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1. Psychoanalyse im Wandel  

 

Von Wolfgang Mertens  

Beitrag aus Psychologie-heute 3/87; Wolfgang Mertens, Prof. Dr., lehrt Klinische Psychologie an der Universität München und ist praktizierender Psychoanalytiker und Lehranalytiker an der Akademie für Psychotherapie und Psychoanalyse in München.

 

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Die psychoanalytische Wissenschaft verfügt heute über eine Anzahl von Erkenntnissen über die Entwicklung seelischer Phänomene, die menschliche Persönlichkeit, klinische Zusammenhänge und über die Stellung des Menschen in seiner Umwelt und seiner Kultur. Obgleich damit ein breites und generalisier­bares Wissen über die Erscheinungsform, Psychodynamik und Verursachung einer bestimmten neurotischen Erlebnisweise, zum Beispiel der neurotischen Depression, vorliegt, geht es in der psychoanalytischen Therapie immer um die Erforschung einer einmaligen Lebens­geschichte eines bestimmten Menschen.

Theoretisches Wissen stellt somit immer nur einen gewissen Interpretationsleitfaden dar, der eine erste Annäherung an die verwirrende Vielfalt von Äußerungen, Mitteilungen und Einfällen eines Menschen, der sich einer psychoanalytischen Therapie unterzieht, gestattet. Erst der psychoanalytische Therapieprozeß ermöglicht es aufgrund ganz spezifischer Leistungen, die sowohl der Analytiker als auch der Patient erbringen, immer genauer zu verstehen, warum der betreffende Patient an dieser und keiner anderen Störung leidet. Um zu einem anderen Erleben zu gelangen, müssen Schritt für Schritt Erlebnis­zusammen­hänge bewußt gemacht werden, und der Patient muß bereit sein, sich auf die dabei entstehenden schmerzlichen, aber auch befreienden Affekte gefühlsmäßig einzulassen. Freud sah es als Ziel der Analyse an, daß der Patient wieder oder vielleicht erstmalig genuß-, arbeits- und liebesfähig wird, was nicht gleichbedeutend ist mit konfliktfrei.

In den über annähernd 100 Jahren ihres Bestehens befindet sich die Psychoanalyse sowohl als Theorie wie als Behandlungs­methode in einem stetigen Entwicklungs- und Wandlungsprozeß. Dabei wirken neue theoretische Erkenntnisse auf die Behandlungstechnik ein, wie auch umgekehrt Erfahrungen aus der praktischen Arbeit mit Patienten immer wieder Anlaß zu Ergänzungen, Erweiterungen und Veränderungen des psychoanalytischen Theoriegebäudes gaben.

Die Auffassung, daß neurotische Erscheinungen, wie zum Beispiel hysterische Symptome, durch "eingeklemmte Affekte" erklärt werden können, führte in der Frühzeit der Psychoanalyse zur sogenannten kathartischen Methode, bei der ein Patient in Hypnose zu "reinigenden" Erinnerungen angehalten wurde; war der traumatische Anlaß, der zum Einklemmen des Affektes führte, zunächst ein unspezifischer, so veränderte sich dies anhand der Hypothesen über die kindliche Sexualentwicklung; aus dem Trauma wurde nun ein spezifisches Sexualtrauma, das ein Kind aufgrund einer sexuellen Verführung durch einen Erwachsenen erlebt.

Die praktisch gewonnene Erfahrung aus der analytischen Arbeit, daß in der Rückerinnerung zwischen Phantasie und Realität nicht genau unterschieden werden kann, ließ Freud einige Jahre später von der sexuellen Verführungstheorie wieder Abstand nehmen. Statt dessen betonte er nun stärker die Bedeutsamkeit der psychischen Realität, die Rolle der Phantasie im Seelenleben anstelle der reinen Fakten, die zwar zweifelsohne ihre Spuren im Erleben eines jeden Menschen hinterlassen haben, aber niemals mehr genau zu rekonstruieren sind.

In den Mittelpunkt des praktischen psychoanalytischen Interesses rückte somit die Fragestellung, wie sich ein Kind seine Umwelt aneignet, mithin also auch die Wechselbeziehung zwischen Kind und Umwelt. 

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Für das therapeutische Vorgehen bedeutete das, daß nicht mehr nach einem einzelnen schädigenden Trauma gesucht wurde. Die Aufmerksamkeit galt nun nicht mehr Kausalfaktoren, sondern den Phantasien, Vorstellungen, Erinnerungen, die der Patient mit Hilfe der Methode der freien Assoziation schildert. Dabei hat der Psychoanalytiker die Aufgabe, aus den mehr oder weniger offenen und freimütigen Äußerungen allmählich ein Modell der bewußten und unbewußten Motive, Einstellungen und Handlungsintentionen des Analysanden zu entwerfen, um auf diese Weise bislang unerkannte Sinnzusammenhänge zwischen unbewußten Phänomenen und neurotischen Symptomen zu entdecken.

War die Psychoanalyse zu Beginn dieses Jahrhunderts eher mit triebmäßigen und affektiven Phänomenen befaßt, und standen dementsprechend Triebdeutungen im Vordergrund der analytischen Arbeit (zum Beispiel: "Sie versuchen in der Phantasie immer noch Ihren Vater umzubringen"), so veränderte sich dies wiederum mit der Erforschung kognitiver Ichleistungen, was auch zur genaueren Herausarbeitung bestimmter Abwehrmechanismen (wie Verleugnung, Projektion, Verdrängung, Rationalisierung) führte. Fortan galt es nun, sich zunächst einmal mit den verschiedenen Abwehroperationen eines Analysanden zu befassen, vor allem mit den Motiven für seine Abwehr. Die Beschäftigung mit der Abwehr führte zu der analytischen Technik der Widerstandsanalyse, die neben dem Umgang mit der Übertragung und Gegenübertragung noch immer zu den wichtigsten Bausteinen psychoanalytischer Behandlungstechnik gehört.

Mit der Berücksichtigung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen richtet die Psychoanalyse ihr Augenmerk betont auf die Beziehung zwischen Analytiker und Analysanden.

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Denn der psycho-analytische Therapeut achtet nicht nur darauf, was der Patient über gegenwärtige Konflikte, analysenexterne Themen und so weiter in seinen Äußerungen, Einfallen und Assoziationen sagt, sondern insbesondere versucht er, einfühlsam zu erfassen, wie sich allmählich zwischen ihm und dem Patienten eine Beziehung aufbaut; nahezu alle Themen, die Art und Weise, wie der Patient darüber spricht, und worüber er nicht spricht, haben mit der Beziehung zum Analytiker zu tun.

In der heutigen Psychoanalyse geht es also nicht mehr ausschließlich darum, Einsicht in längst vergangene, lebensgeschichtliche Konfliktzusammenhänge zu gewinnen, sondern zu einem Großteil um die Analyse des Beziehungsgeschehens im Hier und Jetzt der analytischen Sitzung, was die Psychoanalyse zu einem recht lebendigen Vorgang werden läßt. Beliebte Karikaturen der psychoanalytischen Therapie als bloße Vermittlung von Kenntnissen ("O.K, ich weiß jetzt, daß ich einen Ödipuskomplex habe, aber trotzdem habe ich meine Mutter immer noch abgöttisch lieb") beruhen deshalb weitgehend auf einem Mißverständnis oder der Unkenntnis darüber, wie Psychoanalyse als Therapie heutzutage gehandhabt wird.

Mit zu den spannendsten Revisionen der heutigen Psychoanalyse gehört die veränderte Auffassung über die Übertragung und die Gegenübertragung. Greenson hat in seinem grundlegenden und bekannten Lehrbuch die Übertragung noch als einen "Anachronismus, ein(en) Irrtum in der Zeit" definiert, als eine verzerrte, unangemessene Wahrnehmung des Analysanden, die der Psychoanalytiker, der sich in seinem Spiegelverhalten anonym und abstinent verhält, aufzuspüren hat, wobei ihm seine Gegenübertragung — als Pendant zur Übertragung des Patienten — zu Hilfe kommt. Diese Auffassung muß heute als eine a-soziale Konzeption zurückgewiesen werden.

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Die Vorstellung, daß sich der Psychoanalytiker als Spiegel zur Verfügung stellt und in sich den Übertragungs-Phantasien des Patienten nachspürt, beinhaltet zwar in Ansätzen eine Beziehungsdimension, die jedoch immer noch an einer Subjekt-Objekt-Spaltung objektivierender naturwissenschaftlicher Methodik orientiert war. Entsprechend dieser Auffassung entwickelt sich die Übertragung beim Patienten als innerpsychisches Geschehen weitgehend unbeeinflußt von der Persönlichkeit des Therapeuten. Diese Auffassung ist nun einem transaktionalen Verständnis gewichen, das sich beispielsweise mit Autoren wie Racker, Searles, Längs, Bauriedl, GUI und anderen verbindet. Der Analytiker ist jetzt keineswegs nur mehr der reflektierende Spiegel, sondern seine Person, seine Einstellungen, Konflikte und Übertragungen kovariieren mit den Erlebnisfiguren seines Patienten.

Diese transaktionale Konzeptualisierung des therapeutischen Prozeßgeschehens hat verschiedene Konsequenzen, von denen hier nur einige wenige angedeutet werden können: Wenn die Übertragung gleichsam eine Kompromißbildung aus vergangenen konflikthaften Eindrücken und den Eindrücken ist, die der Patient von seinem Analytiker im Hier und Jetzt der Beziehung erfahrt, dann kann der Ausgangspunkt der Deutung nicht mehr die Vergangenheit sein, sondern die Gegenwart.

Früher zum Beispiel galt es als Höhepunkt analytischer Deutungskunst, die Eltern hinter dem Analytiker zu entdecken, also etwa zu sagen: "Sie erleben mich als streng, so wie Sie Ihren Vater ja immer als streng erlebt haben; schauen wir uns deshalb Ihren Vater genauer an." Heute dagegen ist es eher das Ziel, den Analytiker hinter dem Vater zu entdecken. Spricht ein Patient zum Beispiel davon, wie selbstherrlich und arrogant er seinen Vater erlebt hat, so liegt es nahe, darin auch eine Anspielung auf den Analytiker zu sehen, was zu folgender Frage Anlaß geben kann: "Könnte es sein, daß Sie mich gelegentlich auch so erleben? Können wir uns näher anschauen, was im einzelnen bei Ihnen zu diesem Eindruck geführt hat?"

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Allzuhäufig wurde in der Vergangenheit der Patient nur mit seiner "Wahrnehmungsverzerrung" konfrontiert, die situativ zutreffende Wahrnehmung aber wurde nicht anerkannt. Da aber kein Analytiker in der Lage ist, die Auswirkungen seines eigenen Unbewußten gänzlich zu kontrollieren — und der schweigende Analytiker sagt manchmal vielleicht sogar mehr über sein Unbewußtes aus als der Analytiker, der interveniert — ist es plausibel, wenn man davon ausgeht, daß bestimmte Anteile der Wahrnehmung des Patienten, die Person des Analytikers betreffend, realistisch sind.

Forscht man nach, wie das aktuelle Urteil des Patienten zustandekommt, dann führt das meist von selbst zur Rekonstruktion vergangener Beziehungseindrücke. Wenn der Therapeut zugeben kann, daß er selbst auch auf den Patienten überträgt, dann läßt das den Übertragungs-Widerstand des Patienten gegen Null gehen und ist vielleicht selbst einer der wirksamsten therapeutischen Faktoren. Psychoanalyse wird damit zu einem Ringen um Wahrheit, wo nicht der eine immer schon alles besser weiß oder fühlt als der andere, sondern wo Analytiker und Patient gleichberechtigt in einen Diskurs treten und sich auf die Definition der Beziehungssituation gemeinsam immer wieder verständigen müssen.

Dabei darf man freilich nicht vergessen, daß Analytiker und Patient in der Regel unterschiedlich weit von bestimmten Konflikten entfernt sind, und daß die Kompetenz zu angemessenen Konfliktlösungen unterschiedlich ausgeprägt ist.

Weil das psychoanalytische Standardverfahren, die sogenannte klassische Psychoanalyse, die im Durchschnitt drei bis fünf Jahre dauert, ein zeitlich und ökonomisch aufwendiges Verfahren darstellt, gab es schon zu Freuds Lebzeiten Überlegungen, andere Behandlungsformen auszuarbeiten.

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Neben dem ökonomischen Argument spielten auch noch andere Faktoren eine wichtige Rolle; so stellte sich zum Beispiel heraus, daß es in manchen Fällen günstiger sein kann, die gesamte Familie zu therapieren, anstatt nur das zum Symptomträger erklärte Kind in die Therapie zu übernehmen. Heutzutage existieren neben der klassischen Psychoanalyse folgende Therapieformen: psychoanalytische Psychotherapie, psychoanalytische Kurztherapie, psychoanalytische Gruppentherapie sowie psychoanalytische Beratungsmethoden, psychoanalytische Kinder- und Jugendlichentherapie, psychoanalytische Familientherapie und psychoanalytische Paartherapie.

Davon sind die wichtigsten:

 

1. Klassische Psychoanalyse:

Dieses psychoanalytische Standardverfahren stellt als Forschungs- und Therapieinstrument immer noch eine wichtige Säule im Repertoire psychoanalytischer Behandlungsmethoden dar. Wegen seiner mehrjährigen Dauer und häufigen Sitzungen (vier Stunden pro Woche) ist das Standardverfahren vor allem bei schweren neurotischen Störungen angezeigt. Des weiteren muß sich jeder angehende Psychoanalytiker mit diesem Verfahren im Rahmen seiner eigenen Lehranalyse vertraut machen. Ziel des Standardverfahrens ist es, mit Hilfe der sich einstellenden Regression auf kindliche Beziehungsmuster und Erlebnismodalitäten vergangene, als traumatisch erfahrene Konflikte dem Bewußtsein und Erleben wieder zugänglich zu machen, um sie dann besser, der erwachsenen Person angemessen, lösen zu können. Dies gelingt weitgehend aufgrund der sich einstellenden Übertragungen und Übertragungsneurose sowie der damit korrespondierenden Gegenübertragungen auf Seiten des Analytikers, wobei viele Widerstände durchgearbeitet werden müssen, was einen Großteil der analytischen Arbeit ausmacht.

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2. Psychoanalytische Psychotherapie:

Bei dieser Behandlungsform, die sich äußerlich allein schon durch eine geringere Häufigkeit der Sitzungen (zwei oder drei pro Woche) und eine kürzere Behandlungsdauer (ein bis drei Jahre) gegenüber den Standardverfahren auszeichnet, ist das Therapieziel begrenzt. Dementsprechend wird auch nicht die Ausbildung einer Übertragungsneurose angestrebt, sondern lediglich die Aktivierung von Übertragungskonstellationen, mit deren Hilfe sich früher erworbene Beziehungsmuster durcharbeiten lassen, die für das gegenwärtige neurotische Erleben von zentraler Bedeutung sind. Da die Psychotherapie-Richtlinien eine Begrenzung der von den Kassen bezahlten Sitzungen auf 240 Stunden (in besonderen Fällen 300) vorsehen, ist dieses psychoanalytische Verfahren mit begrenztem Behandlungsziel die Methode der Wahl für viele Patienten, die sich nach Auslaufen der Kassenfinanzierung weitere psychotherapeutische Sitzungen finanziell nicht mehr leisten können. Gerade aus diesem Grund ist es wichtig, die therapeutische Vorgehensweise von Anfang an daraufhin abzustimmen.

Während in den Anfängen der Psychoanalyse die Indikation zur psychoanalytischen Behandlung auf Patienten mit hysterischen, zwangsneurotischen und phobischen Symptomen beschränkt war, hat sich dies in der Folgezeit verändert. Die Indikation wurde nach und nach auf Menschen zum Beispiel mit Charakterneurosen erweitert (hier stehen keine eindeutig definierbaren Symptome mehr im Vordergrund, sondern charakterliche Fehlhaltungen, wie zum Beispiel eine ständige Unzufriedenheit, Selbsthaß oder Rechthaberei), auf Psychosen (wie schizophrene Psychosen), auf psychosomatische Störungen (wie Asthma), auf Eßstörungen (wie Bulimie), auf schwere Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls (narzißtische Störungen) und auf Borderline-Störungen (schwere

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Beeinträchtigungen der Ich-Funktionen, was zum Beispiel zu vielen Verkennungen der Realität fuhrt), um nur die wichtigsten zu nennen. In die psychoanalytische Standardtherapie mußten dabei freilich auch Modifikationen eingeführt werden, um mit den krankheitsspezifischen Schwierigkeiten dieser Menschen angemessen umgehen zu können.

Es hat sich die Auffassung eingebürgert, daß für die Indikationsstellung nicht so sehr die diagnostischen Abgrenzungen wichtig sind (ein Patient mit einem neurotischen Symptom hat ohnedies häufig auch charakterstrukturelle Fehlhaltungen oder psychosomatische Symptome), sondern eher, welche verschiedenen Einstellungen der Patient zu seinem konflikthaften Erleben hat. Viele gutsituierte Mittel- und Oberschichtangehörige haben zum Beispiel die Einstellung "Wasch mich, aber mach mich nicht naß", das heißt, gib mir möglichst schnell einen Ratschlag, wie ich mein lästiges Symptom loswerde, aber erwarte nicht von mir, daß ich selbst aktiv mitarbeite. Diese Haltung ist dann viel eher ein Grund dafür, keine Psychoanalyse mit dem Betreffenden durchzuführen, als die zunächst hochmütig klingende Mitteilung eines narzißtisch gestörten Menschen, er habe aufgrund seiner umfangreichen Kenntnisse über Psychoanalyse zwar viel Skepsis gegenüber diesem Verfahren, aber für ihn sei die psychoanalytische Behandlung noch ein letzter Versuch, mit seinem unbefriedigenden Leben besser zu Rande zu kommen.

In den letzten Jahren hat sich das Konzept der "subjektiven Indikation" herausgebildet. Das heißt, daß es bei der Indikationsstellung, die in der Regel nach den Vorgesprächen erfolgt, nicht so sehr darauf ankommt, ob der betreffende Patient einen entsprechenden Leidensdruck hat, regressionsfähig ist, keine übertriebenen Heilungsansprüche hat und so weiter, sondern ob der Psychoanalytiker in sich das Gefühl verspürt, mit diesem Patienten eine gemeinsame gefühlsmäßige Erfahrung erleben zu können.

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Die Subjektivität des Psychoanalytikers wird damit als indikatorische Funktion thematisiert, was bedeutet, daß es nicht mehr so sehr um die Grenzen der Analysierbarkeit des Patienten geht, sondern um die Grenzen der Persönlichkeit des Analytikers.

Die Struktur der psychoanalytischen Situation ist dadurch gekennzeichnet, daß sich Analytiker und Patient zwischen zwei- und viermal die Woche zu festgesetzten Zeiten für etwa 50 Minuten treffen, in denen der Analytiker den freien Einfallen des Patienten mit einer gleichschwebenden, das heißt sich auf kein Detail übermäßig fixierenden, Aufmerksamkeit folgt. Gelegentlich stellt er eine klärende Frage, teilt eine Deutung mit und bemüht sich, eine Atmosphäre zu schaffen, die ein weitgehend freies und spontanes Assoziieren des Patienten ermöglicht.

Die Methode der freien Assoziation ist ein wesentlicher Bestandteil der psychoanalytischen Behandlungstechnik, und so einfach es einem zunächst erscheinen mag, alles zu sagen, was einem gerade an Vorstellungen, Phantasien, Empfindungen, Argumenten einfällt, so schwierig ist es dennoch, diese von alltäglicher Konversation und Kommunikation stark abweichende Redeform einzuhalten. Erst nach und nach wird ein Patient lernen, diese ungewohnte und neuartige Redeform ansatzweise zu praktizieren. Neuartig ist für ihn auch, daß die Gesprächsinitiative hauptsächlich bei ihm liegt, daß also nicht der Therapeut den aktiven Part beim Gespräch übernimmt.

Des weiteren gehört zum psychoanalytischen Standardverfahren, daß der Patient auf einer Couch liegt, während der Psychoanalytiker hinter ihm sitzt. Während im Alltag zumeist eine Face-to-face-lnteraktion gegeben ist, wo nonverbales Ausdrucksverhalten, wie zum Beispiel Mimik und Gestik, die verbale Kommunikation begleitet, wird dies im klassischen Setting aufgehoben.

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Dies führt auf seiten des Patienten zunächst zu einer Verunsicherung, da neben dem ausbleibenden verbalen Feedback nun auch noch die Gesprächskontrolle, zum Beispiel im Blickkontakt, entfällt. Beim Patienten kann das Bedürfnis entstehen, daß doch nun endlich der Analytiker etwas sagen, einen Kommentar abgeben, sein Einverständnis mit dem Geäußerten erklären oder eine Frage stellen soll.

Diese in der alltäglichen Gesprächssituation rechtmäßigen Erwartungen im Hin und Her von Sprechen und Zuhören, Fragenstellen und Antwortgeben, finden in der psychoanalytischen Situation keine Erfüllung. Deswegen ist es auch wichtig, daß anfänglich der Psychoanalytiker immer wieder daraufhinweist, daß diese Form des nicht-reziproken Dialogs eine sinnvolle und notwendige Voraussetzung für das Gelingen der psycho analytischen Therapie darstellt. So wird er etwa auf eine Frage des Patienten antworten, daß er diese im gewissen Umfang beantworten wird, daß es aber zunächst wichtig ist, etwas über die Motive des Patienten zu erfahren, die ihn zu dieser Frage bewegt haben. Diese Aufhebung konventioneller Gesprächsformen, die eine längere Einübungsphase erforderlich macht, wird aber nicht nur als belastend empfunden, sondern schrittweise auch als großes Privileg. Denn der Patient spürt auch, daß der Analytiker ihm aufmerksam zuhört, daß er auch scheinbar trivialen Einzelheiten sein Interesse widmet und ihm dabei viel Zeit gönnt.

Darüber hinaus enthält sich der Psychoanalytiker aller Wertungen, Zustimmungen oder Äußerungen, die im Alltagsgespräch oftmals ein Einverständnis signalisieren sollen, wo im Grunde Desinteresse für den Gesprächspartner vorliegt.

Das Ausbleiben zensierender Äußerungen verweist auf eine Empfehlung, die Freud an die Person des Analytikers gerichtet hat. Komplementär zur Grundregel der freien

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Assoziation verhält sich der Analytiker weitgehend abstinent in bezug auf Mitteilungen über seine eigene Person, eigene Probleme und Konflikte, des weiteren in bezug auf moralische Wertungen, erzieherischen Ehrgeiz, manipulative oder suggestive Ratschläge. Ohne die Gefahr von Sanktionen und Mißbilligungen kann deshalb der Patient seine Einfalle und auch seine Einstellungen gegenüber dem Analytiker mitteilen; er bewegt sich praktisch in einem Schonraum, in dem sonst übliche gesellschaftliche Normen zum großen Teil außer Kraft gesetzt sind.

 

Lorenzer hat das tiefenhermeneutische Vorgehen des Psychoanalytikers mit dem des Detektivs verglichen. Im Unterschied zur Tatbestandsrekonstruktion der Polizei nehmen sich die Vermutungen des Detektivs, welche die Ebene des gesunden Menschenverstands hinter sich lassen, zunächst absurd und irrational aus. "Gegen alle Regeln des gesunden Menschenverstands hat irgend etwas den Detektiv ,irritiert' und auf eine ausgefallene', ,abweichende' Deutung des Sachverhalts gebracht... Übertragen auf unser Problem und verallgemeinert heißt das: Tiefenpsychologisches Verstehen sucht ausdrücklich nach einem zweiten Sinnzusammenhang unterhalb der bewußten Motivationsebene ... Freud hat diesen ,zweiten Sinnzusammenhang' das ,Unbewußte' genannt und scharf vom bewußten Sinnzusammenhang getrennt."

Neben spezifisch psychoanalytischen Schlußbildungen (zum Beispiel wird aus einem zeitlichen Nacheinander auf eine kausal-motivische Verknüpfung geschlossen) ist das szenische Verstehen von ausschlaggebender Bedeutung. Drei Ebenen der Inszenierung sind zu beachten und ständig miteinander zu vergleichen: die alten lebensgeschichtlichen Beziehungserlebnisse aus Kindheit und Jugend des Patienten, diejenigen Szenen, die im gegenwärtigen Alltag eine Rolle

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spielen, und die vorbewußten und unbewußten Interaktionen, die der Patient mit seinem Analytiker ständig aufs Neue zu inszenieren versucht. Unweigerlich verstrickt sich der Analytiker zunächst eine Zeitlang in diese unbewußten Rollenangebote (er soll zum Beispiel den Part der sadistischen Mutter, des abwesenden Vaters übernehmen), bis er mit Hilfe des Nachdenkens über seine Gegenübertragung (also die in ihm ausgelösten Gefühle, Rollenerwartungen und Handlungstendenzen) erkennen kann, welcher unbewußte Lebensentwurf in den jeweiligen Interaktionen verborgen ist.

Schon mit Ferenczi — einem Schüler von Freud — beginnend, ergab sich in der Geschichte behandlungspraktischer Konzepte eine Polarisierung, die sich als patriarchalische Einsichtstechnik versus mütterliche emotionale Erfahrung bezeichnen läßt.

So vertrat zum Beispiel Winnicott die Auffassung, daß mit der wichtigste Heilungsfaktor psychoanalytischer Therapie in dem Erleben eines antwortenden "good enough mothering" zu finden sei. Der Analytiker sorgt für eine uneingeschränkte Akzeptierung, die einem "facilitating environment" gleichkommt, wie sie Kinder, die in den Genuß von Sicherheit und Urvertrauen gekommen sind, erleben konnten. Zusätzlich schafft der Analytiker ein "holding environment", welches die Affekte (vor allem die aggressiven) und Bedürfnisse des Patienten ohne Vergeltungsschläge akzeptieren und gleichsam aufbewahren kann.

Kohut betrachtet das geschwächte oder defektuöse Selbst, ein Selbst, das von den Eltern nicht genügend gespiegelt worden ist, als den Kern der Psychopathologie seiner narzißtisch gestörten Patienten. Ein authentisches und starkes Selbst kann nur entwickelt werden, wenn das Bedürfnis, von den Eltern gespiegelt zu werden und sie idealisieren zu können, von den elterlichen Selbstobjekten befriedigt wird.

Das nicht ausreichend gespiegelte Selbst des Kindes kann keine Individuation erlangen und verbleibt in einer archaischen Grandiosität und in dem Bedürfnis, mit einem omnipotenten Selbstobjekt zu verschmelzen. In der Therapie müssen diese Selbstobjekt-Bedürfnisse via Übertragung wiederbelebt werden, um den Entwicklungsstillstand aufzuheben. Als Heilungsfaktor ist hauptsächlich die Empathie anzusehen und nicht die Deutung von abgewehrten Triebimpulsen, da letzteres vom Patienten als Kränkung und Kritik erlebt werden würde. Der Patient muß vielmehr die Gelegenheit bekommen, sich seiner verdrängten archaischen Bedürfnisse nach Spiegelung und Idealisierung bewußt zu werden, sie zu äußern, nachzuholen und durcharbeiten zu können.

Es gibt in der gegenwärtigen Psychoanalyse eine größere Anzahl therapeutischer Wirkfaktoren. Einigkeit besteht unter Psychoanalytikern weitgehend darin, daß je nach Art und Umfang der Störung der Patienten andere Schwerpunkte — vor allem in der Anfangsphase einer psychoanalytischen Therapie — zu setzen sind. Es wird auch deutlich, wie wichtig die Entwicklung integrativer Modelle therapeutischer Wirk- und Heilungsfaktoren ist, wozu erste Ansätze bereits in den 70er Jahren gemacht worden sind. Trotz der Berücksichtigung unterschiedlicher Entwicklungsniveaus bleibt es aber das übergeordnete Ziel psychoanalytischer Behandlungsauffassung, unbewußte Beziehungskonstellationen, orientiert an der jeweiligen Gegenübertragungswahrnehmung des Analytikers, bewußt zu machen.

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Literatur

Weiterführende Literatur

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