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12   Was lässt sich tun?  

von Aldous Huxley 1958

 

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Wir können zur Freiheit erzogen werden — viel besser, als wir gegenwärtig für sie erzogen werden. Aber die Freiheit wird, wie ich zu zeigen versucht habe, aus vielen Richtungen bedroht, und diese Bedrohungen sind sehr verschiedener Art - demographischer, sozialer, politischer, psychologischer.

Unsere Krankheit hat eine Vielzahl zusammenwirkender Ursachen und läßt sich nicht anders kurieren als durch eine Vielzahl zusammenwirkender Arzneien. Um einer komplexen menschlichen Situation gewachsen zu sein, müssen wir alle Faktoren von Belang, nicht bloß einen einzigen, in Rechnung stellen. Nur wenn wir alle Faktoren berücksichtigen, können wir zu einem sinnvollen Ergebnis gelangen.

Die Freiheit ist bedroht, und Erziehung zur Freiheit ist dringend vonnöten. Aber auch vieles andere ist dringend vonnöten — zum Beispiel soziale Organisation um der Freiheit willen, Geburtenregelung um der Freiheit willen, Gesetzgebung um der Freiheit willen. Wir wollen bei letzterer beginnen.

Seit den Zeiten der Magna Charta und sogar schon früher waren die englischen Gesetzesgeber darauf bedacht, die leibliche Freiheit des einzelnen zu schützen. Eine Person, welche aus Gründen zweifelhafter Rechtmäßigkeit in Haft gehalten wird, ist nach dem gemeinen Recht, wie es durch das Statut von 1679 festgelegt ist, berechtigt, von einem der höheren Gerichtshöfe ein Habeas-corpus-Reskript zu verlangen. Dieser Vorführungsbefehl ist vom Richter des Obersten Gerichtshofes an einen Polizeibeamten oder Gefängnisaufseher gerichtet und befiehlt ihm, binnen einer genannten Frist die Person, die er in Gewahrsam hält, zur Untersuchung ihres Falles dem Gerichtshof vorzuführen. 

Wohlgemerkt, nicht die schriftliche Beschwerde dieser Person, auch nicht ihren rechtlichen Vertreter, sondern ihren corpus, ihren Leib, dies allzufeste Fleisch, das gezwungen wurde, auf einer Pritsche zu schlafen, die übel­riechende Gefängnisluft einzuatmen, die anwidernde Gefängniskost zu essen. Diese Bedachtnahme auf die grundlegende Bedingung der Freiheit — das Fehlen körperlichen Zwanges — ist zweifellos notwendig, aber sie ist noch nicht alles, was notwendig ist. 

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Es ist durchaus möglich, daß ein Mensch nicht im Gefängnis und doch nicht in Freiheit ist — daß er unter keinem physischen Zwang steht und doch psychisch ein Gefangener ist, gezwungen, so zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie die Vertreter des Nationalstaates oder irgendwelcher privater Interessen innerhalb der Nation ihn denken, fühlen und handeln lassen wollen. 

Es wird nie so etwas wie ein Habeas-mentem-Statut geben; denn kein Polizeibeamter oder Gefängnisaufseher kann einen ungesetzlich gefangengehaltenen Geist vor Gericht bringen, und keine Person, deren Geist durch die in früheren Kapiteln umrissenen Methoden in Haft genommen wurde, wäre in der Lage, sich über diese Haft zu beschweren. Psychischer Zwang ist so beschaffen, daß diejenigen, die unter diesem Zwang handeln, es unter dem Eindruck tun, sie handelten aus eigenem Antrieb. Das Opfer von Gehirnmanipulationen weiß nicht, daß es ein Opfer ist. Für einen solchen Menschen sind die Gefängnismauern unsichtbar, und er glaubt, frei zu sein. Daß er nicht frei ist, ist nur anderen augenscheinlich. Seine Gefangenschaft ist eine rein objektive.

Nein - wiederhole ich - es kann nie so etwas wie ein Habeas-mentem-Reskript geben. Aber es kann vorbeugende Gesetzgebung geben — eine Ächtung des psychischen Sklavenhandels, ein Gesetz zum Schutz der Gemüter gegen skrupellose Lieferanten giftiger Propaganda, nach dem Muster der Gesetze zum Schutz des Leibes gegen skrupellose Lieferanten verfälschter Nahrungsmittel und gefährlicher Drogen.

Zum Beispiel könnte und, glaube ich, sollte es Gesetze geben, welche das Recht öffentlicher ziviler und militärischer Beamter einschränken, die ihrem Befehl oder Gewahrsam ausgelieferten Zuhörerschaften einem Schlafunterricht zu unterwerfen. Es könnte und, glaube ich, sollte Gesetze geben, die den Gebrauch subliminaler Projektion an öffentlichen Orten oder auf dem Fernsehschirm verbieten. Es könnte und, glaube ich, sollte Gesetze geben, die politische Kandidaten nicht nur daran hindern, mehr als einen bestimmten Geldbetrag für ihren Wahlfeldzug aufzuwenden, sondern sie auch hindern, zu der Art von vernunftwidriger Propaganda zu greifen, die dem ganzen demokratischen Verfahren Hohn spricht.

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Solche vorbeugende Gesetzgebung könnte einiges Gute tun; aber wenn die großen unpersönlichen Kräfte, die heute die Freiheit bedrohen, weiterhin an Macht zunehmen, kann sie das nicht auf sehr lange Zeit. Die besten Staatsverfassungen und vorbeugenden Gesetze werden machtlos sein gegen den durch steigende Geburtenzahlen und fortschreitende Technologie beständig wachsenden Druck der Übervölkerung und der Überorganisierung. Die Verfassungen werden nicht widerrufen und die guten Gesetze nicht aus dem Gesetzesbuch gestrichen werden; aber diese liberalen Formen werden bloß dazu dienen, eine zuinnerst il-liberale Substanz zu maskieren und zu verzieren. 

Wird der Übervölkerung und Überorganisierung nicht Einhalt geboten, werden wir in den demokratischen Ländern wohl eine Umkehrung des Vorganges zu sehen bekommen, der England in eine Demokratie umwandelte, während es alle äußeren Formen einer Monarchie beibehielt. Unter dem unnachgiebigen Vorstoß sich beschleunigender Übervölkerung und zunehmender Überorganisierung und mittels immer wirksamerer Methoden der Gehirnmanipulation werden die Demokratien ihr Wesen verändern; die wunderlichen altmodischen Gebräuche — Wahlen, Parlamente, Verfassungsgerichtshöfe und alles übrige — werden bleiben, aber die zugrundeliegende Substanz wird eine neue Art von gewaltlosem Totalitarismus sein. 

All die traditionellen Namen, alle die geheiligten Losungsworte werden genau die bleiben, die sie in der guten alten Zeit waren. Demokratie und Freiheit werden das Thema jeder Rundfunksendung und jedes Leitartikels sein — aber Demokratie und Freiheit in dem Sinn, den ihnen der Sprecher oder Schreiber geben wird. Mittlerweile werden die herrschende Oligarchie und ihre gutgedrillte Elite von Soldaten, Polizisten, Gedankenverfertigern und Gehirn­manipulatoren hübsch still das ganze Werk so laufen lassen, wie es ihnen paßt. 

Wie können wir also die unermeßlichen unpersönlichen Kräfte zügeln, die heute unsere hart erkämpften Freiheiten bedrohen? 

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In bloßen Worten und allgemeinen Ausdrücken läßt sich die Frage mit größter Leichtigkeit beantworten. Man betrachte das Problem der Übervölkerung. Steigender Bevölkerungszuwachs lastet immer schwerer auf Naturschätzen und Naturprodukten. Was ist da zu tun?

Zweifellos müssen wir mit größtmöglicher Geschwindigkeit die Geburtenzahlen bis an den Punkt verringern, wo sie die Sterblichkeitsrate nicht mehr überschreiten. Gleichzeitig müssen wir mit möglichster Beschleunigung die Nahrungsmittelerzeugung steigern, wir müssen eine weltweite Politik zur Erhaltung unseres Ackerlandes und unserer Wälder einleiten und durchführen, wir müssen geeignete Ersatzstoffe, vorzugsweise weniger gefährliche und weniger schnell sich erschöpfende als Uran, für unsere gegenwärtigen Betriebs- und Brennstoffe entwickeln; und während wir mit den schwindenden Vorräten leicht greifbarer Mineralien haushalten, müssen wir neue und nicht zu kostspielige Methoden ausarbeiten, nach welchen diese Mineralien aus immer ärmeren Erzen gewonnen werden können — deren ärmstes das Meerwasser ist. 

Das alles aber ist — selbstverständlich — fast unendlich leichter gesagt als getan. Der jährliche Geburtenzuwachs sollte verringert werden. Aber wie? Zwei Wege stehen zur Wahl — Hungersnot, Pestilenz und Krieg sind der eine, Geburtenbeschränkung ist der andere. Die meisten von uns wählen die Geburten­beschränkung — und sehen sich sogleich einem Problem gegenüber, das für die Physiologie, die Pharmakologie, die Soziologie, die Psychologie und sogar die Theologie gleichermaßen verwirrend ist. Die »Pille« ist noch nicht perfekt. Sobald und wenn sie vervollkommnet sein wird, wie kann sie dann an die vielen hundert Millionen potentieller Mütter (oder, wenn es eine Pille sein wird, welche beim Mann wirkt, potentieller Väter) verteilt werden, die sie werden schlucken müssen, wenn die Geburtenzahlen der Spezies Mensch verringert werden sollen? 

Und wie können bei den bestehenden sozialen Gepflogenheiten und gegenüber den Kräften der kulturellen und psychischen Trägheit diejenigen, die die Pille nehmen müßten, sie aber nicht nehmen wollen, dazu überredet werden, sich anders zu besinnen? 

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Und was ist mit den Einwendungen der römisch-katholischen Kirche gegen jede Form von Geburtenbeschränkung, ausgenommen die sogenannte Rhythmus­methode von Knaus-Ogino, eine Methode nebenbei, welche sich bisher als fast völlig unwirksam erwiesen hat, die Geburtenzahl gerade jener industriell rückständigen Völker zu verringern, bei denen eine solche Verringerung von dringendster Notwendigkeit ist? Und diese Fragen über die hypothetisch vollkommene Pille müssen mit ebensowenig Aussicht auf befriedigende Antworten gestellt werden wie die Fragen über die bereits verfügbaren chemischen und mechanischen Methoden der Geburtenbeschränkung.

Wenn wir von den Problemen der Geburtenbeschränkung zu den Problemen übergehen, die verfügbaren Nahrungsmittel zu vermehren und unsere Naturschätze zu schonen, sehen wir uns Schwierigkeiten gegenüber, welche vielleicht nicht ganz so groß, aber noch immer ungeheuer sind. Da ist vor allem das Problem der Erziehung. Wie schnell können die unzähligen Bauern und Landwirte, die heute dafür verantwortlich sind, den größten Teil des Nahrungs­mittel­bedarfs der Welt zu befriedigen, dazu erzogen werden, bessere Methoden anzuwenden? Und sobald und wenn sie dazu erzogen sind, wo werden sie das nötige Kapital hernehmen, um sich mit den Maschinen zu versehen, dem Betriebsstoff und den Schmiermitteln, der Elektrizität, den Kunstdüngern und den verbesserten Züchtungen von Nahrungspflanzen und Haustieren, ohne welche die beste landwirtschaftliche Ausbildung nutzlos ist?

Ebenso stellt sich die Frage, wer die Menschheit in den Grundsätzen und der Praxis der Erhaltung der Naturschätze erziehen soll. Und wie sollen die hungrigen bäuerlichen Bürger eines Landes, dessen Bevölkerung und Nahrungsmittelbedarf rapid ansteigen, daran gehindert werden, Raubbau zu treiben?

Und wer wird, falls sie daran gehindert werden können, für ihren Unterhalt bezahlen, während die zerstörte und erschöpfte Erde allmählich, falls das noch möglich ist, gesundgepflegt und ihre Fruchtbarkeit wiederhergestellt wird? 

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Oder man betrachte die rückständigen menschlichen Gesellschaften, die jetzt versuchen, sich zu industrialisieren. Wenn es ihnen gelingt, wer soll sie bei ihrem verzweifelten Bemühen, die anderen einzuholen und sich auf gleicher Höhe zu halten, daran hindern, die unersetzlichen Naturschätze des Planeten so dumm und mutwillig zu vergeuden, wie das ihre Vorläufer in diesem Rennen taten und noch immer tun? 

Und wo wird man, wenn der Tag der Abrechnung kommt, in den ärmeren Ländern das wissenschaftliche Potential und die riesigen Kapitalsummen finden, die erforderlich sein werden, um die unentbehrlichen Mineralien aus Erzen zu gewinnen, deren Gehalt zu niedrig ist, um unter den bestehenden Verhältnissen ihre Extraktion technisch zu ermöglichen und wirtschaftlich zu rechtfertigen? 

Es kann sein, daß mit der Zeit eine zweckmäßige Antwort auf all diese Fragen gefunden werden wird. Aber wann? Bei jedem Wettlauf zwischen der Zahl der Menschen und der Menge der Naturschätze ist die Zeit gegen uns. Am Ende des gegenwärtigen Jahrhunderts werden vielleicht, wenn wir uns sehr anstrengen, zweimal soviel Nahrungsmittel auf dem Weltmarkt sein wie heute. Aber es werden auch ungefähr zweimal soviel Menschen auf der Welt sein, und mehrere Milliarden dieser Menschen werden in ganz oder teilweise industrialisierten Ländern leben und zehnmal soviel Strom, Brennstoffe, Wasser, Holz und unersetzliche Mineralien verbrauchen wie ihre Eltern heute. 

Mit einem Wort, um die Nahrungsmittel wird es so schlecht bestellt sein wie heute und um die Rohstoffe beträchtlich schlechter. Eine Lösung des Problems der Überorganisierung ist kaum weniger schwierig zu finden als für die obengenannten Probleme. Auch hier ist die Antwort in bloßen Worten und allgemeinen Ausdrücken ganz einfach. So zum Beispiel ist es ein politisches Axiom, daß Macht dem Besitz folgt. 

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Aber es ist inzwischen eine historische Tatsache, daß die Produktionsmittel sehr schnell zum monopolistischen Besitz des >Großen< Geschäfts und der >Großen< Regierung werden. Darum muß man, wenn man an die Demokratie glaubt, Vorkehrungen treffen, den Besitz so weit als möglich zu verteilen.

Oder man betrachte das Wahlrecht. Im Prinzip ist es ein großes Vorrecht. In der Praxis ist es, wie die jüngste Geschichte wiederholt gezeigt hat, an und für sich noch keine Gewähr für Freiheit. Daher muß man, wenn man eine durch Abstimmung zustande gekommene Diktatur vermeiden will, die riesigen maschinenartigen Kollektive der modernen Gesellschaft in sich selbst regierende, freiwillig zusammenarbeitende Gruppen zerteilen, welche fähig sind, außerhalb der bürokratischen Systeme des »Big Business« und der totalitären Regierung zu funktionieren. 

Übervölkerung und Überorganisierung haben die moderne Metropole geschaffen, in welcher ein wirklich menschliches Leben mit vielfältigen persönlichen Beziehungen fast unmöglich geworden ist. Daher muß man, wenn man die seelisch-geistige Verarmung der Einzelmenschen und ganzer Gesellschaften vermeiden will, die Großstadt verlassen und die kleinen Landgemeinschaften wiederbeleben oder andernfalls die Großstadt vermenschlichen, indem man innerhalb ihres Netzwerkes mechanischer Organisationen die städtischen Äquivalente kleiner Landgemeinschaften aufbaut, in welchen die Individuen als Gesamtpersönlichkeiten zusammenkommen und zusammenarbeiten können, nicht als bloße Verkörperungen spezialisierter Funktionen.

Das alles ist heute unverkennbar und war tatsächlich schon vor fünfzig Jahren unverkennbar. Von Hilaire Belloc bis zu Mortimer Adler, von den frühen Verfechtern der kooperativen Kreditgenossenschaften bis zu den Bodenreformern des modernen Italien und Japan haben Menschen, welche guten Willens waren, seit Generationen die Dezentralisierung wirtschaftlicher Macht und die weite Verteilung des Besitzes befürwortet. 

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Und wie viele sinnreiche Entwürfe für die Streuung der Produktion, für eine Rückkehr zur »Dorfindustrie« im kleinen Maßstab sind nicht vorgeschlagen worden! Und dann gab es Dubreuils ausführliche Pläne, den verschiedenen Abteilungen einer einzelnen großen industriellen Organisation ein gewisses Maß von Autonomie und Initiative zu überlassen. Es gab die Syndikalisten mit ihren Plänen einer staatenlosen Gesellschaft, organisiert als Verbund produktiver Gruppen unter den Auspizien der Gewerkschaften. In Amerika haben Arthur Morgan und Baker Brownell die Theorie einer neuen Art des Gemeinschafts­lebens für Dorf und Kleinstadt entworfen und ihre praktische Durchführung beschrieben. 

Prof. Skinner von der Harvard-Universität hat das Problem vom Gesichtspunkt des Psychologen dargelegt in seinem nach Thoreaus <Walden> betitelten Buch <Walden Zwei>, einem utopischen Roman einer sich selbst erhaltenden und autonomen Gemeinschaft, welche so wissenschaftlich organisiert ist, daß niemand je in antisoziale Versuchungen kommt und jeder Mensch, ohne daß zu Zwang oder unerwünschter Propaganda gegriffen zu werden braucht, tut, was er tun soll, und glücklich und schöpferisch ist. 

In Frankreich errichteten während und nach dem Zweiten Weltkrieg Marcel Barbu und seine Anhänger eine Anzahl von selbstverwalteten, nichthierarchischen Produktions­gemeinschaften, welche zugleich Gemeinschaften der gegenseitigen Hilfe und eines wahren humanen Lebens waren. Und mittlerweile hat in London das Experiment in der Vorstadt Peckham bewiesen, daß es möglich ist, indem man den Gesundheitsdienst mit den weiterreichenden Interessen der Gruppe koordiniert, eine echte Gemeinschaft sogar in einer Metropole zu schaffen. 

Wir sehen also, daß die Krankheit der Überorganisierung klar erkannt worden ist, daß verschiedene umfassende Kuren dagegen verschrieben und Behandlungen der Symptome da und dort und oft mit beträchtlichem Erfolg versucht worden sind. Und doch verschlimmert sich die Krankheit stetig, all diesem Predigen und dieser beispielhaften Praxis zum Trotz.

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Wir wissen, daß es gefährlich ist, Macht sich in den Händen einer herrschenden Oligarchie konzentrieren zu lassen; dennoch konzentriert sich Macht tatsächlich in immer weniger Händen. Wir wissen, daß für die meisten Menschen das Leben in einer modernen Riesenstadt anonym, atomisch und nicht wirklich menschlich ist; dennoch werden Riesenstädte ständig riesiger, und der Typus der verstädterten-industrialisierten Lebensweise bleibt unverändert.

Wir wissen, daß in einer sehr großen und komplexen Gesellschaft die Demokratie fast sinnlos ist, außer für autonome Gruppen von handlicher Größe; dennoch werden immer mehr Angelegenheiten der Nation von den Bürokraten der Großregierung und der großen Konzerne geleitet. Es ist nur allzu offensichtlich, daß in der Praxis das Problem der Überorganisierung fast ebenso schwer zu lösen ist wie das der Übervölkerung. In beiden Fällen wissen wir, was getan werden sollte; aber in keinem der beiden waren wir bisher imstande, auf Grund unseres Wissens erfolgreich zu handeln.

An diesem Punkt angelangt, finden wir uns einer sehr beunruhigenden Frage gegenüber: Wollen wir wirklich auf Grund unseres Wissens handeln? Hält eine Mehrheit der Bevölkerung es für der Mühe wert, die Anstrengung auf sich zu nehmen, die gegenwärtige, zu totalitärer Kontrolle von allem und jedem führende Entwicklung aufzuhalten und, wenn möglich, rückgängig zu machen?

In den USA — und sie sind das prophetische Bild der übrigen verstädterten und industrialisierten Welt, wie sie in ein paar Jahren sein wird — haben die jüngsten Ergebnisse der Meinungsforschung enthüllt, daß eine tatsächliche Mehrheit junger Menschen unter zwanzig, die Wählerschaft von morgen, kein Vertrauen zu demokratischen Einrichtungen hat, nichts sieht, was gegen die Zensur unbeliebter Ideen spräche, nicht glaubt, daß Regieren des Volkes durch das Volk möglich sei, und völlig zufrieden wäre, wenn sie weiter in dem Stil leben könnte, an den die Konjunktur sie gewöhnt hat, und von oben her von einer Oligarchie assortierter Fachleute regiert würde.

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Daß so viele der wohlgenährten jungen »Fernseher« in der mächtigsten Demokratie der Welt so völlig gleichgültig gegen die Idee der Selbstregierung, so ohne jedes Interesse für Gedankenfreiheit und das Recht auf eine abweichende Meinung sind, ist betrüblich, aber nicht allzu erstaunlich. »Frei wie ein Vogel«, sagen wir und beneiden die beschwingten Geschöpfe um ihr Vermögen unbeschränkter Bewegungsfreiheit in allen drei Dimensionen. Aber leider vergessen wir die Dronte. Jeder Vogel, der gelernt hat, sich einen guten Lebensunterhalt aus dem Boden zu wühlen, ohne gezwungen zu sein, seine Flügel zu gebrauchen, wird bald auf das Vorrecht des Fliegens verzichten und für immer auf dem Erdboden bleiben.

Ein Gleiches trifft auch auf die Menschen zu. Wenn das Brot dreimal täglich regelmäßig und reichlich geboten wird, werden viele ganz zufrieden sein, vom Brot allein zu leben — oder zumindest von Brot und Zirkusspielen allein. »Am Ende«, sagt der Großinquisitor in Dostojewskis Parabel, »am Ende werden sie uns ihre Freiheit zu Füßen legen und zu uns sagen: <Macht uns zu euren Sklaven, aber füttert uns !>« 

Und wenn Alioscha Karamasow seinen Bruder, den Erzähler der Geschichte, fragt, ob der Großinquisitor das ironisch meine, antwortet Iwan: »Keine Spur! Er behauptet, es sei sein Verdienst und das der Kirche, daß sie die Freiheit besiegt haben, und zwar, um die Menschen glücklich zu machen.« Ja, um die Menschen glücklich zu machen, »denn nichts«, das betont der Großinquisitor, »war einem Menschen oder einer menschlichen Gesellschaft je unerträglicher als die Freiheit«. Nichts außer der Unfreiheit; denn wenn Krisen eintreten, die Rationen verkleinert werden und die Sklavenhalter ihre Forderungen erhöhen, werden die erdgebundenen Dronten abermals nach ihren Flügeln schreien — nur um abermals auf sie zu verzichten, sobald die Zeiten sich bessern und die Drontenhalter milder und freigebiger werden. Die jungen Leute, die heute die Demokratie so wenig schätzen, werden vielleicht zu Freiheitskämpfern heranwachsen.

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Der Schrei:»Gebt mir Fernsehen und Hamburger, aber belästigt mich nicht mit den Verantwortlichkeiten der Freiheit!«, wird vielleicht unter veränderten Umständen dem Schrei weichen: »Gebt mir Freiheit oder gebt mir den Tod!« Falls eine solche Revolution stattfindet, wird sie zum Teil durch das Wirken von Kräften verursacht sein, über welche auch die mächtigsten Herrscher sehr wenig Macht haben, und zum Teil durch die Untüchtigkeit, die Unfähigkeit dieser Herrscher, erfolgreich Gebrauch von den Gehirnmanipuliermitteln zu machen, mit welchen Wissenschaft und Technik den Möchtegern-Tyrannen versorgt haben und weiter versorgen werden. 

Wenn man bedenkt, wie wenig die Großinquisitoren früherer Zeiten wußten und wie armselig sie ausgerüstet waren, erscheinen ihre Leistungen erstaunlich. Ihre Nachfolger aber, die gut unterrichteten, wissenschaftlich gründlich geschulten Diktatoren der Zukunft, werden zweifellos fähig sein, noch weit Besseres zu leisten. Der Großinquisitor wirft Christus vor, die Menschen dazu aufgerufen zu haben, frei zu sein, und sagt ihm: »Wir haben Dein Werk berichtigt und es auf Mirakel, Mysterien und Macht gegründet.« Aber Mirakel, Mysterien und Macht genügen nicht, um die unbegrenzte Dauer einer Diktatur zu gewähr­leisten. 

In meiner Fabel von der »schönen neuen Welt« hatten die Diktatoren die Wissenschaft jenem Dreigestirn hinzugefügt und waren so imstande, ihre Autorität zu verstärken durch das Manipulieren der Körper der Embryos, der Reflexe der Kinder und der Gehirne der Halbwüchsigen und Erwachsenen. Statt bloß von Wundern zu reden und symbolisch auf Mysterien anzuspielen, waren sie imstande, ihren Untertanen durch eine Droge die unmittelbare Erfahrung von Mysterien und Mirakeln zu geben — bloßen Glauben in ekstatische Erkenntnis umzuwandeln. Die Diktatoren früherer Zeiten stürzten, weil sie ihre Untertanen nie mit genug Brot, genug Zirkusspielen, genug Mirakeln und Mysterien versorgen konnten. Auch besaßen sie kein wirklich effizientes System der Gehirn­manipulation. 

In der Vergangenheit waren Freidenker und Revolutionäre oft das Produkt der frömmsten und orthodoxesten Erziehung. Das ist nicht erstaunlich. Die von orthodoxen Erziehern angewendeten Methoden waren und sind noch immer äußerst ergebnislos. Unter einem wissenschaftlich geschulten Diktator wird Erziehung wirklich etwas leisten — mit dem Ergebnis, daß die meisten Menschen dazu heranwachsen werden, ihre Sklaverei zu lieben und nie von einer Revolution zu träumen. 

Es scheint keinen stichhaltigen Grund zu geben, daß eine durch und durch wissenschaftliche Diktatur je gestürzt werden sollte.

Mittlerweile verbleibt noch immer ein wenig Freiheit in der Welt. Viele junge Leute scheinen allerdings Freiheit nicht zu schätzen. Aber einige von uns glauben noch immer, daß ohne Freiheit die Menschen nicht wirklich menschlich werden können und daß Freiheit daher höchst wertvoll sei.

Vielleicht sind die Mächte, die heute die Freiheit bedrohen, zu stark, als daß ihnen sehr lange Widerstand geleistet werden könnte. Es ist dennoch unsere Pflicht, alles — was in unseren Kräften steht — zu tun, um ihnen Widerstand zu leisten.

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#

Ende

 

 

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