, singenden und dich lobpreisenden Dummköpfe.«
Aber die Borniertheiten und der Eigendünkel, die eine unverstellte Weltwahrnehmung blockieren, gedeihen keineswegs nur im religiösen Kontext. Thomson, der inzwischen Leopardi rezipiert hat, erkennt dieselbe Verblendung bald auch in einem säkularen Alltagsbewußtsein, das von der prinzipiellen Machbarkeit des Glücks überzeugt ist. Die Indignation des doppelt Enttäuschten macht sich erneut satirisch Luft, wobei schon der Titel »Vorschläge zur umgehenden Vertilgung allen Übels und Elends« auf die gallige Patentlösung anspielt, die Jonathan Swift zur Sanierung irischer Verhältnisse anzubieten hatte.
Thomson nimmt in den »Vorschlägen« zunächst ironisch Anstoß an der mangelhaften Paßgenauigkeit von Mensch und Welt, an einer Natur, die den Wunschvorstellungen des Gattungsnarzißmus hohnspricht:
Die Tiere, die sie hervorbringt,... sind oft häßlich, abstoßend, wild und von einem ungeheuerlichen Appetit geplagt, der sich nur dadurch befriedigen läßt, daß sie ihre Mitgeschöpfe verschlingen. Fast alle von ihnen sind selbstsüchtig und sittenlos, und die wenigen, die als Menschenfreunde gelten können (wie zum Beispiel alte Löwen, Tiger, Wölfe, Haie, Geier sowie andere liebliche und gefiederte Aasfresser) erweisen sich fast als so unangenehm wie unsere arteigenen Philanthropen selbst.
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Um hier Abhilfe zu schaffen, schlägt der Sprecher die Gründung einer »Allgemeinen Vervollkommnungsgesellschaft mit beschränkter Haftung« vor, die endlich Ernst macht mit der Selbsteinschätzung des Menschen als Kopf und Krone der Schöpfung und der Natur für den Fall fortgesetzter Obstruktion die Enthauptung durch »sofortigen kollektiven Selbstmord« androht. Ein Fehlschlagen dieser Erpressung gilt dem Pläneschmied für völlig ausgeschlossen, aber selbst wenn das Unmögliche eintrete, so seine tröstliche Auskunft, sei die wahrgemachte Drohung immer noch mit Abstand die beste Lösung, da sie »für die Menschheit ungleich segensreichere Folgen hätte« als jede andere Alternative.
Daß dem heutigen Leser eine derartige <Abschreckungsdoktrin> samt Auslöschungsoption vertraut vorkommt, zeugt nicht von hellseherischen Gaben des Autors, sondern lediglich von der Unbeirrbarkeit jenes sich aufschaukelnden neuzeitlichen Bemächtigungsdenkens, das Thomson in seinen »Vorschlägen« karikiert. Die Halluzination, Mitglied einer weltumspannenden »Vervollkommnungsgesellschaft« zu sein und an der Installation eines Paradieses der Machbarkeiten mitzuwirken, ist schließlich immer noch Kernstück der Ideologie der Industriegesellschaft, und Thomsons Persiflage kulminiert in einem Aberwitz, der ohne Frage mehr mit den >Steuerimpulsen< unserer Zivilisation zu tun hat, als uns lieb sein kann.
Keine vierhundert Jahre nach den Verheißungen Francis Bacons sind seine Erben an einem Punkt angekommen, an dem deutlich wird, daß sich eine Gattung auch durch ihre Erfolge, durch das Wahrwerden von Utopien zugrunde richten kann. Der Schaden, den das, was gut für uns ist, irgendwo anders anrichtet, holt den Verursacher ein.
Das ist die Lektion, die wir zu lernen haben, und wir werden sie nur begreifen, wenn wir uns zumindest imaginativ auf den Standpunkt dieses anderen stellen können. Dazu ist die Entwicklung eines Blickwinkels erforderlich, der ohne humanistische Selbstverliebtheit auskommt und ein Dislozieren, Demaskieren, Entthronen sowie die versöhnliche Wiederannäherung an die Zivilisationstabus des Mißlingens und Scheiterns einschließt.
Thomson hat bei der Ausbildung dieser anthropofugalen Perspektive literarisch Pionierarbeit geleistet, und das ist um so bemerkenswerter, als es ohne ein phantasiegestütztes Absehenkönnen von sich selbst, heute keine Science-Fiction, keine Ökologiedebatte, keine philosophische Dekonstruktion selbstherrlicher Weltdeutungsmuster gäbe. Und natürlich gäbe es auch den harschen Trost der Melancholie nicht, die aus der babylonischen Gefangenschaft in der Aufklärung zurückkehrt und uns als schöne Kunst der Kopfhängerei über die Runden unserer Vergeblichkeiten hilft.
Die entscheidende Rahmenbedingung alles Vitalen, so ihre Botschaft, ist ein großes, ein kosmisches Umsonst. Vor ihm wird Papier zu Asche, werden Menschen zu Fußnoten und Metropolen zu einer einzigen Nekropolis, die nur noch die angstfreie Resignation — »Wo Hoffnung fehlt, packt uns kein Graus« — zu durchstreifen wagt.
James Thomson war ein solcher Totenstadtstreicher und -erkunder, der es in extremis ausgehalten und literarisch Bericht erstattet hat. Wer wissen will, was hinter den Schlagbäumen der Zuversicht vorgeht, darf sich diesen Nachtwandler getrost zum Führer wählen.
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Ende
Ansichten vom Großen Umsonst Essays 1984-1990 - Urich Horstmann