Teil 1
Die Grundlagen
1. Die Ziele und die Hoffnungen - Von Prof. Dr. I. Iljin
15-34
Alles Praktische im menschlichen Leben wird vom Zweck beherrscht. Dieser Zweck kann entweder unbewußt bleiben, und als ein ersehnter aber trüber Seeleninhalt im Dunkeln fortarbeiten; oder er kann auch ins Bewußtsein treten, gedacht und ergründet werden, und sich zu einem ausgearbeiteten Programm entfalten. Ungerecht wäre es, das Programm und die Arbeit einer politischen Partei behandeln und bewerten zu wollen, ohne die Ziele und die Hoffnungen dieser Partei ins helle Licht gestellt zu haben.
Der Kommunismus ist zielbewußt
Es wäre zwischen "Bolschewismus" und "Kommunismus" zu unterscheiden. Der Bolschewismus ist eine trübe und elementare Stimmung, eine rücksichtslose Gier, ein "sofort alles für sich haben wollen"; er kann durchaus nichtkommunistisch, und sogar anti-kommunistisch ausfallen, etwa in dem Sinne, wie es die russischen Bauern in Sibirien und in der Ukraine mehrmals formuliert haben: "Wir sind Bolschewiken, aber keine Kommunisten."1)
Dagegen ist der Kommunismus eine zielbewußte Lehre, ein praktisches System, ein ersonnenes Programm. Dem seelischen Ursprunge nach ist dieses Programm allerdings bolschewistisch: radikal, rücksichtslos, auf maximale Forderungen eingestellt (maximalistisch). Aber dem Inhalte nach ist es klar gedacht und drastisch formuliert. Der Kommunismus ist vielleicht die durchdachteste soziale Bewegung in der menschlichen Geschichte: hier sind die Ansprüche und die düsteren Träume einer bestimmten sozialen Klasse zur Doktrin, ja zur Weltanschauung geworden, um sich dadurch den praktischen Sieg zu erleichtern.
Marxismus als Religionsersatz
Im Hintergründe dieser Doktrin und dieser Weltanschauung liegt die materialistische Geschichtsauffassung, wie sie einst von Karl Marx begründet und ausgelegt wurde:2 "Ohne Marxismus hat der Kommunist keine Weltanschauung."3
1) Lenins Werke, Bd.18, Teil 1, S.327. Dies trifft ganz besonders für die räuberische Bewegung des Machno zu (1918-1920).
2) Es wäre hier nicht angebracht, die marxistische Theorie als solche zu schildern und zu analysieren. Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts ist eine ideologische und politische Erscheinung für sich und muß hier als solche nach authentischen Quellen charakterisiert werden.
3) Diese grundlegende Formel stammt von dem gebildetsten Kommunisten Rjasanof, der hier die eigentliche Meinung von Stalin zu unterstützen sucht. — siehe 13.KK in USSR S.564-565
Diese Geschichtsauffassung ist, in einem gewissen Sinne modifiziert und zugerichtet, für die Kommunisten zu einer eigenartigen gottlosen "Religion" geworden — zu einer praktisch-politischen "Religion" des Kampfes für irdische Zwecke. Diese "Religion" weiß vom Jenseitigen — von Gnade, Erlösung, Seligkeit, Tugend, überhaupt von einem objektiven Werte — nichts zu sagen. Sie ist zwecksetzend, in dieser Zwecksetzung rücksichtslos und schon deswegen auf eine fanatische Besessenheit eingestellt. Für das Diesseits bestimmt, versucht sie aber das Diesseitige auf eine äußerst radikale Weise aufzufassen und, zerstörend, umzuschaffen. Sie will ein neues, soziales Dasein verwirklichen, ein neues, wirtschaftlich-materielles Glück zustande bringen und dazu den geschichtlich gegebenen "Mensch" neu gestalten. Von einem "neuen Himmel" weiß sie nichts zu berichten, aber eine "neue Erde"4) wird hier zielbewußt gewollt und planmäßig geschaffen. Wie ist nun diese gewollte "neue Erde" zu verstehen?
Weltbewegung, Welteroberung
Immer und überall gilt der Grundgedanke und der Hauptgedanke der Kommunisten der Welt. Es handelt sich durchaus nicht um eine nationale Bewegung, um eine lokalpolitische Partei; es ist eine Weltorganisation, die für einen Weltzweck kämpft.
"Die Kommunistische Revolution kann nur als Weltrevolution siegen";5) käme sie nur in einem Lande zustande, "so hätten die großen Räuberstaaten dieses Land schließlich erwürgt." 6) — "Die Revolution in USSR ist ein Teil der Weltrevolution, ihr Anfang, die Basis für ihre Entfaltung."7) "Die Frage nach dem endgültigen Siege des Sozialismus ist die Frage nach der Überwindung der Weltbourgeoisie."8) Der Sieg in einem einzelnen Lande bedeutet nur "eine Aushilfe, ein Mittel für die Beschleunigung" des Sieges "in den anderen Ländern".9)
4) S. Bucharin "Das ABC des Kommunismus" S. 52 (russ.).
5) Ebendaselbst S. 100.
6) Ebendaselbst S. 100.
7) Stalin. Noch einmal ... S. 35 (russ. 1927). Vgl. Stalins Rede in den Sitzungen des XVI. KK, Prawda, 1930 VI. 29. Vgl. den Aufruf des XIV. KK an die Gomindan-Partei in China: Sten. Ber. des Kongresses, S. 579 (russ.); ebendaselbst S. 125 die Rede von Uglanow. Auch bei Kurella: "Die Kommunistische Partei der Allunion", 1927, S. 3 u. 4 (russ.); oder, wie Larin sich ausdrückt: Die USSR ist "ein Herd für die weitere Entfaltung der Weltrevolution". 15. KK, S. 312 (russ.).
8) Bucharin. Das ABC, S. 30.
9) Sinowjef. Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses in USSR., S. 429 (russ.).
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Dieser Weltzweck stand von Anfang an fest. "Als wir seinerzeit die internationale Revolution anfingen", sagte Lenin im Jahre 1921, "war es für uns klar, daß der Sieg der proletarischen Revolution ohne Unterstützung der internationalen Weltrevolution unmöglich ist."10)
Und noch früher, im Jahre 1915, schrieb er:
"Das siegreiche Proletariat eines Landes hätte sich der übrigen kapitalistischen Welt gegenübergestellt, indem es die unterdrückten Klassen der anderen Länder an sich gezogen hätte, in diesen Ländern einen Aufstand gegen die Kapitalisten anregend und im Notfalle sogar mit militärischer Macht gegen die exploitierenden Klassen und ihre Staaten auftretend."11)
Dementsprechend wird Lenin auch immerfort, als "Führer der Weltrevolution"12) bezeichnet und gepriesen; er ist der erfahrene "Weltmaschinist",13) er steht am "Steuerruder der Weltrevolution"14) usw. Ganz folgerichtig wird die "Sowjetunion" als die "Avantgarde der Weltrevolution"15) bezeichnet, und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in USSR als "Weltgeschichtliche Institution"16) gefeiert.
Es mag dahingestellt bleiben, wie sich diese Weltrepublik organisieren wird — wird sie als "europäische Sowjet-Republik",17) als "Vereinigte Staaten Europas"18) entstehen und dann erst die übrigen Weltteile erobern, oder wird der ganze Prozeß anders verlaufen — eines steht fest: es handelt sich hier um eine Weltbewegung und eine Welteroberung.19
Die Dritte Kommunistische Internationale (Komintern) ist das schaffende und führende Organ dieser Bewegung: "sie führt die ganze Arbeiterklasse zur Weltrevolution",20) "sie organisiert die Revolution auf der ganzen Welt".21)
10) Lenin "Die Taktik der russ. Kommun. Partei" Werke Bd. XVIII, Teil l, S. 312, 320, 321 (russ.). Vgl. bei Bucharin "Das ABC d. Kommun.", S.117 (russ.).
11) Lenin Werke Bd. XIII S. 133 (russ.). Von Stalin mit Zustimmung zitiert: "Noch einmal ...", S.36 (russ. 1927).
12) Noch zeitlebens von Kamenef. 12. KK in USSR., S.2 (russ.). Vgl. S. 481, 489, 503.
13) s. Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses S. 490 (russ.).
14) Ebendaselbst S. 510 (russ.).
15) Stalin, Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses S. 440 (russ.).
16) Stenogr. Bericht des XIV. Kongresses S. 231 (russ.).
17) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 117 (russ.).
18) Trotzky, "Fünf Jahre in der Komintern", S. 569 (russ.).
19) s. die typischen Losungen, Resolutionen und Ausrufe bei den Kommunisten, z. B. "Es lebe die Weltrevolution der Arbeiter" (VI., Bolschewiken-Kongr.) 1917, August; "Es lebe der künftige Weltoktober". 15. KK, S. 12 usw.
20) Bucharin, "Kapitalistische Stabilisierung und proletarische Revolution", 1927, S. 297 (russ.).
21) Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses S. 29, 1274 (russ.).
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Dieses Werk wird sie auch zu Ende bringen; sie hat nur Lenins Gedankengängen zu folgen: "Unter Lenins Fahne", so schließt Stalin seine große Führerrede bei der Eröffnung des XVI. Komm. Kongresses, "werden wir nun in der proletarischen Revolution der ganzen Welt den Sieg davon tragen. Es lebe der Leninismus!"22)
Dies alles wird auch so ausgedrückt, daß die "Oktober-Revolution" von 1917 in Rußland "eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffnet hat".23) "Der Umschwung in der Weltgeschichte ist zustande gekommen. Die Epoche des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus ist zu Ende. Ein neues Kapitel der Weltgeschichte hat eingesetzt: Die Epoche der proletarischen Diktatur."24) "Die Ära der proletarischen, kommunistischen Weltrevolution hat angefangen."25)
Revolution nicht Reform
Daraus ist schon zu ersehen, daß es sich nicht um eine Reform, sondern um einen Umsturz, und zwar in der ganzen Welt handelt; nicht um eine Evolution, sondern um eine Revolution.
"Die Revolution ist diejenige Umgestaltung, die das Alte in seinem Haupt- und Grundwesen selbst zerstört, und nicht umbildet, etwa vorsichtig, langsam, allmählich, in der Bestrebung, möglichst Weniges niederzureißen."26) Die alte Lebensordnung ist ein für allemal radikal verurteilt; da ist nichts zu schonen, zu pflegen oder zu entwickeln. Das Neue bedeutet den Zusammenbruch des Alten und "den Sprung über mehrere Stufen";27) ja, noch mehr — den Anfang einer neuen Daseinsweise und Lebensart.
Geschichtlich aus dem Weltkriege entstanden,28) ist die Revolution selbst nichts anderes als eben Krieg.
"Den Krieg zwischen den Sklavenbesitzern haben die Sklaven mit der Losung beantwortet: Verwandeln wir diesen Sklavenbesitzerkrieg, der um die Teilung der Beute geführt wird, in den Krieg der Sklaven aller Nationen gegen die Sklavenbesitzer aller Nationen! ..."29) Und so hat dieser "verzweifelte, rasende Kampf, nicht auf Leben, sondern auf Tod, zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus begonnen."30)
22) Prawda, 1930, 29. Juni.
23) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 1, S. 367 (russ.).
24) Ebendaselbst S. 411.
25) Programm der Russ. Komm. Partei 1919, März.
Siehe "Die Kommunistische Partei Rußlands in ihren Resolutionen", S.170 (russ.).
26) Lenin Werke Band XVIII, Teil l, S. 410 (russ.).
27) Trotzky, "Terrorismus und Kommunismus", S. 43 (russ.).
28) Siehe "Die russische Kommunistische Partei in ihren Resolutionen", S. 150 (russ.).
29) Lenin Werke Bd. XVIII, Teil l, S. 367 (russ.).
30) Ebendaselbst S. 39.
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In diesem Kampf gleicht die bürgerliche Welt einem "Pulvermagazin" und die kommunistische Partei einem "geschleuderten Funken":31) die Explosion kann nicht ausbleiben. "Der ganzen kapitalistischen Welt haben wir den Krieg erklärt";32) "ins Herz des Weltkapitals und der Bourgeoisie werden wir unsere Keilhaue hineinstoßen"33); und, siehe da — "das ganze Bürgertum und das ganze Kapital der Welt beben und zittern"34) schon vor unserem Angriff.
Die Revolution, als Umsturz und Krieg, wurde seit langem, noch vor dem Weltkriege, ins Auge gefaßt und vorbereitet. Allerdings waren die realen Möglichkeiten noch nicht günstig: aber der Kampf zwischen den evolutionistisch gestimmten Sozialisten und den revolutionär eingestellten Bolschewiken35) war schon im vollen Gange. Einem eigenartigen Blanquismus huldigend, vertrat Lenin schon damals das Prinzip der verschwörerischen, aggressiven Minderheit und die Losung eines sofortigen sozialistischen Experimentes.
Im reifen Mannesalter, unmittelbar vor der Oktober-Revolution, schreibt er ein Buch36), in dem er jede evolutionistische Auslegung des Marxismus als Blödsinn und Betrügerei bekämpft: Umstürzende Offensive ist immer seine Losung gewesen; und so lautet jetzt die Losung der kommunistischen Partei. "Die ganze Frage besteht darin, wer an die Spitze der wiederauflebenden internationalen Arbeiterbewegung zu treten verstehen wird — wir oder die Reformisten."37)
Die europäische Sozialdemokratie "hat gar keinen Begriff davon, wie Revolutionen gemacht werden";38) ihr Reformismus ist nichts anderes, als Verrat an der großen Sache, und ihre Ansichten nichts anderes — als "Unflat"39): das, was sie predigt, ist "revolutionärer Pazifismus", der die "Passivität der Arbeiterklassen ernährt";40) und so wäre es zu erklären, warum die Kommunisten die europäische Sozialdemokratie gelegentlich als ihren "Hauptfeind und Grundfeind" bezeichnen.41
31) Siehe die Rede von Skrypnik. Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 64 (russ.).
32) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil I, S. 92 (russ.).
33) 12. KK, S. 86 (russ.); Stalin. "Noch einmal", S. 133 (russ.).
34) Ebendaselbst S. 83.
35) Damals nannten sie sich noch nicht "Kommunisten".
36) "Der Staat und die Revolution."
37) Sinowjef, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S.668 (russ.).
38) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 1, S. 27 (russ.).
39) Stalin, "Noch einmal ...", S. 101 (russ.).
40) Manuilsky, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 680 (russ.).
41) Bucharin und Uglanof, ebendaselbst, S. 721.
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Keine Verteidigung, nur Angriff.42 Man braucht gar nicht zu überlegen und zu kalkulieren: man greift ein und dann sieht man, was zu machen ist.43) Entweder organisiert man wirklich die kommunistische Lebensordnung; gelingt es nicht — dann enteignet man wenigstens die "Gutsbesitzer und die Kapitalisten" und schafft damit die "Prämissen" der neuen Kultur;44) und dann wird sich vielleicht die "bürgerlich-demokratische Revolution" von selbst in die "proletarisch-sozialistische" verwandeln lassen.45) Aber eine mißlungene Revolution ist auch gut, denn sie sammelt lehrreiche Erfahrungen.46)
Klassenkampf, Parteiherrschaft
Die Revolution ist aber Sache einer einzelnen und einzigen Klasse — des Proletariats. Über den verschiedenen feindlichen Klassen gibt es überhaupt keine "dritte Macht"; und der Staat ist immer und überall, von oben bis unten, eine Klassenorganisation.47) Man hat nur zu wählen, für wen und wofür man kämpft. Das Proletariat ist "diejenige Klasse, die allein durch den Kapitalismus zum Großbetrieb erzogen ist, und die allein von den Interessen des kleinen Eigentümers losgerissen dasteht";48) die "materiellen Werte im Großbetriebe" schaffend,49) bildet "die Arbeiterklasse, als Arbeitskraft, die wertvollste, produktive Kraft der Gesellschaft";50) "sie hat nichts zu verlieren außer ihren Ketten".51) Dies ist die Klasse der Zukunft. Wohl bedeutet der Sozialismus "die Abschaffung der Klassen";52) in der glücklichen Zukunftsgesellschaft wird es weder Klassen, noch Klassenwidersprüche, noch Lohnarbeit geben;53) auch der Klassenkampf und der Staat werden verschwinden; denn dann braucht niemand mehr "im Zaume" gehalten zu werden.
42) "Die wirklichen Revolutionäre können nur infolge einer Übertreibung der Bedeutung der revolutionären Kampfmethoden umkommen." Lominadze, 14.KK, S. 700 (russ.).
43) Lenin zitiert das Wort von Napoleon: "on s'engage et puis on voi", Bd. XVIII, Teil l, S. 111 (russ.).
44) Lenin, ebendaselbst S. 111.
45) Ebendaselbst S. 364.
46) Ebendaselbst S. 321, 436.
47) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus",. S. 84 (russ.).
48) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l. S. 9 (russ.).
49) Ebendaselbst S. 375.
50) Rjasanof, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 258 (russ.).
51) Bucharins Anspielung auf Marx "Das ABC des Kommunismus", S. 63.
52) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 1, S. 257, 262 u.a. (russ.).
53) Ebendaselbst S. 156, 173, 262, 270. Vgl. Tomsky, 14.KK, S. 278; Sinowjew, ebendaselbst, S.442.
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"Gesetz, Gefängnis, Polizei" — alles wird unnötig werden; "es wird nur einfache Menschen geben, Genossen, keinen Zwang, keine Bürokratie, nur "Berechnungen" und "Anweisungen", und alles wird glatt vor sich gehen, wie "geschmiert".54)
Selbstverständlich besteht die notwendige Vorbedingung dieser neuen Lebensordnung darin, daß alle Bürger zu Proletariern werden, oder gemacht werden. Dann erst bleibt eine einzige Klasse übrig — das Proletariat, denn alle anderen Klassen, die bis jetzt am Privateigentum hängen, werden verschwinden. Solange aber dies nicht der Fall ist55) — muß ausschließlich das Interesse des Proletariats anerkannt, gepflegt und dementsprechend über alles gestellt werden: Ihm müssen alle übrigen Klassen mit ihren "bürgerlichen" Interessen zum Opfer fallen. Sie sind die Todfeinde der Arbeiterklasse; wir aber "richten uns einzig und allein nach dein Klasseninteresse" des Proletariats.56) Das proletarische Klasseninteresse erfordert aber: die Herstellung einer proletarischen Klassenpartei und den Bürgerkrieg gegen die Feinde.
Die Partei der Kommunisten ist die Klassenpartei des Proletariats, seine "unmittelbar herrschende Avantgarde",57) der selbstbewußte und organisierte Wille der Arbeiterklasse. Diese Partei macht das Wesen des Staates aus: "der Staat — sind wir",58) — die "breit organisierte Arbeiterklasse",59) die kommunistische Partei. Es ist wohl möglich, wie z.B. in USSR., daß die proletarisierte Arbeiterklasse die "kleine Minderheit" der Bevölkerung im Lande ausmacht; nichtsdestoweniger muß die ganze Lebensgestaltung klassenmäßig aufgebaut werden; ausgesprochene "Klassenarmee", grundsätzliches "Klassengericht" usw.60)
54) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 51, 52.
55) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l, S. 156, 173; auch Sokolnikof, 11. KK, S. 274 (russ.) u. a.
56) Lenin Werke, Bd. XVIII Teil l, S. 271 (russ.). Wie lange werden diese Klassenwidersprüche noch bestehen bleiben? Jedenfalls wird es noch "mehrere Jahrzehnte" dauern. Resolution des XI. Kommun. Kongresses. — Stenogr. Bericht S. 495. Bei Lenin findet man die Dauer von 10-20 Jahren angegeben. "Das Leninsche Sammelbuch", IV., S. 374; oder auch "eine lange, lange Reihe von Jahren", Bd. XVIII, Teil l, S. 177. Stalin gibt die Dauer von 15-50 Jahren an. "Noch einmal", S. 52. Sinowjef — wenigstens 10 Jahre. — 12.KK, S.208, 14. KK, S.100 (russ.).
57) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil l, S. 64.
58) Ebendaselbst, S. 55.
59) Bucharin und Krupskaja (Lenins Witwe), 14. KK, S. 163 (russ.).
60) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 1, S. 222; Bucharin, "Das ABC de« Kommunismus", S.164 (russ.).
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Alles auf ist einen anhaltenden, ununterbrochenen Bürgerkrieg eingestellt: denn der Bürgerkrieg ist ja nichts anderes, als die "allerschärfste Form des Klassenkampfes".61) Und in diesem Kampfe sind alle Berufungen auf "Gerechtigkeit", "Menschlichkeit" und "Liebe" nur eine "süßlich sentimentale Phraseologie", — eine "Ideologie für alte Weiber".62) Dieses leere Geschwätz nützt nichts: das Proletariat will zu Realitäten kommen. "Die Arbeiter sind Materialisten"; und "wir sind" auch "Materialisten": "Papierfetzen, Trugbilder und Dunst" taugen uns nichts — "hier braucht man Brot und Kleider und Fleisch", "Ware und Produkt";63) und dergl. mehr. Das Proletariat und seine Partei wollen irdische Güter besitzen, und zwar unbeschränkt und sofort, und dies gehört zum Wesen der bolschewistischen Revolution.
Straffe Weltorganisation
Um dies alles zu verwirklichen, braucht die ganze Bewegung eine überaus straffe und zentralisierte Organisationsform. "Noch nie hat es in der Geschichte so einen Krieg gegeben";64) und zu diesem Krieg "müssen wir eine einheitliche kommunistische Weltpartei schaffen",65) eine "eiserne Kohorte",66) eine Weltarmee. Diese Armee besteht schon in der ganzen Welt, nur ist sie noch ungenügend unterwiesen und organisiert.67) Sie muß "von oben bis unten zentralisiert werden";68) sie muß unter eine unerbittliche, unerschütterliche Disziplin gestellt werden,69) deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit schon bewiesen sind: denn "die Sowjetmacht ist die festeste Macht unter allen in der Welt bestehenden Mächten".70)
61) Ebendaselbst, S. 314; Kamenef, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 260 (russ.).
62) Vgl. die öffentliche Verspottung eines Briefes der holländischen Kommunistin Henriette Roland-Holst durch Bucharin und das Plenum des XV. Kommun. Kongresses, Stenogr. Bericht, S. 621 (russ.).
63) Lenin, Bd. XVIII, Teil 1, S. 15, 140 (russ.).
64) Ebendaselbst, S. 377.
65) Sinowjef, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 679 (russ.).
66) Klara Zetkin, ebendaselbst, S. 760 (russ.).
67) Lenin, Bd. XVIII, Teil l, S. 349.
68) Uglanof, Laschewitsch, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 184 (russ.).
69) s. das kommun. Programm vom März 1919, "Die Russische Kommun. Partei in ihren Resolutionen", S. 192. Auch die Beschlüsse der Kommun. Konferenz v. August 1922. Ebendaselbst, S. 322 (russ.).
70) Stalin, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 66 (russ.).
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"Streng, grausam, erbarmungslos müssen wir die allerkleinste Verletzung der Disziplin bestrafen", besonders wenn jemand Panikstimmung hervorruft oder zur Fahnenflucht veranlaßt: dann muß er erschossen werden.71) Auch "politische Schwankungen werden wir schonungslos bekämpfen"; und so nach und nach werden wir "immer sorgfältiger, immer solider die neuen defensiven und offensiven Schlachten vorbereiten", die auch entsprechend "immer entschiedener ausfallen werden".72) "Verbunden sind wir unmittelbar miteinander und <vermittelt> mit den Proletariern aller Länder; wir wissen, was wir wollen; und darum sind wir unüberwindlich im Weltmaßstabe".73)
Enteignung, Verelendung
Nur so wird es möglich werden, in allen Ländern den politischen und den sozialen Umsturz herbeizuführen. Das Wesen dieses Umsturzes besteht erstens darin, daß die oberen sozialen Schichten nach unten gestoßen und die unteren nach oben befördert werden; und zweitens darin, daß eine Diktatur des Proletariats, also der Kommunistischen Partei, errichtet wird.
"Jahrzehntelang arbeiteten wir an der Lösung einer riesigen Aufgabe: wir predigten den Sturz der Bourgeoisie, wir lehrten das Mißtrauen den bürgerlichen Spezialisten gegenüber, wir entlarvten sie, wir nahmen ihnen die Macht, wir unterdrückten ihren Widerstand. Ein großartiges, welthistorisches Werk" ...74)
Der Umsturz vollendet dieses Werk: er bringt eine vollständige Enteignung und Entrechtung des Bürgertums, d.h. eine entschädigungslose Expropriation sämtlichen "Kapitals" — des Ackerbodens, der Fabriken, des Geldes, der Häuser, der Warenvorräte, der Bibliotheken, der "überflüssigen" Möbel, Kleider usw.
Der Reiche und der Wohlhabende werden zu Bettlern gemacht. Wirtschaftlich kann diese Enteignung auch schlimme Folgen zeitigen; daß es in Rußland faktisch so geschehen ist, geben die Kommunisten offen zu.75) Und doch wird die Enteignung überall durchgeführt werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens als notwendige Maßnahme des Klassenkampfes,76) des Kampfes für die soziale Revolution.
71) Vgl. Lenin, Bd. XVIII, Teil 1. S. 34, 35 (russ.).
72) Lenin über die Aufgaben d. Komintern; ebendaselbst, S. 351; vgl. Stalins Ausführungen in den Sitzungen des XVI. Kommun. Kongresses über die Rechtsopposition und ihre Bekämpfung, Prawda, 1930, VI. 29.
73) Lenin, Bd. XVIII, Teil l, S. 231; vgl. bei Stalin, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 19, 21 (russ.).
71) Ebendaselbst, S. 88 (russ.).
75) Siehe b. Kassior, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 115 (russ.).
76) Ebendaselbst.
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"Ohne Expropriation des Großgrundbesitzes, ohne Vertreibung der Großgrundbesitzer, ohne Verteilung des Bodens ist nur eine bürgerliche, aber keine soziale Revolution möglich", schreibt Lenin.77) Es gilt, das kapitalistische Element der Gesellschaft lahmzulegen, um der Arbeiterklasse ein für alle Mal "den Sieg zu sichern".78) "Bleiben die Kapitalisten, die Hunde und die Schweine des sterbenden Bürgertums, am Leben, so geht die Republik zugrunde".79) Um jeden Preis "müssen die Massen vom Einfluß der Pfaffen und der Gutsbesitzer befreit werden".80)
Dies alles bedeutet gewiß eine riesige Zerstörung für das betreffende Land; teilweise entsteht diese von selbst, teilweise wird sie auch absichtlich betrieben.81) Die enteigneten sozialen Schichten erleben dadurch unbeschreibliche Not und Qual; sie werden einfach einer Verelendung ausgesetzt, und es ist nur allzu verständlich. daß auch die siegende Klasse des Proletariats darunter zu leiden hat. "Die Diktatur des Proletariats in Rußland", schreibt Lenin, "hat solche Opfer, solche Not und solche Entbehrungen der herrschenden Klasse, dem Proletariate, abgefordert, wie sie die Geschichte nie gekannt hat; und es ist sehr wahrscheinlich, daß auch in Jedem anderen Lande die Sache genau so vor sich gehen wird".82) Dies hat aber wenig zu bedeuten: "Das Schwert wird nicht früher in die Scheide zurückgestoßen werden können, als auf Erden auch nur ein einziger Kapitalist noch übrig ist."83)
Proletarisierung, Sozialisierung
Der zweite Hauptgrund, der eine allgemeine Enteignung der besitzenden (auch der wenig besitzenden) Schichten notwendig macht, gehört zum innersten Wesen des Kommunismus: die kommunistische Lebensordnung kennt ja, wie gesagt, nur eine einzige Klasse — das in den Staatsbetrieben angestellte Proletariat. Somit bedeutet Fortschritt, vom kommunistischen Standpunkt aus, soviel wie eine systematisch geführte und erfolgreiche Proletarisierung der Bevölkerung.
"Der Besitzende" — sei es ein reicher Bankier, ein Hausbesitzer oder ein Kleinbauer — bleibt auf Privateigentum, auf Privatwirtschaft und auf freien, "bürgerlichen" Verkehr eingestellt; er fühlt nicht "sozialistisch", er denkt nicht "sozialistisch", er hängt an seinem Vermögen und will nichts vom Kommunismus wissen. Je mehr es im Staate solche Menschen gibt, desto schlimmer steht es um den Kommunismus; und umgekehrt.
77) Lenin Werke, Bd. XVIII, Teil 1, S. 330 (russ.).
78) Kassior, Stalins getreuer Anhänger, 11. KK, S. 115 (russ.).
79) Lenin Werke, Bd. XVIII. Teil 1, S. 366, 379.
80) Ebendaselbst, S. 339.
81) siehe z.B. die interessanten Bekenntnisse eines Sokolnikof, 11.KK, S. 264 (russ.).
82) Lenin, Bd. XVIII, Teil l, S. 329 (russ.).
83) Programmreden zum zehnjährigen Jubiläum der Tscheka, Iswestija, 1927, XII., 20 (russ.).
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Dagegen wird der Enteignete ohne weiteres proletarisiert. Wohl bleibt er auch dann noch in seinen "bürgerlichen Vorurteilen" stecken; aber daraus erwachsen für den Kommunisten nur weitere Aufgaben; erstens den Enteigneten, als Klassenfeind, unschädlich zu machen (Verbannung, Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Hinrichtung); zweitens die Masse der enttäuschten neuen Proletarier durch Propaganda und Not in die kommunistischen Staatsbetriebe hineinzuleiten. Enteignung — Proletarisierung — Sozialisierung sind die großen Etappen der kommunistischen Revolution. Das ist grundlegend. Und wer die große Bauernenteignung der letzten Jahre (1928-1930) in Sowjetrußland verstehen will, hat sich nur an diese Formel zu halten.
Diese große Bauernenteignung wurde von den Kommunisten seit langem vorbereitet; zuerst wurde sie als "kalte" Expropriierung (1926-1927-1928), dann (1929-1930) in einem brausenden Angriffstempo durchgeführt.84) Noch im Jahre 1924 besuchte Stalin den Betrieb "Dynamo" und trug sich in das "rote Buch" des Betriebes, als Ehrengast, ein; er schrieb folgendes:
"Ich wünsche den "Dynamo"-Arbeitern, wie auch den Arbeitern ganz Rußlands, daß die Industrie einen Aufschwung erlebe, daß die Zahl der Proletarier in Rußland in der nächsten Periode auf 20-30 Millionen steige, daß die Kollektivwirtschaft auf dem Lande aufblühe und ihrem Einfluß die Privatwirtschaft unterwerfe, daß die Hochindustrie und die Kollektivwirtschaft auf dem Lande die Proletarier der Betriebe und die Landarbeiter in eine einheitliche sozialistische Armee endgültig zusammenschweißen" ...
Dieses wohlüberlegte Programm der Proletarisierung und Sozialisierung der Bevölkerung spricht für sich selbst und wurde deswegen auch von der führenden Sowjetzeitung unlängst in Faksimile wiedergegeben.85) ... Das Geplante wird jetzt durchgeführt. Die wirtschaftliche Verelendung des von der Revolution geschaffenen, kleinen und allerkleinsten Bauerntums wird zur Vorschule des Kommunismus. Durch Armut und Not, in wirtschaftlicher Verzweiflung reift der Mensch zur Sozialisierung. ... Danach ist es leicht zu verstehen, weshalb die kommunistische Revolution ihre Sache von Anfang an und prinzipiell auf allgemeines Armsein des Individuums gestellt hat und weiterhin stellen wird.
84) siehe die Aufsätze: "Das Schicksal des russischen Bauern", "Die Bauerndifferenzierung" und "Die deutschen Kolonisten in Rußland".
85) Prawda, 1930, 4. VI.
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Die neue Elite
An die Stelle des enteigneten und in Not aussterbenden Bürgertums tritt nun die Arbeiterklasse. "Der frühere Sklave, der Arbeiter und der Bauer, auf deren Arbeit sich der alte Staat stützte — wird jetzt zum Herrn und Prinzipal, und der frühere Herr wird zu seinem Unterstellten".86) Es gilt nun als "Hauptsache, die Rechte und die Freiheiten — zu allererst und zu allermeist denjenigen Klassen zu gewähren, die am meisten von den Kapitalisten unterdrückt waren",87) und diese Klassen "in die Politik hineinzuziehen";88) ganz besonders aber "die von der Küchenarbeit erdrückten und verblödeten Frauen":89) "jede Köchin muß den Staat zu beherrschen lernen";90) "tausende und abertausende gemeiner Arbeiter müssen hervorgeschoben und in hunderten auf die höchsten Posten befördert werden":91) sie werden zu Fabrikdirektoren, zu Staatsanwälten, zu Volkskommissaren, zu Leitern der politischen Polizei usw. Dies ist das von Lenin angedeutete "Wundermittel", — "den Staatsapparat mit einem Stoße zu verzehnfachen".92)
Knechtung der Intelligenz
Dieses "Wundermittel" kann jedoch einem neuen Arbeiterstaate die Grundschwierigkeiten nicht ersparen, die aus dem Mangel an einer qualifizierten, geistig gebildeten Intelligenz notwendigerweise entstehen. Dem ist aber abzuhelfen: die Reste des bürgerlichen, gebildeten Standes können provisorisch herbeigeholt und angestellt werden, natürlich unter strenger revolutionärer Beaufsichtigung.
"Die Sache ist nur zur Hälfte fertig, wenn die Bourgeoisie besiegt ist, oder wenn man ihr den Garaus macht; sie muß noch gezwungen werden, für uns zu arbeiten".93)
Denn "der herrschenden Kommunistenschicht fehlt die Kultur!".94) "Wohl ist die bürgerliche Kultur kläglich und nichtig, und doch ist sie größer als bei uns, ... als bei unseren angestellten Kommunisten, die verantwortliche Posten bekleiden".95)
86) Lazis "Zwei Jahre Kampf auf der inneren Front", S. 14 (russ.).
87) "Die Kommun. Partei in ihren Resolutionen", S. 175 (russ.),
88) Lenin, Bd. XVIII, Teil 1, S. 88.
89) Lenin, ebendaselbst.
90) Lenins Wort, oft und in vollem Ernst zitiert, 11.KK, S. 410; des XII. Kommun. Kongresses, S. 465; auch mit Pathos von Klara Zetkin wiederholt: 13.KK, S. 55. Siehe auch z.B. die führende Moskauer Kommun. Zeitung Prawda v. 12.5.1929: "Ja, wirklich, es gibt bei uns wenig Menschen, die ein Auto zu führen verstehen, dafür hat aber in dieser Zeit jede Köchin gelernt, den Staat zu regieren. Und dieser ist, augenscheinlich, eine nicht weniger komplizierte und reißende Maschine." usw. Auch bei Bucharin wird das Wort "Köchin" durch Schrägschrift hervorgehoben. "Das ABC ...." S.152. Die Zustände, die aus diesen Versuchen entstehen, werden im Aufsatz "Karussell. Die Köchinnen übernehmen die Verwaltung" (in der Prawda, 1930, Mai) geschildert.
91) Lenin, Nd. XVIII, Teil 1, S. 233 (russ.).
92) Vgl. Iswestija, 1929, V. 12., Aufsatz von L. K.
93) Siehe Todorsky und Lenin, XVIII, Teil 2; S. 40, 41 (russ.).
94) Ebendaselbst, S. 39.
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"Erst dann werden wir imstande sein, die Wirtschaft zu führen, wenn die Kommunisten es verstehen werden, diese Wirtschaft mit fremden Händen aufzubauen".96) "Eine kommunistische Gesellschaftsordnung mit den Händen der Kommunisten aufbauen zu wollen — ist eine kindische, vollständig kindische Idee",97) behauptet Lenin. Die Kommunisten müssen "bei der Bourgeoisie lernen, sie zurechtweisen und auf den Weg hinlenken, den sie selbst gehen wollen":98) so müssen die ehemaligen Offiziere, die Ingenieure, die gewesenen Fabrikanten, Kaufleute, Lehrer, Professoren, Kooperatoren usw.99) — geknechtet und ausgenützt werden. Natürlich ist diesem "Gesindel"100) nicht zu trauen, aber diese Gefahr werden die Kommunisten durch Terror und Geheimpolizei schon zu bekämpfen verstehen.
Diktatur des Proletariats
So etwa wird die Diktatur des Proletariats aussehen. "Sie bedeutet nicht das Ende des Klassenkampfes, sondern dessen Fortsetzung in neuer Form und mit neuen Mitteln".101) Das ist leicht zu erklären. Die Kommunisten "gleichen der Volksmasse gegenüber — einem Tropfen im Meere".102) Nach der Enteignung des Kapitals bleibt ja vorläufig noch "die letzte kapitalistische Klasse, die tiefste Grundlage des Kapitalismus — der Kleineigentümer und der Kleinproduzent", also auch der Bauernstand,103) "der weder an den Sozialismus noch an den Kommunismus glaubt und sich vor dem proletarischen Ansturm kräftig verschanzt".104)
Mit "den kleinbürgerlichen Elementen der Arbeiterklassen" zusammengerechnet, macht diese gefährliche soziale Schicht "in allen kapitalistischen Ländern (nur England vielleicht ausgenommen) über 50 % der gesamten Bevölkerung aus; und in der Bekämpfung dieser Schicht besteht nun die Hauptaufgabe"105) der sozialistischen Revolution. Dazu ist die Diktatur unbedingt notwendig; sie ist nichts anderes als ein "erbitterter, ein rasender" Krieg,106) ein "viel grausamerer, ein langwierigerer und hartnäckigerer Krieg, als ein beliebiger von allen irgendwann gewesenen Kriegen".107)
95) Ebendaselbst, S. 40.
96) Ebendaselbst, S. 41.
97) Lenin, ebendaselbst, S. 41.
98) Im Original noch viel ausführlicher. Siehe Lenin, Bd. 18, Teil 2, S.41-42. Vgl. das öffentliche Geständnis von Ossinsky, 11.KK, S. 444 (russ.). Siehe auch bei Larin, 11.KK, S.99
99) Eine Aufzählung findet man bei Lenin, Bd. XVIII, Teil l, S. 255 (russ.).
100) Lenin, ebendaselbst, S. 226.
101) Ebendaselbst, S. 317.
102) Ebendaselbst, S. 41, 51.
103) Ebendaselbst, S, 326.
104) Ebendaselbst, S. 205.
105) Lenin, Bd. XVIII, Teil l, S. 325, 374.
106) Ebendaselbst, S. 336, 376, 377.
107) Ebendaselbst, S. 401. Vgl. Sinowjefs Rede und die Resolution des XI. Kommun. Kongresses. Sten. Bericht, S. 351, 492 (russ.).
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Solange diese Diktatur andauert, wird es im ganzen Lande nur eine einzige, nämlich die Kommunistische Partei, geben: sie behält das Parteimonopol.108) Keine andere Partei wird geduldet. Krieg ist Krieg: man herrscht und handelt "nach militärischer Art".109) "Der absolute Wert der bürgerlichen Rechte und Freiheiten" ist nichts anderes als eben "Vorurteil",110) die demokratischen Lebensformen — desgleichen. Weder Pressefreiheit noch freies Wort werden gestattet:"111) nur "Träume und verschwiegene Überzeugungen werden nicht bekämpft".112) Es soll "Das Rückgrat der Feinde gebrochen werden",113) und jeder Widerstand muß unterdrückt werden,114) bis der Kommunismus im internationalen Maßstabe den Sieg davongetragen haben wird.115)
Der Kommunismus
Der Sinn dieser Diktatur besteht darin, daß der Kommunistischen Partei ein unbedingtes, politisches Monopol zugesichert wird. Demzufolge wird die weitere Entwicklung der Revolution darin bestehen, daß dieses politische Monopol durch ein ebenso unbedingtes wirtschaftliches Monopol ergänzt wird: Die Wirtschaft wird zum ausschließlichen Vorrecht des kommunistischen Staates. Damit wird die soziale Revolution zur sozialistischen; und so wird der Hauptzweck der Kommunisten erreicht werden. Das Monopol des Arbeitgebens gehört zum Wesen der kommunistischen Lebensordnung: in ihr gibt es nur eine alles beherrschende Staatsgewalt und eine Masse hilfloser Arbeitnehmer, die dem monopolistisch eingestellten Parteistaate auf Leben und Tod preisgegeben bleiben.
108) Stalin, 14. KK, S. 53. Siehe auch "Die russische Kommunistische Partei in ihren Resolutionen", S.295.
109) Lenin, XVIII, Teil l, S. 336 (russ.).
110) "Die russische Kommunistische Partei in ihren Resolutionen", Resolution des VIII. Kommun. Kongresses, S. 161.
111) Lenin, Bd. XVIII, Teil 1, S. 336, 79.
112) Tomsky, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 301-302 (russ.). ,.
113) Sinowjef, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 351.
114) Vgl. "Die russische kommunistische Partei in ihren Resolutionen", S.171.
115) Kamenef, Stenogr. Bericht des XII. Kommun. Kongresses, S. 7 (russ.).
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"Im Vergleich mit dem Sozialismus ist der Kapitalismus das Übel";116) "das Staatsmonopol ist aber vom Standpunkte des Sozialismus aus — das Allerbeste".117) "Privateigentum und Kapital trennen die Menschen"; wogegen "das kollektive Eigentum und die Arbeit die Menschen in nähere Verbindung bringen".118) "Die bürgerliche Ordnung muß abgeschafft werden: mit der Privatinitiative, mit der wirtschaftlichen Konkurrenz und der Anarchie, mit ihren Krisen, mit der Arbeitslosigkeit, mit den ewigen imperialistischen Kriegen und allem drum und dran.119) Dann erst kommt die neue Welt, die Welt der neuen Produktionsverhältnisse und der wirtschaftlichen Freiheit, wo die Gesetze der Nationalökonomie nicht mehr gelten werden,120) und wo das Gold nur dazu taugen wird, um in "den allergrößten Weltstädten öffentliche Aborte" aus Gold zu machen (Sic!).121)
In dieser Welt wird es weder Privateigentum an Produktionswerkzeugen, noch Klassendifferenzierung geben. Die ganze Wirtschaft wird monopolistisch organisiert122) und zentralistisch123) geführt werden, nicht von Privatunternehmern,124) sondern von Staatsorganen. Auch als Arbeitgeber wird der Staat zum Monopolisten.125) Alles wird nach einem einheitlichen, allgemeinen Plane genau berechnet und verordnet werden.126) Die "Klassenlosen Arbeitsgenossen werden gezwungen" werden, zu arbeiten und das Verordnete auszuführen. Eine "Planwirtschaft ist ohne Arbeitspflicht undenkbar". "Die Fiktion der Arbeitsfreiheit wird beseitigt" und die Pflicht wird "durch die Realität des Zwanges unterstützt".127)
116) Lenin XVIII, T. 1, S. 222.
117) Lenin. Ebendaselbst S. 146.
118) Vgl. "Die russische Kommunistische Partei in ihren Resolutionen" S. 252 (russ.).
119) Bucharin "Das ABC des Kommunismus" S. 48 (russ.).
120) Vgl. Larin, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 227 (russ.).
121) Lenin XVIII, T. l, S. 415, Dies wäre ein "gerechter, nützlicher und menschlicher" Gebrauch des Goldes.
122) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 48.
123) Lenin XVIII, T. 1, S. 273 (russ.). Vgl. z. B. Lenins Idee, die neue Elektrifizierung des gesamten Landes so einzurichten, daß ganze Gouvernements vom Zentrum aus eingeschaltet und ausgeschaltet werden können. Darüber 15. KK, S.935.
124) Russisch "Chosjajewa". Lenin XVIII, T.1, S.280 (russ.).
125) Siehe hier meinen Aufsatz "Das System des Terrors".
126) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 49 (russ.).
127) Trotzky, Terrorismus und Kommunismus, S. 133 (russ.). Vgl. damit Bucharins sentimentale Schwärmerei über die Abschaffung des Zwanges im künftigen Staate.
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Als "Grundgesetz" bleibt die Regel: "Der Nichtarbeitende — darf nicht essen"; und "die Müßiggänger werden durch Gefängnisstrafe zum Pflichterfüllen erzogen werden".128) Kurz: "Die Arbeit wird militarisiert".129) Nicht nur Gehorsam und Leistung werden erzwungen werden, sondern auch "die aktive Teilnahme"130) an den kommunistischen Arbeiten und Einrichtungen. Dann erst wird auch der Überfluß an Produkten gesichert werden können: dann "wird jeder von allem so viel nehmen dürfen, wieviel er nur brauchen wird"; und nur, wenn die Produkte nicht ausreichen werden, wird die Verteilung je nach geleisteter Arbeit erfolgen,131) oder auch als Ansporn zu Mehrleistung benutzt werden.132)
Der neue Mensch
In allen Schilderungen und bei jeder Gelegenheit geben die Kommunisten ihrer Überzeugung Ausdruck, daß daraus und dadurch eine wirklich neue "Erde", neue Menschen und neue Sitten entstehen werden.133) "Die Hauptsache ist jetzt die Erziehung einer jungen Generation"; jedoch nicht "auf dem alten bürgerlichen Rumpelkram"134): es muß durch neue Methoden der neue Mensch geschaffen werden.
Vorurteilslos muß er sein, der materialistisch und marxistisch eingestellte Kommunist. Also vor allem "religionslos":135) denn "die Religion und der Kommunismus sind weder theoretisch noch praktisch vereinbar";136) "unversöhnlich" sind die religiösen Gebote und die "Verordnungen", die "Richtlinien" der kommunistischen Partei, so daß ein religiöser Kommunist — aufhört, Kommunist zu sein.137) So steht es auch mit der bürgerlichen Moral und Sittlichkeit, auch mit der Liebe zum Vaterland. "Die Proletarier haben ja kein Vaterland";138) und die nationale Zusammengehörigkeit der Menschen hat auch nichts zu bedeuten."139) Das Proletariat ist überhaupt dazu berufen, "das bürgerliche Vaterland nicht zu verteidigen oder zu erweitern, sondern zu sprengen".140)
128) Lenin XVIII, T. l, S. 249, 253.
129) Ebendaselbst, S. 30, Trotzky op. cit. .
130) Lenin. Ebendaselbst S. 131.
131) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 51.
132) Lenin XVIII, T. l, S. 293.
133) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 52; siehe auch 13. KK, S. 543 (russ.).
134) Lenin, Bd. XVIII, T. 2, S. 55.
135) Vgl. "Lenins Gedanken über die Religion" (russ.: "Mysli Lenina o religii"), S. 25, 23, 112, 132, 137. U. a. (siehe meine Rede vom 23. Februar 1930, abgedruckt in der Halbmonatsschrift "Der Lutherring"). Bucharin, "Das ABC des Kommunismus" (russ.), S. 184, 185, 186-188, 189, 190. Jaroslawsky, "Na antireligiosnom Fronte", Sowjetausgabe, S. 47, 54, 56, 59, 66, 71, 93, 105 u. a.
136) Bucharm, "Das ABC des Kommunismus'5, S. 184.
137) Ebendaselbst, S. 185.
138) Bucharins marxistische These, "Das ABC des Kommunismus", S. 105.
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Der neue Mensch darf keine Familienerziehung genießen. Lächerlich ist der Anspruch der Eltern — ihren Kindern die "eigene Borniertheit einzuprägen";141) besonders da ja "die Fähigkeit, Kinder zu erziehen, seltener zu finden ist, als die Fähigkeit, Kinder zu zeugen".142) "Die Zukunft gehört der öffentlichen Erziehung", und die Kinder müssen von ihrer Familie losgerissen werden — "entweder für immer oder für lange Zeit".143) Die Erziehung werden die kommunistischen "Kindergärten", "Kinderkolonien" usw. übernehmen. Die Schulen müssen rein kommunistisch eingerichtet und rein "marxistisch" geführt werden;144) die Lehrer aber müssen eine systematische "antireligiöse Propaganda" entfalten145) und zum gehorsamen "Werkzeug" des Kommunismus werden; — die Unbotmäßigen und Unfähigen werden "schonungslos vertrieben".146)
Das betrifft auch die Professoren der bürgerlichen Universitäten, denn sie sind ja nichts anderes, "als die vom kapitalistischen Staate herangezüchteten Fachleute für die Verblüffung, Betäubung und Bezähmung des Proletariats".147) Kurz, die kommunistische Schule muß überhaupt von oben bis unten Werkzeug des proletarischen Interesses und der kommunistischen, wirtschaftlichen Produktion werden.
Der neue Mensch darf auch kein Fachmann sein, sondern er muß eine "allseitige", fachlose, integrale Erziehung bekommen.148) Er muß alles können und alles verstehen und immer bereit sein, "sich auf eine andere beliebige Zwirnrolle umzuwickeln":149) erst dann wird er wirklich der kommunistischen Zentrale unbedingt und allseitig zur Verfügung stehen können.
139) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 105.
140) Resolutionen des XI. Kommun. Kongresses. Stenogr. Bericht S. 485.
141) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 173.
142) Ebendaselbst, S. 173.
143) Ebendaselbst, S. 173/174.
144) Krupskaja (Lenins Witwe). Stenogr. Bericht des XIII. Kominun. Kongresses, S. 480.
145) Ebendaselbst.
146) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 172.
147) Ebendaselbst, S. 28.
148) Vgl. Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 50-52, 176; vgl. bei Lenins Witwe, Frau Krupskaja, Prawda, 1930, V. 10; auch in Lunatscharsky's Rede, Juni 1928.
149) Bucharins Formel; siehe Iswestija, 1927, XII. 20.
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Gestern als Schuhmacher tätig, wird er heute zum Bäcker werden, um morgen als Direktor an einer Seifensiederei angestellt zu werden und übermorgen als prominenter Gelehrter oder als Handarbeiter zu fungieren.150) Wohl ist es nicht so leicht, dies alles zu erreichen, die "Gewohnheiten der Jahrhunderte"151) auszutilgen und neue zu schaffen. ...
Wie dieses Neue aber positiv zu bestimmen ist und aussehen kann — bleibt ein Fragezeichen. Die Kommunistische Revolution will in allem das Gegenteil vom "Bürgerlichen" herbeiführen und bleibt im Negativen stecken. Dafür wird aber die positive Antwort vom realen Leben gegeben, wie jetzt z.B. in Rußland.
Die Hoffnungen
Wie dem auch sein mag, die neue Welt kann doch nicht ausbleiben: nach dem Gesetz der "Dialektik" wird sie schon im Schoße der alten Welt geboren. "Die bürgerliche Lebensordnung hat sich endgültig erschöpft. Im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft können die produktiven Kräfte sich nicht weiter entfalten"; "ihr Zerfall, ihre Zersetzung hat schon angefangen".152) "Das kapitalistische Regime neigt sich zum Untergange."153) "Der Stern der internationalen Bourgeoisie geht nieder."154) "Jetzt ist nur zweierlei möglich: entweder eine allgemeine Zersetzung, ein vollständiges Chaos, ein Blutbrei, eine fortschreitende Verwilderung, Unordnung und wirkliche Anarchie — oder Kommunismus."155) Der europäische Kapitalismus gleicht einem zermürbten und geflickten alten Hemde; es braucht nur jemand an einem Faden zu ziehen — ein Chamberlain, ein Poincaré, ein Mussolini oder ein Pilsudsky — und alles wird auseinanderfallen.156)
150) Siehe die eingehende Behandlung dieser Theorie bei Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 50, 176. Auch entspricht genau diesem Standpunkte die administrative Praxis der Kommunistischen Partei in Rußland (das sogen. "Perebrassywanije", das rücksichtslose Hin- und Herwerfen der Arbeitskräfte).
151) Lenin, Bd. XVIII, T. l, S. 56.
152) Trotzky, "Fünf Jahre in der Komintern", S. 269, 270 (russ.).
153) Bucharin, Kapitalistische Stabilisierung und proletarische Revolution 1927, S. 161 (russ.).
154) Kamenef, 12.KK, S. 16 (russ.). Vgl. Lenins grobe Formel: "stinkende Eiterbeule", XVIII, T. 2, S. 68.
155) Bucharin, "Das ABC des Kommunismus", S. 99.
156) Stalins Gleichnis, zitiert von Uglanof, 15.KK, S. 125 (russ.). Diesetwegen kann man die Kommunisten nach Belieben auslachen; sie wissen indes gut, daß "derjenige am besten lacht, der zuletzt lacht". Lenin, Bd. XVIII, T. l, S.334-335 (russ.).
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Die kapitalistische Welt ist voll von tragischen, unlösbaren Widersprüchen: 1. Das Proletariat gegen die Bourgeoisie; 2. die koloniale Bewegung gegen den Imperialismus der Großstaaten; 3. die siegreichen Staaten gegen die besiegten; 4. die siegreichen Staaten untereinander; 5. der kommunistische Sowjetstaat gegen alle kapitalistischen Staaten zusammen.157)
Diese Widersprüche braucht man nur geschickt anzufachen und auszunützen;158) dann wird das übrige von selbst kommen. "Die Divergenz der Interessen verschiedener imperialistischer Länder steigt von Tag zu Tag"159) und "die Katastrophe ist unvermeidlich: ihr Name ist die zweite Kriegsrunde".160) "Reaktionäre, imperialistische Kriege" reifen "an allen Weltenden" heran, und jeder von ihnen muß in eine neue Revolution umgewandelt werden.161) Umsonst sind die Bemühungen des Völkerbundes;162) und der Locarnovertrag birgt in seinem Schoße auch nur einen neuen Krieg.163) Der Weltkrieg von 1914 ist "der erste Versuch gewesen, die schon verteilte Welt anders zu verteilen"; dieser Versuch kostete dem Kapitalismus viel: Revolution in Rußland und "Auflockerung der Kolonialländer und der abhängigen Staaten", — das war der Preis. Jetzt kommt der zweite Versuch; er wird schon vorbereitet; zu ihm wird schon gerüstet; und der Preis des zweiten Versuchs wird bedeutend höher ausfallen:164) die Erschütterung und die Zerrüttung der bürgerlichen Ordnung wird unendlich größer werden.165)
Dagegen "braucht der Sowjetstaat durchaus keinen Krieg", er braucht "friedliche, wirtschaftliche Arbeit".166) Die gewünschte Frucht reift für ihn ohne Kriegswaffe. Die Arbeiterbewegung ist in der ganzen Welt im Aufstiege; die Arbeitermassen wenden sich immer mehr nach links;167) und ihre Führerin, die Sozialdemokratie "geht immer mehr nach rechts".168) Die Arbeitslosigkeit in Europa wächst;169) und die Lage der Arbeitermassen wird notwendigerweise immer schlimmer werden.170) Dann wird der Augenblick kommen, wo unter der Last der Rüstungen die Kanonen von selbst zu sprechen anfangen werden;171) die Arbeitermassen werden ihre Gewehre gegen den Kapitalismus umkehren,172) und die Weltrevolution ist da. Und dann "werden wir, die russischen Kommunisten, Hand in Hand mit den ausländischen Arbeitern in den Straßen der europäischen Hauptstädte Schlachten schlagen".173)
Damit wären die Ziele und die Hoffnungen der Kommunisten auf Grund authentischen Materials unzweideutig festgestellt. Die Revolution in Rußland ist aber nichts anderes, als ein einheitlicher, andauernder Versuch, diese Ziele zu verwirklichen und diese Aufgaben unmittelbar in der Fülle des konkreten Lebens zu lösen. In welcher Hinsicht und ob es überhaupt gelingt, nach welchen Methoden gearbeitet wird, was daraus entsteht und welche Früchte an dem Baum dieser Politik reifen — dies wolle man aus dem Inhalte unseres Sammelwerkes ersehen.
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157) Stalin, 14.KK, S. 9 (russ.); später mehrmals von anderen zitiert. Siehe auch ganz besonders Stalins einleitende Rede zu den Sitzungen des XVI. Kommun. Kongresses (Juni-Juli 1930), wo er sich auch über Deutschland äußert. Prawda, 1930, VI. 29.
158) Rjasanof, Stenogr. Bericht des XI. Kommun. Kongresses, S. 71 (russ.).
159) Lenin, Bd. XVIII, T. l, S. 511/12 (russ.).
160) Bucharin; Lenins Wort von der "zweiten Kriegsrunde" (VIII. Sowjettagung) wird häufig zitiert, z.B. Kamenef, 12.KK, S. 13; Bucharin, 15.KK, S. 570-71; vgl. die Rede Trotzkys, 11.KK, S. 242.
161) Lenin, Bd. XVIII, T. 2, S. 48 (russ.).
162) Bucharin, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 570 (russ.).
163) Stalin, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 16 (russ.).
164) Stalin, "Noch einmal ...", S. 131 (russ.).
165) Bucharin, Kapit.-Stabilisierung usw., S. 85 (russ.); vgl. seine Rede auf dem XV. K.K., Stenogr. Bericht, S.567, 626 (russ.).166) Woroschilof, 15.KK, S.874; Kamenef: "unsere Strategie wird einfach sein: wenn es nötig sein wird (am Kriege) teilzunehmen, so — je später, desto besser". 12.KK, S.13;
auch bei Stalin fast genau dasselbe, 15.KK, S.47 (russ.); vgl. seine Rede in den Sitzungen des XVI. KK, Prawda, 1930, VI. 29.
167) Stalin und Klara Zetkin, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 45, 10.
168) Stalin, ebendaselbst; auch Losovsky, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 630-631.
169) Bucharin, Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 566.
170) Stalin, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 11.
171) Stalin, Stenogr. Bericht des XIV. Kommun. Kongresses, S. 18.
172) Stenogr. Bericht des XV. Kommun. Kongresses, S. 645 u. a.
173) Eigentlich "uns herumprügeln", 12.KK, S. 24.