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Teil 3: Zukunftsmentalitäten — Das geistige Rüstzeug des Wandels


3.1  Warum ich Optimist geworden bin 

Die Überwindung des Alarmismus und der Abschied vom Weltuntergangsdenken 


   Auf den Trümmern des Jahrhunderts  

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An einem schönen, warmen Sommertag des Jahres 1995 stand ich an einer Stelle, deren Panorama von einem berühmten Maler des 18. Jahrhunderts festgehalten worden ist. Vor mir lag die Stadt Pirna an der Elbe, südöstlich von Dresden, eine mittelalterliche Altstadt, überwölbt von einer mächtigen, vielgliedrigen Burg, dem Sonnenstein. Im Vordergrund eine elegant geschwungene, massive Brücke, die heute immer noch aussieht wie vor 250 Jahren. Nur die sozialistischen Plattenbauten am Horizont wollten nicht recht in das Bild passen.

Ich stand am Ufer des Flusses auf einem kleinen Grundstück von kaum fünfzig mal fünfzig Metern, das von mannshohen Brennesseln zugewuchert war. Ein seit dem Krieg verkommenes Trümmergrundstück, dessen Besitztitel nach dem Fall der Mauer an meine Familie zurückgefallen war. Kein großer materieller Wert, aber ein Terrain undeutlicher, indirekter Erinnerung. Unter diesen Trümmern waren im letzten Bombenangriff, im Februar 1945, meine Großeltern väterlicherseits ums Leben gekommen. Mein Großvater starb auf der Stelle durch die Fliegerbombe, die das kleine, wilhelminische Einfamilienhaus durchschlug, meine Großmutter überlebte drei Tage, weil sie unter den Trümmern über dem Hausbrunnen zu liegen kam, dessen Sauerstoffvorrat ihr Luft zum Atmen gab, und Suchmannschaften sie schließlich fanden.

Mein Vater, der sich halbverhungert und mit Frostbeulen an den Beinen von der Ostfront nach Hause durchgeschlagen hatte, fand sie in ihren letzten Atemzügen im örtlichen Krankenhaus, dem das Wesentliche ausgegangen war. Er beerdigte sie und meinen Großvater, indem er die Leichen in provisorischen Holzkisten auf einem Schlitten in den nahe gelegenen Wald karrte und sie dort, so gut es bei dem gefrorenen Boden eben ging, verscharrte.

Da ich 1955 (im Westen) geboren bin, kenne ich diese Geschichte nur aus Erzählungen. Wer weiß, wieviel Übertreibung hinzugefügt worden ist. Aber hier war er, der Kellereingang, dessen Umrisse man noch deutlich ausmachen konnte. Die Heimat meiner Familie. Ich sah im Geiste erneut meinen Vater vor mir, wie er, dünn und ausgemergelt, mit dem Schlitten und den selbstgezimmerten Särgen den bewaldeten Hügel auf der anderen Seite der Elbe emporkeuchte. Und plötzlich wurde mir alles klar und verstehbar: die Art und Weise, mit der er zäh und aggressiv die Normalität, die Ordnung, die Tugenden der Wirtschaftswunderjahre, gegen jeden meiner Angriffe und Rebellionen verteidigt hatte. Das gewalttätige Schweigen, mit dem er auf meine (unsere) Aufforderungen reagierte, endlich "nicht mehr zu verdrängen". Und auch jenes heilige, aber zutiefst selbstgerechte Eiferertum meiner Generation. Alles ans Licht zu zerren, was unsere Vorfahren verdrängen, verstecken, vergessen wollten, bekam noch einmal eine klare, schmerzliche Tiefe.

  Die Schrecken des 21. Jahrhunderts  

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Katastrophen, der Weltkriege, unsagbarer Schlächtereien und auch einer ungeheuren technischen und zivilisatorischen Beschleunigung. "Es ist eine Tatsache", schreibt Eric Hobsbawn in "Das Zeitalter der Extreme", "daß während des kurzen 20sten Jahrhunderts (er datiert es von 1914-1989) mehr Menschen umgekommen sind oder auf Bestimmung und mit Erlaubnis Menschen gemordet wurden als jemals zuvor in der Geschichte. Eine neuere Schätzung der "Megatode" dieses Jahrhunderts beläuft sich auf 187 Millionen, was mehr als einem von zehn Menschen der gesamten Weltbevölkerung von 1900 entspricht. Die meisten von ihnen waren größer, schwerer und besser ernährt und wurden weitaus älter als ihre Eltern... Die Welt war ungleich reicher als jemals zuvor..."


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Menschheitsgeschichte wird auch in der kommenden Epoche nicht gerade mit Harfen und Schalmeien ausgetragen werden, soviel ist gewiß. Wenn wir auch wenige "events" des kommenden Jahrhunderts voraussagen können — Meteoriteneinschläge, Erdbeben, Dürreperioden, Landungen von Außerirdischen entziehen sich unserem prophetischen Sensorium —, stehen doch einige Parameter heute schon unverrückbar fest. Im 21. Jahrhundert erreicht die Spezies homo sapiens ihren zahlenmäßigen Spitzenwert. Eine neue Runde von Industrialisierung wird zwei Milliarden Menschen des fernöstlichen Raumes in den nächsten zwei Jahrzehnten in unsere technische Zivilisation katapultieren. Grundressourcen wie Öl oder andere Rohstoffe werden Mitte des kommenden Jahrhunderts allmählich knapp. Die internationale Konkurrenz spült unsere alten, europäischen Privilegien davon. Ökologische Grenzen rücken näher. Das "Schicksal der Menschheit" erfüllt sich im kommenden Jahrhundert — so hätte man es wahrscheinlich 1899 ausgedrückt. 

Kein Wunder, daß viele Menschen mit dieser Zukunft am liebsten nichts zu tun haben wollen. Planetare Hungersnöte, die Rückkehr alter und neuer Seuchen, Kriege und Massaker, die — zum erstenmal in der Geschichte — auch mit Atomwaffen ausgetragen werden könnten, Terrorismus vollkommen neuer Qualität, das Schreckensarsenal des Kommenden scheint unbegrenzt. Ganz zu schweigen von den moralischethischen Problemen, die auf die Menschheit zukommen, angesichts gentechnologischer Durchbrüche, dem technischen Zugriff auf die menschliche Keimbahn oder teuersten Technologien der Lebensverlängerung. Wie kann man angesichts solcher Aussichten gelassen bleiben, ohne den zentralen Frevel der "Verdrängung", und der "Verharmlosung" — die deutsche Todsünden also — zu begehen? 

Ich habe in diesem Buch versucht, die inneren Mechanismen zu erläutern, die Gesellschaften zukunftsfähig machen können oder sie an Herausforderungen scheitern lassen. Zu dieser Abwägung gehört auch die Sichtung der rational nicht ins letzte vermittelbaren Haltungen zur Welt.


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Alle Anstrengungen des Denkens, der Aufklärung und Vernunft enden, wenn wir uns selbst aufgeben. Wenn wir nur die (unbestreitbaren) Risiken sehen, werden wir scheitern. Wenn wir im Innersten nur Pessimisten sind, werden wir alle zusammen letzten Endes das erzeugen, was wir befürchten. So einfach - und so schwierig - ist das.

 

  Die panische Gesellschaft  

Ich gehöre zu einer Generation, die dazu neigte, jede Katastrophenversion auf ihren inneren Leinwänden durchzuspielen und nach außen zu projizieren. Der "neue Faschismus", an den wir in den frühen 70er Jahren glaubten, der "stumme Frühling", das Ende der Natur durch die Umweltkrise, der globale Nuklearkrieg, das Terrorregime des allwissenden Großen Bruders, der Verlust des Menschlichen im Konsumterror: keinen Alarm, den wir ausgelassen hätten, keine Klaviatur der Ängste, auf der wir nicht gespielt hätten. 

Spiegelverkehrt zu den diversen Apokalypsen haben wir eine lange Geschichte der Utopien hinter uns: einen irgendwie sanfteren Sozialismus, die fröhliche Revolte, die friedfertige, authentische Welt der Indianer, die Totalautonomie der Frauen, der Frieden als Weltprinzip, die gute Natur; nichts war sicher vor unserem Sinnhunger, unserem Drang zur Bildung moralischer Imperative. 

Eine der ersten alternativen Zeitschriften, die ich Anfang der 70er Jahre in Kneipen verteilte, hieß "Wir wollen Alles". Ein vielsagender Titel. Und in der Tat: So wenig haben wir gar nicht bekommen. Unsere Generation war alles andere als das, was sie immer von sich behauptete: ohnmächtig. 

Im Unterschied zu unserer Väter- und Großvätergeneration, deren Sinnsuche mörderisch für alle Beteiligten wurde und nur durch eine Weltkoalition aller Angegriffenen beendet werden konnte, hatten wir scheinbar das Glück, daß unser Idealismus niemals "die Macht ergriff". Wirklich? 


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In den späten 80er und frühen 90er Jahren konnten diejenigen von uns, die genügend Distanz zur eigenen Geschichte hatten (und sich nicht in irgendeinem Ideologismus festgefressen hatten), mit Staunen erleben, wie unsere Ängste gleichsam über Nacht in den breiten Strom der Gesellschaft einsickerten. Innerhalb weniger Jahre waren die Untergangsgesänge common sense. Fernsehfeatures warnten vor der "Gier der Zivilisation" und der totalen Verwüstung der Natur. 50jährige Lehrerinnen beschworen ihre Angst vor dem "atomaren Holocaust" in der Talk-Show.

Ganz normale Bürger nahmen plötzlich bereitwillig und reumütig die angebotenen Ablaßrituale an, sie sortierten Müll, sparten Benzin, hatten zumindest ein schlechtes Umweltgewissen. Und bald war kein Skatabend, keine Abendesseneinladung mehr, bei der nicht, melancholisch und besessen, über den Niedergang der Natur/der Moral/des Echten geklagt — und gegen die Technokraten, die Naturausbeuter, die völlig unfähigen Politiker gewettert worden wäre. 

Bekanntlich ist nichts verunsichernder als der Erfolg. Niemand war perplexer über diesen kollektiven Sinnenwandel, der aus den fortschrittsbesessenen Nachkriegsdeutschen Zauderer und Skeptiker machte, als wir selber, die Träger der Zivilisationskritik, die auf den Wellen der Individualisierung und des Protestes geschwommen waren und nun plötzlich das Gefühl hatten, allerorten offene Türen einzurennen. Plötzlich begannen unsere Eltern mit Selbstverwirklichungsprozessen, ließen sich mit 55 scheiden, fuhren auf die Bahamas und propagierten neue Werte. Spätestens nach dem Atomunfall von Tschernobyl geriet die öffentliche Stimmung endgültig auf die abschüssige Bahn. Zumindest in Deutschland wurde der allgemeine Zukunftshorror, der Alarmismus, von einer Angelegenheit der Alternativ- und Studentenkulturen zu einem Mittelschichtsphänomen. Nach 25 Jahren ununterbrochenen ökonomischen Wachstums nahm die Gesellschaft bereitwillig die Position eines Fatalismus ein, nach dem alles eigentlich immer nur schlechter werden kann. 


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Neue Kerne dieser Welthaltungen entstanden: bei Damengruppen zwischen 50 und 60, die plötzlich in der evangelischen Akademie Kurse zum "spirituellen Singen zum Naturerhalt" veranstalteten. Oder beim Stammtisch nebenan, der nun nicht mehr gegen das "langhaarige Gesocks" wetterte (uns), sondern gegen die "korrupten Säcke oben in der Regierung". In jeder Schule, in jedem Unterricht, wurde nun das Bild der dräuenden Gefahren vermittelt. Und wenn man in den frühen 90ern x-beliebige Kinder Bilder über die Zukunft malen ließ, kamen radioaktive Wüsten, Technikmonster und Überwachungsapparate dabei heraus.
So hatten wir es eigentlich gewünscht. Aber so war es uns auch nicht recht.

   Die Psychologie des Alarmismus   

Für einen kleinen Teil meiner Generation (die von den anderen mehr oder minder offen als Verräter beschimpft wurden) begann ein mühsames und bisweilen schmerzhaftes Umdenken, ein innerer Revisionsprozeß. In unseren ersten Midlife-Krisen stießen wir schnell darauf, daß sich ein politisch psychologisches Drama in unserer Generation abgespielt hatte. Es hatte, natürlich, mit unseren Vätern zu tun, mit dem Trauma der unverarbeiteten Geschichte des Faschismus und des Massenmordes. Wir standen unter der panischen Angst, die Fehler unserer Eltern- und Großelterngeneration um keinen Preis zu wiederholen. Wir wollten warnen, weil wir es zwanghaft mußten. Der Alarmismus war für uns zur Norm geworden, zur Obsession, zur fixen Idee, weil wir damit die Geschichte ungeschehen machen wollten.

Vorsichtig arbeiteten wir uns an schmerzhafte Selbsterkenntnisse heran. Vielleicht war das, was wir so bitter bekämpft hatten — "das System", "die Gesellschaft", "der Kapitalismus" —, doch lernfähiger, flexibler, anders geworden, als wir es in unseren holzschnittartigen Schlachtengemälden vorgestellt hatten. 


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War aus der "präfaschistischen", "kalten" und "brutal verdrängerischen" bundesrepublikanischen Kultur nicht etwas hervorgegangen, was wir zaghaft Ende der 80er Jahre "zivile Gesellschaft" zu nennen uns trauten? Hatten wir — welch grauenhafte Vorstellung — womöglich von diesem erbitterten Generationskampf am Ende profitiert, indem uns Institutionen und Posten offenstanden, die wir nun für die Jüngeren blockierten? Waren wir womöglich ganz nebenbei auch so etwas wie Erfüllungsgehilfen eines gesellschaftlichen Prozesses gewesen, den wir überhaupt nicht wirklich verstanden hatten – einer Modernisierungs- und Individualisierungswelle, der wir mit unserem Protest, unserem renitenten Hedonismus, erst die Bahn bereitet hatten? 

Eine ganze Armada von alternden Zivilisationskritikern machte es sich in öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bequem und bediente sich frohgemut derselben Instrumente, deren volksverdummende Wirkung sie noch wenige Jahre zuvor radikal kritisiert hatten. Die "Achtundsechziger" bauten ihre Machtpositionen in den Redaktionen, Schulen, Erwachsenenbildungsanstalten und sonstigen Bastionen des Multiplikatorentums aus, um — gutbezahlt und abgesichert — weiter ihre melancholisch-dissidenten Welthaltungen zu predigen.

Es wurde plötzlich klar, daß auch die Sozialkritik zum Konformismus taugte. Hervorragend sogar! Auch das Mahnen und Warnen konnte zum Besitzstand verkommen. Und manchem dämmerte auch, daß der Alarmismus am Ende genau das Gegenteil von dem zu erreichen drohte, was er wollte: Abstumpfung statt Wachsamkeit.

  "Endismus" als Zeitgeist  

Natürlich ist "Endismus" kein Privileg des deutschsprachigen Raumes. Spätestens seit Fukuyamas "Das Ende der Geschichte" blüht im gesamten westlichen Kulturraum eine Endewelle ohne Ende. Hier die zehn wichtigsten Neuerscheinungen auf dem weltweiten Buchmarkt im Jahre 1996:


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Kenichi Ohmae: The End of the Nation State 
— Jeremy Rifkin: The End of Work
— David Carson: The End of Print
— Dinesh D'Souza: The End of Racism
— Peter Noever: The End of Architecture
— George Brockway: The End of Economic Man
— Damian Thompson: The End of Time
— Jean Gimpel: The End of the Future
— John Leslie: The End of the World
— Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man

Es ist kein Zufall, daß unter den Autoren kein einziger weiblicher Name zu finden ist. In der Annahme, eine menschliche Institution wie die Familie, etwas Universelles wie "Arbeit", "Architektur" oder gar "Geschichte" könnte einfach enden, liegt eine Hybris, eine Selbstüberhebung, die besser zum männlichen Geschlecht paßt. 

Es gibt in der Geschichte praktisch keine Situation, in der etwas "endet". Selbst grandiose Untergänge wie die des aztekischen oder tausendjährigen Reiches sind lediglich Metamorphosen, Umwandlungen. Im Gefüge der Welt geht nichts verloren. Kulturelle, zivilisatorische Konstrukte sind unglaublich zäh. Gehen sie unter, findet man ihre Muster, ihre Inhalte, in neuer und anderer Gestalt wieder.

Das jüdische Volk hat zahlreiche Ausrottungsversuche seiner Feinde überlebt — von seiten der Babylonier, der Perser, der Römer, der Kreuzzugsfanatiker, der Spanier, des untergehenden Zarismus, von Hitlerdeutschland und in der jüngsten Gegenwart der abwechselnden Koalitionen verschiedener arabischer Staaten.

Die Griechen haben zwei große Eroberungen überstanden. Nach der römischen stiegen sie zur führenden Kulturnation des Imperium Romanum auf und führten es nach dem Niedergang Westroms in griechischer Regie im Byzantinischen Reich 1000 lange Jahre fort. Nach dessen Eroberung durch die Türken wurden sie bald zur führenden Wirtschafts- und Kulturmacht des Osmanischen Reiches — und erst ihre fixe Idee, einen eigenen kleinen Nationalstaat wiedergründen zu wollen, verhinderte möglicherweise die Wiederholung der Erfolgsgeschichte im Imperium Romanum. 


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Chinesen, Russen und Inder haben den Mongolensturm überlebt und ihre Eroberer kultiviert und aufgesogen. Ein von seinen mächtigen Nachbarn stets unterdrücktes und ausgebeutetes Land wie Korea hat sich in vier Jahrzehnten zu einer dynamischen Industriemacht entwickelt, deren Konzerne heute Niederlassungen auf europäischem Boden gründen. 

Gesellschaftliche Gebilde können über ungeheure Energien in ihrem Inneren verfügen, die, ähnlich den Kräften, die die Atome zusammenhalten, immer wieder, trotz Krisen und Brüchen, das Überleben sichern. Ohne diese Zähigkeit wäre die Geschichte in der Tat nichts anderes als ein ewiges Hauen und Stechen und "Enden" gewesen. Mit anderen Worten: Sie hätte nicht stattgefunden.

Vielleicht entdeckt man in jedem "Endisten" ein Quantum Größenwahnsinn — nur im umgekehrten Sinne. "Der Mensch", so heißt es in seinem Bekenntnis, "ist dabei, die Natur zu vernichten." Oder: "Unsere Zivilisation ist dabei, die Menschheit zu exterminieren, auszulöschen." Was verbirgt sich hinter solchen Formeln? Negative Hybris. Eine ins Negative gewendete Omnipotenzphantasie. In der Theologie des Mittelalters diejenige der Todsünden, die nicht vergeben werden kann.

   Das Märchen vom besonders gefährlichen Moment  

Aber, höre ich den Pessimisten in mir sagen, leben wir nicht doch in einer Zeit, in der sich alles gleichzeitig zuspitzt, von der Generationsfrage bis zum Ozonloch, von der Automatisierung der materiellen Produktion bis zum Bevölkerungswachstum? Ist die Menschheit nicht zum erstenmal tatsächlich in der Lage, sich selbst auszurotten — und rechtfertigt, ja erzwingt dies nicht allemal die alarmistische Ausrufung des Ausnahmezustands?


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Einem Bewohner Mitteleuropas, der vor, sagen wir, 500 Jahren lebte, wäre diese These so unverständlich wie unsinnig gewesen. Er war bedroht von einer Vielzahl "Apokalypsen" in der genauen Bedeutung dieses Wortes. Pestilenz, Krieg, Feuer, Naturkatastrophen, früher Tod, all das waren totale und allgegenwärtige Bedrohungen, die nicht nur ihn, sondern auch seine Sippe, Familie und Stadt, sprich: seine Welt komplett ausrotten konnten. Darin liegt einer der Gründe für die Macht der Kirche, man kann es noch in den kunstgeschichtlichen Hinterlassenschaften der damaligen Zeit nachvollziehen.

Es war der Kampf gegen die alltäglichen Apokalypsen, der den Aufstieg der westlichen Kulturvariante so beschleunigte. Selbst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als die Lebenserwartung stieg und der Industrialismus langsam einen breiteren Wohlstand erzeugte, blieb der einzelne anfällig für alltägliche Krankheiten, die ihn jederzeit umbringen konnten. Die Tuberkulose war eine tödliche Massenkrankheit, ebenso wie die Syphilis oder die heutigen gebändigten "Kinderkrankheiten". An einem scheinbar harmlosen Grippevirus starben noch im Jahre 1918 weltweit 20 Millionen Menschen — so viele, wie der Zweite Weltkrieg tötete. (Welches Gefahrenpotential in solchen Epidemien auch heute noch lauert, demonstriert die Grippewelle, die Anfang der achtziger Jahre die britischen Inseln heimsuchte. Sie forderte 20.000 [!] Todesopfer.)

Natürlich verzeichnet die alarmistische Bilanz solche "unscheinbaren" Katastrophen nicht — weil es in ihr Bild eines herausragenden historischen Ausnahmezustandes nicht passen will. Die Wahrnehmung, daß immer die Katastrophen und Bedrohungen der Gegenwart die schlimmsten sind, entspricht einem tiefgreifenden Bedürfnis der menschlichen Psyche. Es entlastet und erhöht zugleich: Wir, ausgerechnet wir, erleben die große Zeitenwende! Aber kaum etwas davon hält genauerer Betrachtung stand. Die "verheerenden Hurrikane" der Neuzeit sind deshalb so verheerend, weil das


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Hab und Gut, das sie zerstören, einen ungleich größeren Wert darstellt als noch, sagen wir, 1950. In einer Zeit, wo die elektronischen Medien alle Nachrichten sofort zu Einschaltquoten, Thesen und Titelstories verdichten, wird jede kleine oder vermeintliche Abweichung von einer angenommenen Norm zum "größten Unfall seit" oder zur "extremsten Flut seit". Dabei wird mit Zahlen, Daten und Statistiken Medienmagie betrieben. Die Folge können wir in jener "Immermehr"-Epidemie bewundern, mit der wir jeden Tag davon überzeugt werden sollen, wie unerhört einmalig unsere Zeit/ dieses Ereignis/ dieser Trend/ dieses Phänomen doch ist.

   Das Märchen vom schlimmen Wetter    

Jede Zeit hat ihr ganz spezifisches Trauma, das ihre Katastrophen formt. Erdbeben wirken heute so biblisch-zerstörerisch, weil sie in der Psyche des vermeintlich die Natur beherrschenden Menschen eine besondere narzißtische Verletzung auslösen: Sie gehören zu den wenigen Naturkräften, die wir nach wie vor nicht kontrollieren, noch nicht einmal prognostizieren können. Selbst, wenn sie heute ungleich weniger Tote als früher fordern (die wirklich verheerenden Erdbeben finden in Regionen statt, in denen die Bauweise noch primitiv ist), scheinen sie hervorragend als "Warnung der Natur" geeignet. Deshalb ist es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis eine ökologische Erklärung für Erdbeben gefunden wird — die menschliche Psyche kann es schwer verkraften, überhaupt keinen Einfluß auf etwas zu haben.

Nach demselben Prinzip der negativen Selbsterhöhung gerät der kühle Sommer / der kalte Winter / der verregnete Frühling / der frühe Frost / zu einem breit inszenierten Medienspektakel. Es muß Gründe haben, daß das Wetter unsere Bedürfnisse nach langen, warmen Sommern nicht befriedigen will, und diese Gründe müssen mit uns selbst zu tun haben. 


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Also findet sich sofort ein Bergbauer / Meterologe / Schamane / Wissenschaftler, der vor laufenden Kameras beteuert, daß es einen solchen Winter niemals seit fünftausend Jahren gegeben hat (dabei würde ein Blick in die Bauernchronik einer x-beliebigen dörflichen Gemeinde genügen: da wimmelt es überall seit Jahrhunderten nur so von verheerenden Hagelschlägen, Schnee im Juni und Wintern, in denen die Raben erfroren vom Himmel fielen).

Der kälteste Tag seit 1678. Der wärmste Sommer seit Menschengedenken. Sintflutregen über Bangladesh — es ist nicht mehr Gott, der straft, jetzt sind wir es selbst, unsere verderbten "Lebensgewohnheiten". Unbill wird narzißtisch gewendet. Der mittelalterliche Mensch, schicksalsergeben und gottesfürchtig, sah Zeichen und Strafen am Himmel aufziehen, der moderne Mensch tut dies ebenfalls — er ist beleidigt, wenn sie sich seinem Zugriff entziehen.

Dieser umgedrehte Anthropozentrismus, nach dem "der Mensch", bitteschön, für alles verantwortlich zu sein hat, wenigstens im Schlechten, hat, nebenbei, einen wundersam entlastenden Effekt. Wo "die Menschheit" als Ganzes zuständig für alle Übel ist, ist der einzelne freigesprochen. Urbane Gerüchte wie "Hautkrebs kommt vom Ozonloch" dokumentieren diesen Aspekt. Natürlich ist die Zunahme der Hautkrebsrate nicht auf das Ozonloch, sondern auf das veränderte, unvernünftige Sonnenbadeverhalten — und letztendlich das Aufkommen hedonistischer Körperkultur — in den 60er und 70er Jahren zurückführbar (Hautkrebs benötigt zu seiner Entwicklung 20 Jahre). Aber das mögen wir nicht gerne hören. Also ist Ozonloch gleich Hautkrebs.

Die Kultur interpretiert ihre momentanen Sehnsüchte und Ängste, ihre Schuldgefühle und Defizite in die Erklärungsmuster der Welt hinein. Sie filtert Informationen aus, die dem gewünschten Ergebnis widersprechen. Mit anderen Worten: Sie projiziert. Das sollten wir zumindest wissen, wenn wir über die realen Bedrohungen sprechen, die im nächsten Jahrhundert auf uns zukommen.


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Meteorologen sind sich über Ursache und Umfang des Abkühlungstrends der Erde uneins... Sie sind jedoch fast einhellig der Meinung, daß der Trend die landwirtschaftliche Produktivität für den Rest des Jahrhunderts beeinflussen wird. (Peter Gwynne, Newsweek, 28.4.1975)

Die Abkühlung hat jetzt schon Hunderttausende von Menschen in armen Ländern getötet... Wenn keine energischen Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wird die Abkühlung weltweit zu Hunger führen, zu Chaos und wahrscheinlich einem Weltkrieg, und all das könnte sich schon um das Jahr 2000 ereignen. (Lowell Ponte, "The Cooling", 1976)

Die fortgesetzte rapide Abkühlung der Erde seit dem Zweiten Weltkrieg paßt auch zu der weltweiten Zunahme der Luftverschmutzung, die mit der Industrialisierung, Mechanisierung, Urbanisierung und einer explodierenden Bevölkerung einhergeht. (Reid Gibson, Global Ecology, 1971)

Ist der Mensch gar nicht schuld am Treibhausseffekt? Wissenschaftler haben jetzt vergilbte Aufzeichnungen der Sternwarte aus der alten nordirischen Königsstadt Armagh entdeckt. Ergebnis: Nicht Brennstoffe aus den Fossilrückständen sind für die Erwärmung der Erdatmosphäre verantwortlich, sondern Sonnenflecken. Wären Treibhausgase verantwortlich, dann hätte sich ein mehr oder weniger anhaltender Temperaturanstieg ergeben müssen, während die Sonnenfleckentheorie die Schwankungen erklärt. (Kleine Meldung im Hamburger Abendblatt, Sommer 1996)
Flecken im Watt vermutlich durch Algen verursacht — Hamburg (dpa): Wochenlang bedeckten "Schwarze Flecken" das deutsche Wattenmeer. 


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Tausende von Krebsen, Würmern und Muscheln verendeten... Das Bundesamt für Hydrographie führt die Flecken jetzt auf das explosionsartige Auftreten einer einheimischen Kieselalge aufgrund des langen kalten Winters zurück. Schwarze Flecken wurden bereits in den 30er Jahren nach starken Eiswintern von Büsumer Fischern entdeckt. Heute wie damals entstanden sie durch überschüssige, abgestorbene Biomasse.

Das Märchen von der ständig zunehmenden Geschwindigkeit

Ein weiteres alarmistisches Gerücht, das sich derzeit geradezu epidemisch ausbreitet, läßt sich in dem knappen Satz "Alles wird immer schneller" zusammenfassen. Diese Formel erzeugt einen veritablen Dauerstreß und begründet in den meisten Fällen, warum man nicht weiter und genauer hinschauen muß. Denn morgen, sehr verehrtes Publikum, ist dieser Trend/dieses Produkt/das Phänomen, von dem die Rede ist, ja sowieso schon wieder vorbei! Wozu also die Mühe?

In der Tat kann der unvoreingenommene Beobachter sich des Eindrucks steigender Akzeleration nicht entziehen. Jedes Jahr kommt ein Computerchip mit doppelt so hoher Verarbeitungsgeschwindigkeit auf den Markt. Jedes Jahr erhöht sich die Anzahl der Fernsehkanäle, die Schnittfolgen der Videoclips, die Angebote der Reisebüros, der Müslisorten, der Frauenmagazine. Jedes Jahr werden allein in Deutschland 5476 neue Patente angemeldet, erscheinen 17.890 Doktorarbeiten. Wer soll sich da noch auskennen?

Ich bestreite nicht, daß sich die Informationsdichte unserer modernen Zivilisation erhöht, daß der Komplexitätsdruck für den einzelnen steigt. Aber ist dies gleichbedeutend mit "höhere Geschwindigkeit"? Kann man die Geschwindigkeit, mit der Gesellschaften, Kulturen in ihrer Evolution voranschreiten, beliebig steigern? Bedeutet höhere Taktrate auch höher Umsatzgeschwindigkeit von realen Informationen? Oder bedeutet es vielleicht einfach nur: mehr Datenmüll, mehr Unsinn, mehr Erschöpfung, mehr Quantität!


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Unter den Internetpraktikern gibt es wenige Euphoriker. Sie leiden ständig unter einer quälend langsamen achso modernen Technologie. WWW (World Wide Web) heißt bei ihnen längst: "Warten, Warten, Warten." Und aus der großen Datenautobahn, von der ahnungslose Politiker schwärmen, ist bei ihnen zynisch: "Der große Datenstau" geworden. Wer jemals mit Kindern zappend durch 25 Kanäle gezogen ist, weiß, wie schnell man es "draufhat", Informationen auszublenden und so zu filtern, wie es gerade für das Hirn noch erträglich ist. Je mehr es etwa zu lernen gibt — "Schnell, schnell! Das Wissen der Menschheit verfällt inzwischen alle zehn Monate!" —, desto träger werden die Bewegungen der rauchenden Gymnasiasten auf dem Schulhof. Je schneller neue High-Tech-Gerätefolgen auf den Markt geworfen werden — Digital remote control — reziproker Geschwindigkeitsadapter — sound-to-sense-Schnittstelle —, desto unwilliger und entnervter blättert der Kunde in den Gebrauchsanleitungen, desto trotteliger stellt er sich an.

Die menschliche Konstitution bringt bestimmte Formen von Limitierungen mit sich. Zeitforscher sprechen heute von einem Energiequantum, das jedes Lebewesen in einer Art innerer Uhr gespeichert hat, und über das es im Laufe seines Lebens verfügen kann. Wer schneller lebt, lebt eben kürzer. Oder: Wer mehr Energiequantum verbraucht, muß hinterher durch Langsamkeit ausgleichen.

Offensichtlich kann man bestimmte Naturkonstanten nicht überlisten, auch nicht in der Zukunft. Außerdem ist die These von der ständigen Akzeleration auch durch Fakten nicht beweisbar. Die Zuwachsraten des Bruttosozialproduktes in der westlichen Welt waren vor zwanzig Jahren weitaus höher als in unserer Epoche. Nun muß "Bruttosozialprodukt" nicht unbedingt gleich "Geschwindigkeit" sein, es ist aber recht wahrscheinlich, daß beschleunigter Wandel eher in ökonomisch vitalen Zeiten stattfindet.


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Der "Erfindungsquotient", mit dem in der OECD die Anzahl der zum Patent angemeldeten Erfindungen gemessen wird, stieg von 5,1 Patenten pro 10000 Einwohner im Jahre 1984 moderat auf 5,5 im Jahre 1994 (in der EU von 2,2 auf 2,5)1.

Wir neigen umgekehrt dazu, dynamische Veränderungen in früheren Zeiten massiv unterzubewerten. Die letzte Jahrhundertwende brachte in rascher Abfolge Auto, Flugzeug und Telefon hervor. Der Beginn des industriellen Zeitalters brachte für die Landbevölkerung (Mitte des 19. Jahrhunderts waren noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung Europas Bauern) gigantische Veränderungen innerhalb von zwei Generationen mit sich. Bislang war noch jede Technologie zunächst eine Zumutung — und wahrscheinlich haben schon bei der Einführung von Pflug und Spinnrad die meisten Zeitgenossen die Ansicht vertreten, daß "diese Technik den Menschen endgültig überfordern wird". 

Wir leben also immer schon in einer Welt, die sich für uns immer schneller verändert — und in Wirklichkeit verändert sie sich nach den immergleichen Rhythmen und Gesetzen. Kein Wunder, daß wir — als Kultur und als Individuen — auf vielfältige Art und Weise auf die Bremse treten. Meist ist es weniger bewußter politischer oder zivilisationskritischer Widerstand, sondern ganz profan: Vergeßlichkeit, Unmut, Langeweile, Genervtheit, technisches Ungeschick, die Beharrung auf alten, überkommenen Gewohnheiten. Sie sind verläßliche Wächter eines Prozesses von Selbstregulation, der uns die Sicherheit gibt, daß Geschwindigkeiten nicht bis zum Irrwitz steigerbar sind. So gesehen erfüllt der Geschwindigkeits-Alarmismus eine wichtige Bremsfunktion. Er sorgt für die richtige mittlere Geschwindigkeit des Wandels.

1)  Siehe auch: "Ever accelerating Hype" in PROSPECT, April 1997


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    Das Märchen vom "entfesselten Kapitalismus"    

Ein weiteres storytelling unserer Zeit bezieht sich auf das Ende des Kommunismus als Startschuß für eine Phase, in der die entfesselten ökonomischen Gesetze gnadenlos auf dem ganzen Planeten, bis in die feinsten Verästelungen unseres Alltagslebens, durchgesetzt werden. Turbokapitalismus, der endgültige Sieg des Dollarzeichens, die totale Kommerzialisierung des Lebens sind die Stichworte.

Zunächst hat auch dieser Diskurs allerlei für sich. In den letzten Jahren können wir alle spüren, wie "das Ökonomische" auf das Zentrum unserer Gesellschaft zurückt — dorthin, wo früher eher "das Politische" angesiedelt war. Wirtschaftliche Diskurse, die vorher eher am Rande der Gesellschaft stattfanden, sind zu Leitdiskursen geworden. Der einzelne spürt Druck — auf seine Lebenswelt, seinen Beruf, seine Souveränität. Er muß sich anders, neu, vermarkten. Er muß sich auseinandersetzen mit Kräften, die ihm vorher von einem feinabgestimmten System aus Privilegien, Institutionen und schützenden Vorurteilen vom Leib gehalten wurden.

Die Frage, die sich hier zuallererst stellt, lautet: Ist das so schlecht? Ich habe in diesem Buch gezeigt, wie die Spaltung zwischen der Sphäre des Normativen und des Ökonomischen immer wieder zu falschen, oft fatalen Reflexen führt. Antiökonomische Haltungen erzeugen auf die Dauer Systeme, die weder überlebensfähig noch "elegant" im Sinne des Komplexen sind. Ökonomischer Druck hingegen kann durchaus "vernünftig" sein — auch im Sinne von Ökologie, Lebensqualität und kultureller Integrität.

Wer weiß, was das, was er produziert und leistet, "wert ist" (eine ökonomische Kategorie), dessen Stolz gründet auf ein besseres Fundament als der, dessen Existenz von einer staatlichen Instanz abhängt. Auch deshalb sind marktwirtschaftliche Systeme "reifer" als subventionistische. Tut es der guten Sache einen Abbruch, wenn sie sich in ihrer Effektivität messen lassen muß? Ist Greenpeace weniger moralisch, weil seine Funktionäre sich Effektivitätskriterien stellen? 


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Eine andere Frage ist, ob ein Zustand, den man "Kapitalismus pur" nennen kann, überhaupt jemals herzustellen ist. Die Mär von der Totalisierung des kapitalistischen Prinzips korrespondiert in der Regel mit der Annahme, daß eine kleine Elite böser Superminds einem anonymen Heer von Opfern gegenübersteht, die ihre eigenen Rechte und Bedürfnisse nicht artikulieren können. Diese kollektive Entmündigung geht elegant über die millionenfache Emanzipation der Menschen hinweg; als gäbe es keine Autonomie, kein Selbstbewußtsein, keine Widerstandstradition. Zum drückenden Steuersystem gehört aber schon immer der Steuerbetrug, zum Geschmacksdiktat das Rolexgoldkettchen, zum "Formieren" der Gesellschaft gesellt sich mit unausweichlicher Zwangsläufigkeit die Schlampigkeit, der Zerfall, die Dekadenz, aber auch den Eigensinn.

Nach einer Umfrage der Zeitschrift US WORLD AND NEWS REPORT vom Sommer 1996 haben über 50 Prozent der Amerikaner in den letzten fünf Jahren Entscheidungen getroffen, die zu weniger Geld, aber mehr freier Zeit für die Familie oder andere menschliche Belange führten. Der Moloch Ökonomie mag existieren, aber er zeugt auf breiter Front Widerspruch: Offline-Lebensformen, Verherrlichungen der Langsamkeit, Dysfunktionalitäten durch Technikverweigerung, Abseitigkeiten, die sich nicht vermarkten lassen. Gegentrends eben, die am Ende jede ökonomische "Totalmobilisierung" verhindern.

 

Das Märchen von der "Bevölkerungsexplosion"

Fast alle Theorien des Alarmismus basieren auf Zahlenmagie. Das Stakkato der Prozentzahlen verwirrt den Geist und macht die Seele konfus. Um die "Bevölkerungsexplosion" zum Megagerücht zu machen, wurde in den Medien ganze Arbeit geleistet. 


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Ende der 60er Jahre begann der weltberühmte Schwarzmaler Paul Ehrlich davon zu bestsellern, Ende der 80er Jahre ging eine Welle von Artikeln durch die Zeitungen, in denen die "Bevölkerungsbombe" in alle Hirne getrommelt wurde. Die berühmte steil aufsteigende Bevölkerungskurve sprengte mit schöner Regelmäßigkeit den rechten Heftrand von STERN, SPIEGEL und ZEIT. Seitdem steht in der öffentlichen Meinung fest, daß die Menschheit sich wie eine Kaninchenpopulation verhält oder wie ein Stamm Fruchtfliegen, und daß diese unverantwortliche, aber offensichtlich nicht vermeidbare Aufführung der Welt den Garaus machen wird – und Mitschuld tragen nicht zuletzt der Papst, Kardinal Ratzinger und der fundamentalistische Islam.

Ich möchte an dieser Stelle nicht auf den xenophobischen und rassistischen Hintergrund solcher Ängste eingehen, die diese Phantasie speisen. Ein simples Studium der aktuellen UNO-Zahlen über die Weltbevölkerungsentwicklung könnte uns eines Besseren belehren.

Die Kurve mit den kleinen Kreisen repräsentiert die klassische alarmistische Kurve — hier wurden einfach die Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre (die vor allem auf dem Steigen der Lebenserwartung und der besseren medizinischen Versorgung in der Dritten Welt basierten) in die Zukunft verlängert. Doch schon in den 80ern wurden die Statistiker gezwungen, eine zweite Graphik anzufertigen, die "mittlere Projektion". Diese beruht auf der Tatsache, daß der dramatische Fall der Fertilitätsraten selbst in Ländern wie Indien oder Bangladesch oder China (60 Prozent allein von 1970 bis 1990) auf die Zukunft nicht ohne Auswirkungen bleibt.

Doch auch diese Variante ist nach den neuesten Berechnungen noch unwahrscheinlich, weil sie einige entscheidende Gesetze komplexer Gesellschaftsdynamik nicht einbezieht, wie etwa den "demographischen Sprung". 


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In Schwellenländern, die sich anschicken, echte Industrieländer zu werden, knickt die Geburtenrate in kürzester Zeit steil ab — auf einer gewissen Ebene des Wohlstandes wird Nachkommenschaft anders bewertet. Gerade die volkreichsten Staaten der Erde, die Schwellenländer des fernöstlichen Raumes, befinden sich heute kurz vor diesem oder bereits jenseits dieses Punktes.

Der "Bevölkerungspeak" der Menschheit wird ungefähr im Jahre 2040 bei um die 8 Milliarden Menschen liegen — weniger als 3 Milliarden Menschen mehr, als heute auf unserem Planeten leben. Danach ist es wahrscheinlich, daß unsere Spezies zügig an Zahl abnimmt. Die Produktivitätssteigerungen der Agrarkultur weisen derzeit eher auf gewaltige Überschüsse der Landwirtschaft denn auf Mangel. Die Vermehrung unserer Spezies bedeutet daher keineswegs das Ende der Welt.

Das Märchen von den finalen Seuchen 

Eine der aktuellsten alarmistischen Glaubenssysteme rankt sich um die Tatsache, daß es uns trotz der Erfindung von so mächtigen Waffen wie Penicillin nicht gelungen ist, unsere mikroskopischen Widergänger, die Viren und Bakterien, aus der biologischen Evolution zu entfernen. Neue Resistenzen entstehen, das Imperium der Mikroben schlägt zurück. Die damit verbundene "Demütigung" verbinden wir im öffentlichen Diskurs schnurstracks mit einer scheinbar diabolischen neuen Technologie: Der Gentechnik. 

Die Agenda dieser Variante des Untergangs, in aufwendigen Hollywoodstreifen zu besichtigen, geht etwa so: Früher oder später wird ein Superkillerorganismus aus einem Labor ausbrechen und die Menschheit ausrotten.

Der Seuchenalarmismus hat nur einen Nachteil: Er ist völlig unbefleckt von Kenntnissen über biologische und genetische Grundtatsachen.


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Nehmen wir etwa das Ebola-Virus, das sich so wunderbar für diese Gruselgeschichten eignet. Ebola ist alt, sehr alt. Jüngste Forschungen ergaben, daß das Virus bereits bei den alten Griechen mehr als 300 000 Menschen tötete. Im alten Sparta brach vor 2400 Jahren eine Epidemie aus, die von dem Schriftsteller Thukydides exakt beschrieben wurde und dem typischen Ebola-Verlauf ähnelte — Übelkeit, Schluckauf, Durchfall, Blasen an den Händen, Tod innerhalb einer Woche. Überträger war damals wie heute die Grüne Meerkatze — bei den Spartanern kommt sie auf vielen Fresken als Haustier vor.

Der Grund dafür, daß dieses Virus die Menschheit bis heute noch nicht ausgerottet hat — und daß der "Outbreak" nie stattfinden wird —, liegt in einer evolutionären Eigenart des Virus und der Struktur der ganzen Evolution begründet. Ebola ist, in der Tat, ein Killervirus, aber gerade das macht diesen Organismus absurderweise für unsere Spezies insgesamt ungefährlich.

Ebola tötet binnen weniger Tage, sogar Stunden, seinen Wirtskörper. Und damit natürlich, wenn kein Infektionskontakt stattgefunden hat, sich selbst. Eine Ausbreitung über den ganzen Planeten könnte nur dann stattfinden, wenn ein ununterbrochener Staffelkontakt von Todkranken mit gesunden potentiellen Trägern stattfinden würde. Selbst, wenn die Menschheit über Nacht aufgrund einer Totalamnesie alles vergessen würde, was sie über Septik und Hygiene wüßte, wäre sie äußerst unwahrscheinlich. 

Ebola ist ein nicht sehr intelligenter Nischenbewohner, ein Ausnahmeorganismus, wie er in der biologischen Evolution immer wieder vorkommt, aber keine große Rolle spielt: Empfindlich, aggressiv, ständig vom Aussterben bedroht, kann eine solche DNA nur durch raffinierte Überwinterungstechniken überleben. Ganz anders als etwa der Aidsvirus, der zehn Jahre Inkubationszeit hat, sein Opfer nur langsam tötet und bei seiner Verbreitung auf ein bestimmtes Sexualverhalten angewiesen ist, verfügt Ebola evolutionstheoretisch gesprochen über eine sehr geringe Intelligenz. Dazu hat Aids noch einen anderen Lernprozeß durchgemacht: Es ist hochgradig mutagen, es wechselt seine Gestalt.


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Ich höre schon den finalen Einwand: Warum sollte nicht eines Tages ein Aids- oder Schnupfenvirus mit der Virulenz eines Ebola das Licht der Welt erblicken? Wann kommt die Variante von Aids, mit der wir uns beim Niesen anstecken können? Womöglich wird dieses Monster in einem Genlabor ausgebrütet! Von Wissenschaftlern, die alle Alarmsysteme ausschalten, weil sie geldgierig sind oder unbedingt den Nobelpreis wollen!

Alle Experimente mit "Rekombinationen" in Genlabors haben bis heute immer wieder die Grenzen der biologischen Wirkmechanismen klargemacht — noch niemals konnte die Wissenschaft sie ernsthaft überschreiten. Manche "Schalter" in den Cencodes wollen einfach nicht zusammenpassen — es ist, als ob die Natur bestimmte Kombinationen einfach nicht zuläßt. Zwar gelingt es, Tomaten genetisch so zu kreuzen, daß optimale Eigenschaften entstehen — siehe flavour savour —, aber schon in dem Moment, wo man die Tomate — ein Nachtschattengewächs — mit ihrem Artverwandten, der Kartoffel, kreuzt, bekommt man "Tomoffeln", die so klein und verkrüppelt bleiben, so daß es bei weitem sinnvoller ist, beide Spezies separat anzubauen. Noch schlimmer ist die Überlebensbilanz bei "Ziegenschweinen" oder noch monströseren Kombinationen: Keine der derart erzeugten Kreaturen war bislang mehr als ein paar traurige Tage überlebensfähig.

Am Ende gibt es fundamentale Gründe, die mit evolutionärer Ökologie zu tun haben, so Stephen Budiansky, senior writer bei US NEWS &i WORLD REPORT, die die Sage von der kommenden Superseuche widerlegen. Die Ambition eines Virus oder Bakteriums, seine "Lebensaufgabe" ist es, möglichst viele Menschen zu infizieren. Ein Virus, der leicht durch die Luft reist und so tödlich ist, daß er seine Wirtskörper daran hindert, noch einen Schritt vor den anderen zu tun, ist kein besonders an die Evolution angepaßter Organismus.


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Die Genetik ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie große Komplexitäten sich innerhalb klarer systemischer Regeln selbst regeln. Da ihre Wirkweise auf einigen äußerst sinnvollen und rigiden Regeln beruhen, "verbieten" sich Eingriffe, die diese Regeln ad absurdum führen wollen, von selbst. Der Schuß geht immer nach hinten los. Mit Milliardenaufwand wird etwa die Züchtung pestizidresistenter Pflanzen betrieben — aber kaum sind diese Pflanzen ins Freiland entlassen, kreuzen sie sich mit entfernten Verwandten und verlieren ihre Eigenschaften, oder das Unkraut lernt innerhalb von zwei kurzen Generationen, wie es auch diesen Trick überlistet. Ein ewiger Wettlauf, bei dem am Ende immer nur eines siegt: das systemische Gleichgewicht.

Unserem Zauberlehrling, der plötzlich das Reagenzglas mit dem tödlichen Superorganismus fallenläßt — was für ein Ungeschick! —, würde wahrscheinlich etwas völlig anderes passieren, als Horror- und Monsterfilme erwarten lassen: Das entwichene Virus färbt vielleicht alle Blätter vorübergehend blau oder bringt alle Menschen mit Schäferhunden vorübergehend zum Lächeln oder hat sonstwie unerwartete Wirkungen. Und unser Dr. Frankenstein wird womöglich zwei Wochen später von einer in der Werkskantine eingefangenen Salmonellenvergiftung durch ungenügend gebratene Hühnerschenkel ins Jenseits befördert.

Spaß beiseite. Ich übersetze den Gedankengang in Leitsätze. Erstens: Die Schöpfung läßt sich nicht ins Handwerk pfuschen, selbst wenn wir es uns ernsthaft vornehmen. Wir können die Welt zwar (kurzfristig) manipulieren, aber nicht ihre Gesetze verändern — das ist ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Auch unsere Manipulationen sind Evolutionen, und sie unterliegen den Gesetzen der natürlichen Auslese.

Zweitens: Die alte Formel, nach der das, was passieren kann, auch passiert, ist zwar wahr, aber sinnlos. Das "Murphysche Gesetz" sagt mehr über Herrn Murphy aus als über die Welt, in der wir leben. Sie wird durch eine zweite Regel aufgehoben, deren erhabene Größe sie längst dem Volksmund zugängig gemacht hat: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.


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Die Faszination des Finalen 

Warum ist negative Zukunftserwartung so faszinierend, daß es ihr immer wieder gelingt, die wildesten Gerüchte zu moralischen Überzeugungen zu adeln? Ganz einfach: In einer Welt, die dem Einzelnen immer höhere Grade an Komplexität abverlangt, wirken alarmistische Formeln paradoxerweise beruhigend. Sie erzeugen Sinn und Ordnung. Dem Warner selbst geben sie das Gefühl, in jedem Fall recht zu haben — er kann ja nie verlieren (wenn seine düstere Prophezeiung nicht eintritt, hat er mit Erfolg gewarnt). Dem Gewarnten vermitteln sie vielerlei emotionale Qualitäten. Eine davon ist der Eindruck, in einer einmaligen Situation zu leben, einer privilegierten Epoche. Der zweite Aspekt ist die eigene Aufwertung. Wenn ich durch eine nur scheinbar kleine Sünde des falschen Handelns (Autofahren, Elektrosmog erzeugen, Joghurtbecher nicht sortieren) die Existenz des Planeten, womöglich gar der Schöpfung beenden kann, bin ich unendlich wichtig. 

Dieser Mechanismus ist in Deutschland besonders schwer zu durchdringen, weil der Alarmismus hierzulande einen raffinierten "Veredelungsprozeß" durchlaufen hat. Der Zeichner dunkler Bilder hat hierzulande immer recht, weil er durch die historischen Katastrophen gegen Einwände und Kritik immunisiert ist. Untergangsphantasien haben sozusagen einen Turboeffekt, weil sie durch Schuldsysteme aufgeladen sind. Dazu kommt, wie überall sonst auch, die simple Überbietungslogik der Medien. 


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Wir sollten der bitteren Wahrheit ins Auge sehen: Der Alarmismus ist eine Marktlücke wie jede andere. Seine "Wahrheiten" entstehen entlang der Nachfragelinien gesellschaftlicher Ängste. Seine Fakten bezieht er aus ebensolchen Informationsverbiegungen, wie sie stets den Betreibern von Kernkraftwerken oder Chemiekonzernen zugeschrieben werden. Alarmismus ist in unserer Gesellschaft ein neues Privileg; er konstituiert eine Kaste von Unberührbaren, von "Gutmenschen", von Gesinnungseliten. 

So, wie manche Ärzte Forschungsberichte fälschen, um an Forschungspfründen zu gelangen, erzeugt der Alarmismus einen ständigen Output an Kongressen, steuerlich geförderten Akademien, eine Ökologie der Spesen und der Subventionen. Allein die Klimaforschung ernährt in Deutschland Hunderte von Wissenschaftlern. Biologen untersuchen Wattwürmer auf Schadstoffe, Allergologen machen aufwendige Untersuchungen von Hausstaub. Dissertationen und Examensarbeiten, Fachbeitrage und Fernsehsendungen sind Teil eines Netzwerks, das längst ein ökonomischer Machtfaktor geworden ist. Womit kann man wirtschaftliche Interessen besser adeln als mit ökologischer Ethik und vitalen Menschheitsinteressen?

Das wäre alles weiter nicht schlimm, wenn das System der Mahner nicht irgendwann auch ins Pathologische umzukippen droht. In den letzten Jahren hat der Alarmismus in einigen Bereichen sein wahres Gesicht gezeigt: Er erzeugt im Namen des Kampfes gegen das Ungeheuerliche neue Ungeheuerlichkeiten. Die Kämpfer gegen den Kindesmißbrauch produzieren monströse Felder des Verdachtes, in denen die Kategorie der Wahrheit aufhört, zu existieren. Sie zerstören im Namen der Krankheit, die sie zu bekämpfen vorgeben, Existenzen.

Natürlich ahnt der Alarmist, daß irgend etwas mit seinen Hochrechnungen nicht stimmt. Bald ist es jedes dritte Kind, das in Deutschland von Onkeln und Vätern mißbraucht wird! Das Ozonloch reicht inzwischen schon bis Mailand! Um Entwarnungen (und damit "Verharmlosungen") zu vermeiden, muß er die Dosis seiner Angebote ständig erhöhen. Spätestens hier ähnelt der Handel mit den Botschaften des Untergangs dem internationalen Drogenmarkt: Die Abhängigkeit steigt, und irgendwann beginnt eine Art Beschaffungskriminalität in Form von verbogenen Fakten, falschen Verdächtigungen. 


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Das "McCarthy-Syndrom" der modernen Hexenjagd läßt Fischhändler plötzlich ins gesellschaftliche Abseits schliddern, weil ein TV-Magazin in bestimmten Fischzubereitungen kleine, unappetitliche, wenngleich ungefährliche Würmer entdeckt. Fleischesser werden in manchen alternativ-esoterischen Szenen schon als Unmenschen und Raucher als die Schuldigen an der Dauerpleite der Krankenkassen verdächtigt.

Bleibt das letzte Argument des Alarmismus: Übertreibung kann am Ende nicht schaden, weil sie zumindest die Aufmerksamkeit auf Probleme lenkt. Doch ab einem gewissen Grad — und diesen Zustand haben wir bei einigen Themen bereits erreicht — kippen die Warnungen in ihr Gegenteil um: Die Gesellschaft reagiert mit Apathie. Sie verliert ihre Abwehrkräfte. Sie streckt die Waffen. So bringt der Alarmist am Ende die Gesellschaft zum Schweigen. Sie verliert die vitalen Kräfte, mit der sie auf reale Bedrohungen reagieren und die notwendigen Wandlungsprozesse einleiten kann.

Das wäre dann der letzte, der "morphische" Triumph des Alarmisten. Denn soviel ist gewiß: Eine Gesellschaft, die die Hoffnung verliert, wird untergehen.

ZEIT: Herr Nellen, kann man ein Meer leerfischen?
Nellen: Das ist unmöglich. Der letzte Fisch wird nie gefangen. Das würde sich nicht lohnen. Wenn der Bestand unter eine bestimmte Menge gefallen ist, hören die Fischer automatisch auf. Es genügen relativ wenige Fische, um den Bestand wieder aufzubauen. In der Regel geht das schnell, da Fische sehr fruchtbar sind. Es ist Fischern noch nie gelungen, einen Bestand wirklich auszurotten.
ZEIT: Aber drastisch zu reduzieren.
Nellen: Ein Großteil der Bestandsschwankungen geht nicht von den Fischern aus. Oft sind es hydrologische Ursachen. Als der Kabeljaubestand in Ostgrönland zusammengebrochen ist, lag das an ungewöhnlichen Temperaturen. Fischerei ist produktionsbiologisch sogar günstig. Wenn nicht gefischt wird, gibt es nach einigen Jahren vor allem alte, dicke Fische, die nicht mehr wachsen. Die jungen, produktiven, haben dann weniger Chancen, sich zu entwickeln. Ein großer Kabeljau frißt einen kleinen Kabeljau. Wird gefischt, ist Platz für Nachwuchs, die Bestände wachsen und sind produktiver.

Aus einem Interview mit dem Meeresbiologen Walter Nellen in der ZEIT im Herbst 1995.


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Das Märchen von der besten aller Welten  

Ich möchte mich also zu einer allerletzten Ketzerei hinreißen lassen. Sie soll lediglich in Form eines kurzen Gedankenspiels stattfinden. Was wäre, lieber Leser — und ich bitte Sie, diesen Gedanken nur eine Sekunde zu prüfen —, wenn alles nicht immer schlechter, sondern im Gegenteil alles immer besser würde?

Man stelle sich vor:


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Wir sollten auch die starken Seiten der Natur zur Kenntnis nehmen und nicht immer nur ihre fragilen Aspekte. Zweifellos kann eine menschliche Entscheidung bedrohte Arten wie den Spix-Ara oder den Riesenpanda für immer auslöschen. Doch gleichzeitig müssen wir die wunderbaren vitalen Kräfte der Natur im Auge behalten... Weiterentwicklung erfolgt aus Ungleichgewicht. Eine ausgewogene Balance bedeutet Stagnation. Evolution benötigt jedoch Unausgewogenheit, braucht Dynamik, um voranzuschreiten und neue Lösungsstrategien hervorzubringen.

Michael Miersch und Dirk Maxeiner in "Öko-Optimismus"

Ich gebe zu: Ein solcher Optimismus ist schmerzhaft und skandalös. Er ist ein öffentliches Ärgernis. Wenn die Rede von der unablässig verarmenden Dritten Welt eine Mär ist, das Sterben der Arten eine falsche Behauptung, wenn die Klimakatastrophe alles andere als sicher ist — wo bleibt unsere Mission? Wo bleibt die Großartigkeit unserer Rettungsvorschläge? Wo bleiben die Wendepunkte, Paradigmenwechsel, revolutionären Kurswechsel, die wir seit Jahren und Jahrzehnten gepredigt / verlangt / propagiert / herbeigeschrieben haben?

Nichts ist schlimmer zu ertragen als jener Wechsel von einer Jugend voller Adrenalin, Übertreibung und Mission in die furchterregenden Ebenen der Normalität. Aber wie alles im Leben ist auch dies eine vorübergehende Talsenke. 

Jenseits der Desillusion wartet eine neue Erkenntnis, die durchaus "high" machen kann. Optimismus macht frei. Optimismus zwingt uns schlichtweg zurück in die Eigenverantwortung. Optimismus, der nicht blauäugig ist, heißt nämlich, daß wir akzeptieren, daß wir die Wahl haben. Wenn der Untergang nicht zwangsläufig ist, wenn das Benzin nicht ausgeht (oder wenn es ausgeht, wir einfach auf andere Energieträger umsteigen), wenn die Überbevölkerung nicht alle Probleme sowieso "löst", indem sie alles beendet, dann müssen wir mit der Welt, so, wie sie ist, irgendwie leben. Dann ist es unser verdammter Job, das Beste aus den Chancen zu machen und die Risiken umsichtig und kalten Blutes zu minimieren.

Die Zukunft wird so sein, wie wir sie jetzt, im Augenblick, sehen wollen, sagt Anatolij Kim in "Vor uns die Jahrtausendwende", oder es wird sie nicht geben, wenn wir uns sagen, daß es für uns keine Zukunft gibt ... Deshalb hängt unsere Zukunft von unserer höchsten Phantasie ab, von dem guten oder bösen Willen, davon, wie wir sie uns im Grunde unseres Herzens vorstellen wollen.

Im Grunde ist alles ganz einfach, und im Grunde hatte sie ganz recht, die gute Angela Davis, deren Plakat in meinem Jugendzimmer an der Wand hing: Either you are part of the problem or you are a part of the solution.

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