T2-8       Start    Weiter

8  Der Fünfjahresplan und die Voraussetzungen seiner Erfüllung      Von  Dr. W. Höffding

 

"Der Fünfjahresplan der Entwicklung der produktiven Kräfte der USSR auf dem Wege einer energischen Indus­trial­isierung und einer konsequenten Befestigung der sozialistischen Elemente der Wirtschaft, setzt sich eine gewaltige Aufgabe — innerhalb der nächsten Jahre das Niveau der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einzuholen und zu überholen; hierdurch soll der Sieg des sozialistischen Wirtschaftssystems in seinem historischen Kampf gegen den Kapitalismus befestigt werden. ...

Diese Aufgabe zwingt uns, gestützt auf die riesigen wirt­schaftlichen Hilfsmittel unseres Landes, auf die Vorzüge einer organisierten Planwirtschaft und auf die Errungen­schaften der Technik der ganzen Welt ein solches Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung einzuschlagen, wie es die Länder des modernen Kapitalismus nicht haben und nicht haben können."

 

   Das Ziel   

356

Mit diesen Worten, mit dieser kühnen Zielsetzung wird die Begründung des Fünfjahresplanes in dem vierbändigen Werk des "Gosplan", der staatlichen Kommission für Planwirtschaft, eingeleitet.1)

Der Fünfjahresplan erscheint als Produkt einer mehrjährigen Arbeit aller wirtschaftlichen Organe der Sowjetunion. In seiner gegen­wärtigen Gestalt ist er von der XVI. Konferenz der Kommunistischen Partei sowie vom Rätekongreß gebilligt und angenommen worden. Zum zweiten Mal wird der Versuch gemacht, das gesamte Wirtschaftsleben eines großen Landes nach einem vom Zentrum aus bestimmten Plane zu regeln und zu bestimmen.  

Die Hoffnungen der Kommunisten gelten — erstens den Naturschätzen Rußlands; zweitens der Zentralisierung sämtlicher wirtschaftlichen Mittel in den Händen einer Zentralgewalt; und drittens ihrem eisernen Willen, dem Entschluß — alle Mittel rücksichtslos einzusetzen, um den Plan zu verwirklichen.

Das Jahrfünft, welches der Plan im Auge hat, umfaßt die Jahre von 1928/29 bis 1932/33, wobei jedes Wirtschaftsjahr am 1. Oktober beginnt. Zur Zeit, wo diese Zeilen abgeschlossen werden, sind bereits die ersten zwei Jahre des Jahrfünfts abgelaufen.

1)  Siehe "Pjatiletnij Plan narodnochosjajstwennago stroitelstwa w SSSR." (russ.) ("Der Fünfjahresplan des volkswirt­schaftlichen Aufbaues der USSR"). Herausgegeben vom "Gosplan", Moskau 1929. B.I, S. 13. Weiterhin zitiert als "Fünfjahresplan".


Im wesentlichen hätten wir hier also mit einer wirtschaftlichen Prognose, also letzten Endes mit einer "Prophezeiung" zu tun. In einem Werke, das sich grundsätzlich nur mit Tatsachen befaßt, nur die Erfahrungen des Kommunismus auf den verschiedenen Gebieten der Politik, der Wirtschaft und der Kultur schildert und einer kritischen Analyse unterwirft, scheint daher die Erörterung dieses Planes wenig angebracht. Und doch kann man schwerlich den Fünfjahresplan schweigend übergehen, bildet er doch die Grundlage der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik der Sowjetregierung. 

Das bedeutet aber nicht, daß wir uns, dem Beispiele der Verfasser des Fünfjahresplanes folgend, auf die schiefe Ebene der "Prophezeiungen" zu begeben beabsichtigen und Urteile über die Durchführbarkeit oder Undurchführbarkeit desselben fällen wollen. Wir wollen vielmehr unsere Aufgabe darauf beschränken, nach einer kurzen Wiedergabe des Hauptinhaltes des Planes, die Voraussetzungen seiner Erfüllung festzustellen, um dann zu untersuchen, inwieweit sich diese Voraussetzungen während der beiden ersten Jahre, also in den am 1. Oktober 1930 abgeschlossenen Wirtschaftsjahren 1928/29 und 1929/30, tatsächlich bewährt haben.

 

 Das Tempo  

Der Fünfjahresplan steht, wie schon die anfangs angeführten Worte zeigen, im Zeichen der beschleunigten Industrialisierung Rußlands. Die kapitalistischen Länder sollen in kürzester Zeit "eingeholt und überholt" werden; das westeuropäische, ja selbst das amerikanische Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung soll durch die kommunistische Industrialisierung übertroffen werden. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das, daß die Produktion der "planierten", d.h. dem Obersten Wirtschaftsrate der Union unterstehenden Industrie dem Werte nach von 10 909 Millionen Rubel im Jahre 1927/28 auf 30 447 Millionen im Jahre 1932/33 gesteigert werden soll; mit anderen Worten, sie soll innerhalb von fünf Jahren verdreifacht werden. Der Koeffizient der jährlichen Zunahme steigt allmählich von 21,4 Proz. auf 25,2 Proz. (im Schlußjahre des Jahrfünfts). 

Die landwirtschaftliche Produktion soll bezeichnenderweise bedeutend langsamer gesteigert werden: sie steigt von 16.659 Millionen Rubeln im Anfangsjahr auf 25.806 Mill. Rubel im Schlußjahr — eine Steigerung von im ganzen "nur" 54,9 Prozent. Das Zuwachstempo ist also halb so schnell wie bei der industriellen Produktion. Dementsprechend verschiebt sich der Anteil der beiden Produktionszweige am gesamten Volkseinkommen innerhalb des Jahrfünfts zugunsten der Industrie. Der Anteil der Industrie vergrößert sich von 31,6 auf 34,2 Prozent, derjenige der Landwirtschaft fällt von 45,8 Prozent auf 38,7 Prozent. Trotzdem überwiegt die Landwirtschaft anteilmäßig auch am Ende der ganzen Periode.

357


Diese gewaltige Produktionssteigerung soll durch eben, gewaltige Kapital-Investierungen des Sowjetstaates in Industrie, Landwirtschaft und Verkehrsmitteln ermöglicht werden. Die Gesamtsumme dieser Investierungen beträgt nach dem Fünfjahresplane 64.601 Millionen Rubel, von denen für die Industrie (einschließlich der Elektrifizierung) etwa 20 Milliarden Rubel bestimmt sind.

Hand in Hand mit der absoluten Zunahme der Produktion soll der Prozeß der "Sozialisierung" in beschleunigtem Tempo vor sich gehen; der "sozialisierte" Sektor der Volkswirtschaft soll auf Kosten des "privatwirtschaftlichen" Sektors erweitert werden. Der Anteil des ersteren an der Gesamtbruttoproduktion erhöht sich im Laufe des Jahrfünfts von 45,9 Prozent auf 66,5 Prozent, bei einer parallelen Abnahme des Anteils des letzteren von 54,1 Prozent auf 35,5 Prozent. Besondere Aufmerksamkeit wird der Erweiterung des "sozialisierten" Sektors innerhalb des Ackerbaues, der Schaffung einer eigenen landwirtschaftlichen Basis für den städtischen Kommunismus, der Befreiung des Sowjetstaates vom widerspenstigen, an seinem Individualismus und an seiner Privatwirtschaft hängenden Bauern geschenkt. Ein Betrag von 2 Milliarden Rubeln soll in den "Sowchosy" (Staatsgüter) und "Kolchosy" (kollektive Landwirtschaften) investiert werden. Die Verfasser des Planes — in seiner ursprünglichen Fassung — rechneten damit, daß am Ende des Jahrfünfts der sozialistische Sektor in der Landwirtschaft 15 Prozent der Bruttoproduktion und 25 Prozent der für den Markt bestimmten Produktion liefern werde.

Wir verzichten hier auf eine Untersuchung der administrativ-technischen Voraussetzungen des Fünfjahresplanes, das heißt auf eine Prüfung der Frage, inwieweit der Verwaltungsapparat der Sowjetindustrie der Lösung dieser Riesenaufgaben gewachsen ist, die in der europäischen, ja sogar in der amerikanischen Industrie kein technisches Vorbild zu verzeichnen haben;2) wir werden uns aber mit der Frage etwas näher befassen, aus welchen Quellen die 60 Milliarden Rubel beschafft werden sollen, die den Wert der vorgesehenen Kapitalinvestierungen repräsentieren.

 

Das "finanzielle Manöver" 

Es sei zuerst darauf hingewiesen, aus welchen Quellen diese gewaltigen Mittel nicht bereitgestellt werden können. Es gibt in der Sowjetunion, bei der schon durchgeführten und streng überwachten sozialen Nivellierung der Bevölkerung "nach unten" — keine freie Akkumulation des Privatkapitals, durch welche die Erneuerung und Erweiterung des Produktionsapparats in allen "kapitalistischen" Ländern finanziert wird.

 

2)  Authentisches Material zur Beurteilung dieser Frage findet der Leser im Aufsatz "Kommunismus als Beamtenherrschaft" im vorliegenden Sammelwerke.

358


Des weiteren reichen die Steuereinnahmen und die ihnen grundsätzlich gleichzustellenden Einnahmen aus den Sowjetanleihen,3) trotz starker Anspannung der Sowjetbudgets, bei weitem nicht aus, um die Riesenbeträge der Kapitelinvestierungen des Fünfjahresplanes aufzubringen.

Es bleibt nur eine Quelle — nämlich die Mittel der Industrie selbst. Gestützt auf seine "Kommandohöhen" — die nationalisierte Industrie, das Außenhandelsmonopol, das Kredit- und Verkehrsmonopol — ist der Sowjetstaat in der Lage, gewaltige Mittel durch den Mechanismus der preise zu akkumulieren. Diese "Akkumulation durch den Mechanismus der Preise" repräsentiert den Stein der Weisen, den Schlüssel des gesamten Planes. Seine Durchführbarkeit beruht auf folgenden Voraussetzungen:

1. auf der maximalen Senkung der Produktionskosten der Sowjetindustrie — innerhalb des Jahrfünfts muß die Senkung im Durchschnitt für die gesamte Industrie 35 Prozent erreichen;

2. auf einer verhältnismäßig verzögerten Senkung der Verkaufspreise.

Durch dieses "finanzielle Manöver", wie es der Fünfjahresplan nennt,4) soll eine möglichst große Kluft, ein "Riß" ("Rasryv"), um einen anderen Ausdruck der Verfasser des Planes zu gebrauchen — zwischen Selbstkosten und Verkaufspreisen geschaffen werden. Der aus diesem "Riß" resultierende Gewinn, den der kommunistische Staat in seinem überwiegenden Teile für Kapitalinvestierungen verwenden will, bildet die wichtigste finanzielle Voraussetzung der Erfüllung des Planes. 

Die Senkung der Produktionskosten, die eine Folge des technischen Fortschrittes und der steigenden Produktivität der Arbeit sein soll, kommt also nicht den Verbrauchern in Form einer Verbilligung der Verkaufspreise zugute, wie es in einer privatwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft meistens automatisch, infolge der Konkurrenz geschehen würde, sondern sie wird vom kommunistischen Staate für seine Zwecke ausgenutzt, um den Monopolgewinn zu steigern. Letzten Endes geht also das finanzielle Vorhaben des Fünfjahrsplanes darauf aus, "durch den Mechanismus der Preise" den privatwirtschaftlichen Sektor der Sowjetwirtschaft, d.h. in erster Linie die Bauern, zur Finanzierung des ganzen Planes heranzuziehen und sie entsprechend auszubeuten.

 

3) Siehe meinen Aufsatz: "Staatsfinanzen, Währung und Kredit in Sowjetrußland."
4) Der Fünfjahresplan, B. II, T. 2, S. 315.

359


Es genügt nicht etwa, daß die Produktion der Menge nach vergrößert wird. Diese Steigerung selbst ist nur unter gewissen finanziellen Voraussetzungen möglich, von denen die wichtigste, — den ganzen Plan beherrschende Voraussetzung — in der Senkung der Selbstkosten um 35 Prozent besteht. Die ganze Begründung des Fünf jahrsplanes weist mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß das Gelingen dieses kühnen "finanziellen Manövers" vollständig davon abhängt, ob die geplante Senkung der Selbstkosten innerhalb der vorgesehenen Termine eintreten wird.5) Denn bei der allgemeinen großen Gespanntheit des Planes und seiner Koeffizienten läßt sich das, was in einem Jahre versäumt worden ist, kaum mehr in den verbleibenden Jahren nachholen. Die ausschlaggebende Bedeutung dieses Momentes wird wiederholt durch Finanzsachverständige der Sowjetregierung betont. "Ein Durchbruch auf dieser Linie" (der Senkung der Selbstkosten. Der Verf.) "würde den Zusammenbruch des gesamten Finanzplanes nach sich ziehen" — schreibt Professor M. Bogolepof.

 

 Die "Durchbrüche" 

Nach dieser kurzen Schilderung der Voraussetzungen des Fünfjahresplanes soll nunmehr geprüft werden, inwieweit, nach den vorliegenden sowjetamtlichen Angaben, die verschiedenen quantitativen und qualitativen Koeffizienten des Planes in den ersten beiden Jahren seiner Durchführung erreicht worden sind.

Die größten Erfolge scheinen in der rein mengenmäßigen Erweiterung der Produktion erreicht worden zu sein. Laut einer vorläufigen Zusammenfassung der Ergebnisse der ersten beiden Jahre, die in der Zeitung des Obersten Wirtschaftsrates der Sowjetunion erschienen ist,6) betrug die mengenmäßige Zunahme der Produktion in der gesamten Industrie Sowjetrußlands für das Jahr 1928/29 — 24 Prozent, und für das Jahr 1929/30 — 24,2 Prozent (beides gegenüber dem Vorjahr). Obgleich die letzte Zahl gegenüber einem Soll des Planes für das zweite Jahr von 50,8 Prozent um 5 Prozent zurückbleibt, so erscheint doch diese Zunahme, im Vergleich zu den normalen Steigerungskoeffizienten der kapitalistischen Industrie Europas, ja sogar Amerikas, so gewaltig, daß eine nähere Analyse dieser Zahlen geboten erscheint. Zunächst muß betont werden, daß die Qualität der sowjetamtlichen statistischen Angaben, wie immer man deren Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit im allgemeinen beurteilen mag, in den beiden letzten Jahren nachweislich stark nachgelassen hat. Aber auch, wenn wir auf dem Boden der statistischen und sonstigen Angaben der Sowjetregierung selbst bleiben, läßt sich vieles anführen, was beweist, daß die scheinbaren quantitativen Erfolge des Fünfjahresplanes durch Nichterfüllung seiner qualitativen Koeffizienten mindestens aufgewogen werden.

 

5) Der Fünfjahresplan, B. II, T. 2, S. 321.
6) "Sa Industrialisaziu", vom 1. Oktober 1930.

360


Für die ganze Zielsetzung des Planes und die Einstellung seiner Verfasser, für das an Monomanie grenzende Bestreben, vor allem eine Riesenindustrie der Produktionsmittel zu schaffen, — ist es durchaus bezeichnend, daß auch die größte Steigerung auf dem Gebiet der Herstellung von Produktionsmitteln verzeichnet wird. Hier beträgt z. B. die Steigerung, innerhalb des zweiten Jahres allein, angeblich 37,7 Prozent gegenüber einem Soll von 39,7 Prozent; der Plan ist also zu 98,6 Prozent erfüllt worden. Demgegenüber beträgt die Steigerung bei der Produktion von Konsumwaren, von Gegenständen des unmittelbaren Verbrauches, nur 11,1 Prozent gegen ein Soll von 23,8 Prozent. Ja, in einer Industrie, die von größter Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung mit Gegenständen des täglichen Bedarfs ist, in der Baumwollindustrie, ist die Produktion im zweiten Jahre des Planes um 16,7 Prozent zurückgegangen, dem Werte nach von 2,826 auf 2,353 Millionen Rubel. 

Bezeichnenderweise scheint der Mangel an Rohstoffen, die in diesem Falle ungefähr je zur Hälfte aus der einheimischen Landwirtschaft stammen und durch Einfuhr aus dem Auslande beschafft werden, die Hauptursache dieses Rückganges gewesen zu sein. Auch bei der Schwerindustrie ist eine Verschlechterung der Lage in einzelnen Zweigen gegen Ende des zweiten Jahres zu verzeichnen. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht der Ausfall in der Kohlenförderung des Donezbeckens in den Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1930. Infolge ungenügender Versorgung mit Lebensmitteln und unbeschreiblich schlechter Wohnungsverhältnisse haben die Bergleute die Schächte fluchtartig verlassen. Sie konnten nur unzureichend durch "mobilisierte" Bauern ersetzt werden.

Selbstkosten

Was nun die qualitativen Koeffizienten des Planes anbelangt, so hat der letztere in den beiden ersten Jahren seiner Durchführung den größten "Durchbruch", wie es die russischen Kommunisten in offiziellen Kundgebungen und Aufrufen gewöhnlich nennen, auf dem Gebiete einer Senkung der Selbstkosten der Sowjetindustrie erlitten.

Während der Plan im zweiten Jahre eine durchschnittliche Senkung der Selbstkosten um 11,2 Prozent vorsah, betrug dieselbe tatsächlich nur 7,1 Prozent.7) Die Ergebnisse für einzelne, besonders wichtige Industrien sind noch unbefriedigender.

 

7)  "Sa Industrialisaziu", vom 1. Oktober 1930.

361


So, zum Beispiel, bei Eisen und Stahl beträgt die Senkung nur 3,9 Prozent. Und bei Kohlen im Donezbecken, im russischen Ruhrgebiet, wo sich die Verhältnisse im Jahre 1950 überhaupt sehr verschlechtert haben, sind die Selbstkosten im Juli gegenüber dem Vorjahre um 8,9 Prozent gestiege n.8) "Von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr müssen wir zusehen, wie die Qualitätskoeffizienten des Planes nicht ausgeführt werden", — schrieb das Organ des Obersten Wirtschaftsrates der Union im Sommer 1930.9)

Wenn man aber bedenkt, welche Bedeutung die Verfasser des Fünf jahresplanes der Senkung der Selbstkosten nicht nur überhaupt, sondern innerhalb der vorgesehenen Termine, beimaßen, so geht aus diesen Zahlen ohne weiteres hervor, von welch verhängnisvollen Folgen ein "Durchbruch" auf diesem "Abschnitt der Front" für das Gelingen oder Nicht-Gelingen des "finanziellen Manövers" des Planes sein mußte.

 

Qualität der Sowjetwaren

Von besonderer Wichtigkeit ist weiter die Feststellung, daß, soweit eine Senkung der Selbstkosten überhaupt stattgefunden hat, sie zum großen, wenn nicht zum überwiegenden Teile auf Kosten d er Qualität der War e selbst erfolge, die eine weitere Verschlechterung erfuhr.9a) Das leitende Wirtschaftsorgan der Moskauer Regierung, die "Ekonomitscheskaja Shisn", weiß fast in jeder Nummer von der fortschreitenden, zu einer großen Kalamität gewordenen Verringerung der Qualität der industriellen Erzeugnisse zu berichten. Die Qualitätsverringerung, prozentual im Vergleich zum Vorjahre ausgedrückt, beträgt nicht selten 20 bis 30 Prozent, was nichts weniger besagt, als daß die quantitative Steigerung der Produktion in vielen Fällen durch eine Verringerung der Qualität und, entsprechend, durch eine geminderte Verwendbarkeitund Absatzfähigkeit der Ware mehr als ausgeglichen wird. In diesem Zusammenhange verdient die immer wiederkehrende Feststellung der Sowjetpresse besondere Beachtung, wonach die Qualitätsverringerung der Waren eine direkte Folge der Senkung der Selbstkosten ist.10) Der Vorgang spielt sich ungefähr folgendermaßen ab. Der Leiter eines staatlichen Trusts erhält einen Befehl der Zentralbehörde, der gewöhnlich von Strafandrohungen für den Fall der Nichtausführung begleitet wird, die Selbstkosten des ihm unterstellten Betriebes innerhalb einer bestimmten Frist um so und so viel Prozent herabzusetzen. Da eine solche Forderung, eine mechanische Herabsetzung der "durchschnittlichen" Selbst-

 

8) "Prawda", vom 12. September 1930. 
9) "Sa Industrialisaziu", vom 18. Juli 1950.
9a) Vgl. z. B: "Trud". 1930. 22. November, Nachricht aus Leningrad. 
10) S. "Ekonomitscheskaja Shisn", vom 6., 10. und 21. März, 17. April, 22. Juni 1929.

362


kosten durchzuführen, meistens aus objektiven Gründen gar nicht oder nur schwer zu erfüllen ist, so wählen die betreffenden Betriebsleiter den Weg des geringeren Widerstandes und erreichen — allerdings nur auf dem Papier — die geforderte Herabsetzung der Produktionskosten durch eine bewußte Verschlechterung der Ware, oder sie schränken, — um den geforderten "Durchschnitt" zu erreichen, — die Produktion auf diejenigen Warensorten ein, die relativ niedrigere Kosten fordern, und zwar unabhängig von den Bedürfnissen des Marktes. So wird auf die auffallende Tatsache hingewiesen, daß in der Wollweberei die Menge der hergestellten Stoffe ohne eine entsprechende Zunahme der verwendeten Wolle gesteigert worden ist.11)

Daß auch im zweiten Jahre des Fünfjahresplanes hinsichtlich der Qualität der industriellen Erzeugnisse keine entscheidende Wendung zum Besseren eingetreten ist, geht aus einem gemeinsamen Rundschreiben hervor, das Ende Juli 1930 von den Wirtschaftszentralen in Moskau, einschließlich der Gewerkschaftszentrale, ausgegeben wurde. Dort heißt es: "Die Qualität der industriellen Erzeugnisse bleibt unbefriedigend. In einer Reihe von Industriezweigen hat sie sich weiter verschlechtert. Besonders unhaltbar sind die Zustände bei der Herstellung von Waren des allgemeinen Konsums. Die Verringerung der Qualität hat, indem sie die Gebrauchsdauer der Ware vermindert, zur Folge, daß sie den herrschenden Warenmangel verschärft und den Reallohn der Arbeiter und Angestellten herabdrück t."12)

Die oben unterstrichenen Worte erklären unter anderem ein Rätsel, welches sich bei der Beobachtung der Vorgänge in der Sowjetwirtschaft bietet. Wenn es nämlich stimmt, daß die Produktion in der Sowjetindustrie um 20 Prozent im Jahre zunimmt (oder um einen kleineren Prozentsatz wie es in den meisten Konsumwarenindustrien der Fall ist), wie ist es dann möglich, daß der Warenmangel in allen Gegenständen des täglichen Bedarfs — Kleidung, Schuhe, Seife usw. — nicht in Abnahme, sondern in ständiger Zunahme begriffen ist, daß eine der "Errungenschaften" der kommunistischen Industrialisierung und einer der "Erfolge" des Fünf jahresplanes für die breite Masse der Bevölkerung sich darin äußert, daß nunmehr fast sämtliche Industriewaren rationiert und nur gegen Karten oder "Beziigsbücher" erhältlich (ja manchmal sogar nicht erhältlich!) sind? Selbst zugegeben, daß die Angaben

 

11)  S. Perwuschin, "Narodnoje chosjajstwo SSS R. w III. Kwartale" (russ.) ("Die Volkswirtschaft der U. S. S. R. im III. Quartal 1928/29"), "Ekonomitscheskoje Obosrenije", 1929, August, S. 111.
12) "Ekonomitscheskaja Shisn", vom 2. August 1930.

363


der Sowjetstatistik über die Produktionsmengen im großen und ganzen richtig sind, so liegt in der geschilderten Verschlechterung der Qualität die Lösung dieses Paradoxons. Reicht ein Paar Gummischuhe infolge der Qualitätsverringerung nur für sechs Monate aus, anstatt, wie früher, für ein Jahr (wie das neulich von einer Regierungskommission festgestellt wurde), so müssen eben, (soweit es sich um Gegenstände des unvermeidlichen Bedarfs handelt), zwei Paar Gummischuhe im Jahre gekauft werden. Oder mit anderen Worten: bei einer derartigen Verringerung der Qualität und Dauerhaftigkeit der Ware um 50 Prozent, bedeutet eine Steigerung der Produktion von Gummischuhen beim Gummitrust um 25 Prozent gar keine effektive Steigerung, sondern im Gegenteil eine verhältnismäßige Senkung der Produktion um den gleichen Prozentsatz.

Zum Schluß sei noch das wichtige Zeugnis des Vorsitzenden des Obersten Wirtschaftsrates der Union, Kujbyschew, zur Frage der Qualitätsverringerung angeführt. In einer am 11. Oktober 1930 stattgefundenen gemeinsamen Konferenz des Wirtschaftsrats und der Gewerkschaftszentrale führte er hierzu folgendes aus:13)

"Der schwerste Durchbruch" (des Fünfjahresplans) "ist zweifelsohne die geringe Qualität unserer Erzeugnisse. Im vergangenen Wirtschaftsjahre haben wir auf diesem Gebiete nicht nur keine Erfolge zu verzeichnen, sondern wir haben eine Verringerung der Qualität in der leichten Industrie. Der Produktionsausfall weist ungeheure Zahlen auf. In der Kammgarnindustrie ist der Prozentsatz von Ausschußware von 16 Prozent im ersten Quartal des vergangenen Jahres auf 21 Prozent im dritten Quartal gestiegen. Auf der Fabrik Nr. 9 des Moskauer Wirkwarentrustes ("Mosktrikotage") hat der Verlust infolge von hohem Anfall an Ausschußware im vorigen Jahre 2,5 Millionen Rubel erreicht. Die Gesamtverluste unserer Industrie, die sich aus dem hohen Prozentsatz von Ausschußware ergeben, machen Hunderte von Millionen Rubel aus. Die schlechte Qualität der Produktion drückt den Reallohn der arbeitenden Massen herab, verschärft den Warenmangel, verlangsamt das Tempo unserer Industrialisierung."

 

Investierungen

Ebenso unbefriedigend wie mit den Selbstkosten und anderen Qualitätskoeffizienten steht es mit dem Umfang der geplanten Investierungen, mit dem Bau von neuen Produktionsanlagen. Nach sowjetamtlichen Angaben wurde der Plan in bezug auf Neuinvestierungen bis Ende August 1930, also in den ersten 11 Monaten des zweiten Planjahres, nur zu 52,:>

 

13) "Prawda", vom 12. Oktober 1930.

364


Prozent ausgeführt (1,765 Mill. Rubel statt 3,364 Mill. Rubel). In dem vorläufigen Bericht für das ganze Jahr 1929/30, der in Jer Zeitung "Sa Industrialisaziu" vom 1. Oktober 1930 veröffentlicht wurde, steigt zwar dieser Prozentsatz für das ganze Jahr plötzlich auf 83 Prozent. Wie aber 30 Prozent eines so gewaltigen Investierungsplanes plötzlich innerhalb eines einzigen Monats (September) ausgeführt werden konnten, ist schwer verständlich, und stellt eines der vielen Rätsel der offiziellen Statistik der Sowjetregierung in den letzten Jahren dar.

 

Inflation

Von Bedeutung ist ferner die Feststellung, daß trotz des zugegebenen Zurückbleibens der Kapitalinvestierungen hinter den Voranschlägen, die gespannte Lage der Sowjetfinanzen, als unmittelbare Folge der Durchführung des Fünfjahresplanes, sich in unerträglicher Weise verschärft hat. Vor allem ist das "finanzielle Manöver" der Selbstfinanzierung des Planes durch verstärkte Senkung der Produktionskosten und eine allmähliche, "abgebremste" Herabsetzung der Verkaufspreise gescheitert. Unter diesen Umständen blieb der Sowjetregierung nichts übrig, als zu der Ausnutzung der Notenpresse, zu der verstärkten Emission von Tscherwonetz-n o t e n und Kassenscheinen zu greifen, — den breiten, aber gefährlichen Weg der Inflation zu betreten.

Diese harte Notwendigkeit findet in den Vorgängen der beiden ersten Planjahre in vollem Umfange ihre Bestätigung. In einem Aufsatz der Zeitschrift des Finanzkommissariats werden die finanziellen Ergebnisse des ersten Planjahres folgendermaßen zusammengefaßt:

"Das laufende Jahr hat deutlich gezeigt, welche Folgen das Nichterreichen der qualitativen Koeffizienten des Fünfjahresplanes nach sich zieht: die Geldemission erreichte im Jahre 1928/29 statt der veranschlagten Grenze von 200 Mill. Rubel die Höhe von 600 Millionen; statt der projektierten Stabilität der Preise haben wir eine Erhöhung derselben; bei einer Erhöhung des Nominallohnes wird die geplante Erhöhung des Reallohnes ausbleiben."14)

Aehnlich wird das Fazit des ersten Jahres in einer anderen Moskauer Wirtschaftszeitschrift zusammengefaßt: übermäßige Emission von neuem Papiergeld, Ansteigen von sämtlichen Preisindices.15)

Der unmittelbare Zusammenhang, der zwischen dem Nicht-erfüllen der qualitativen Koeffizienten des Planes einerseits, und der übermäßigen Emission von Papiergeld andererseits, besteht, wird auch in bezug auf das zweite Planjahr in der Zeitung "Sa Industrialisaziu" (vom 24. September) wie folgt bestätigt:

 

14) S. "Westnik Finansow", 1929, August, S. 31.
15) S. "Ekonomitscheskoje Obosrenie", 1929, August, S. 8.

365


"Die Wirtschaftsorgane versuchen den Mangel an Geldmitteln, der sich aus dem Nicht-Erfüllen der planmäßigen Voranschläge ergibt, aus den Kassen der Gosbank" (der Staatsbank der Sowjetunion), "also letzten Endes auf Kosten der Neuemission von Geldscheinen aufzufüllen. Im laufenden Jahre sah sich die Staatsbank genötigt, der Industrie über die Voranschläge des Planes hinaus Kredite in Höhe von 500 bis 600 Millionen Rubel zu erteilen. Ein bedeutender Teil dieser Beträge wurde von der Gosbank auf Grund von Beschlüssen der Regierung überwiesen, im Zusammenhang mit den <Durchbrüchen>, die sich in verschiedenen Produktionszweigen ergaben." 

Von besonderem Interesse ist weiter der Hinweis des Artikels darauf, daß viele Sowjetbetriebe die für Neuinvestierungen und Neubauten bestimmten Mittel — zur Deckung laufender Defizite, die wiederum eine Folge der Nicht-Senkung der Selbstkosten waren, verwendeten.

Wie an anderer Stelle gezeigt wird,16) ist es auch am Ende des zweiten Planjahres zu einem offenen Durchbruch der Inflation gekommen, einer Inflation, die in einem latenten, schleichenden Zustande schon seit Jahren vorhanden war, aber infolge der Eigentümlichkeiten der Sowjetwirtschaft (das Fehlen eines freien Marktes und einer freien Preisbildung) nicht früher mit aller Kraft in Erscheinung getreten ist.

 

Zerfall des Eisenbahnapparates  

In diesem Zusammenhange verdient noch eine "enge Stelle" — um die kommunistische Ausdrucksweise zu gebrauchen — des Fünf jahresplanes erwähnt zu werden, auf die sich die Klagen in der Sowjetpresse selbst im Laufe der letzten Monate besonders häufen. Es ist dies der fortschreitende Verfall und Zersetzung des Eisenbahnwesens der Sowjetunion. Er äußert sich nicht nur darin, daß das Eisenbahnnetz in seinem Wachstum hinter den dringendsten Bedürfnissen der russischen Volkswirtschaft zurückbleibt, sondern auch darin, daß der vorhandene Transportapparat infolge einer Überalterung des Lokomotiv- und Wagenparks, sowie infolge der Zerrüttung des gesamten Eisenbahndienstes einfach versagt.

Durch ihren bekannten "Turksib"-Film, der die Anfang 1930 angeblich erfolgte Inbetriebnahme, der in Wirklichkeit auch noch Ende dieses Jahres nicht vollendeten Eisenbahn schildert, die Turkestan mit Sibirien verbinden sollte, sowie durch ihre geschickte Propaganda, — haben die Kommunisten

 

16) S. meinen Aufsatz: "Staatsfinanzen, Währung und Kredit in Sowjetrußland."

366


den Anschein zu erwecken versucht, daß die Entwicklung der russischen Eisenbahnen unter dem Sowjetregime mit Siebenmeilenschritten vor sich geht. In Wirklichkeit bleibt aber das Wachstum des russischen Bahnnetzes in den letzten 12 Jahren weit hinter dem Jahreszuwachs der Vorkriegszeit zurück, als der mit besonderer Energie betriebene Bau von neuen Bahnlinien große Gebiete Rußlands jährlich erschloß und der schnell aufblühenden russischen Wirtschaft neue Kräfte und Hilfsquellen zuführte.

Die folgenden nüchternen Zahlen mögen nun zeigen, wie die Dinge in Wirklichkeit stehen. Die Gesamtlänge der russischen Eisenbahnen betrug im Jahre 1930, wenn man sogar den noch keineswegs als vollendet zu betrachtenden "Turksib" zurechnet, ca. 79 000 Kilometer. 1918 besaß Rußland, in seinen gegenwärtigen Grenzen, 72 000 Kilometer Eisenbahnen. Der Zuwachs innerhalb der nachfolgenden 12 Jahre des bolschewistischen Regimes beträgt somit 7000 Kilometer, gleich 585 Kilometer pro Jahr, d. i. ein Zuwachs von 0,8 Prozent im Jahresdurchschnitt. Dabei muß noch berücksichtigt werden, daß von diesen in Betrieb genommenen 7000 Kilometer neuen Bahnen weite Strecken vor oder während des Krieges im Bau schon weit fortgeschritten waren.

Demgegenüber betrug der durchschnittliche Jahreszuwachs der russischen Eisenbahnen während der letzten 20 Jahre vor dem Kriege 5 Prozent. Die zahlreichen in den Jahren 1912—14 gegründeten privaten Eisenbahngesellschaften hatten die Verpflichtung übernommen, 5000 Kilometer neue Linien im Jahre zu bauen, wodurch sich der Zuwachskoeffizient auf 7 Proz. im Jahre erhöht hätte.

Bleibt somit der Bau von Eisenbahnlinien in diesem verkehrsarmen Land weit hinter dem früheren Bautempo und den dringendsten Erfordernissen der Wirtschaft zurück, so ist andererseits der bestehende Eisenbahnapparat in einem Grade verwahrlost, daß er im buchstäblichen Sinne der Zerstörung anheimfällt. "Der Mangel an Lokomotiven und ihre Zerstörung infolge ungenügender Instandsetzungsarbeit und der ungenügenden Qualität dieser letzteren haben in der letzten Zeit katastrophale Ausmaße angenommen."17) Das mangelhafte rollende Material führt in Verbindung mit der Zersetzung der Arbeitsdisziplin zu einer solchen Zunahme der Zahl der Unglücksfälle, daß man es kaum glauben könnte, wenn nicht die sowjetamtliche Presse selbst laufend hierüber berichtete. Die Zahl der Unfälle betrug in den letzten Jahren 5 Unfälle im Jahre auf 100 000 Zug-Kilometer, während derselbe Koeffizient

 

17) "Ekonomitscheskaja Shisn", vom 25. Februar 1930.

367


in westeuropäischen Ländern etwa 0,12 beträgt.18) "Es muß besonders betont werden, daß diese Zahl in den letzten Jahren unaufhörlich steigt." In welchem crescendo diese Zerstörung der Organisation und der Disziplin vor sich geht, kann daraus ersehen werden, daß auf einigen Eisenbahnlinien die Zahl der Unfälle innerhalb eines Monats auf das Sechsfache gestiegen ist.19)

Die Menge dieser Angaben könnte nach Belieben vermehrt werden. Die angeführten Zahlen und Angaben genügen aber um zu zeigen, daß der Eisenbahnapparat der Sowjetunion quantitativ und qualitativ nicht in der Lage ist, die ihm gestellten normalen Aufgaben zu erfüllen. Um so weniger ist er imstande den kolossalen Anforderungen, die ihm durch eine auch nur teilweise Erfüllung des Fünfjahresplanes gestellt werden, zu genügen.

 

  Fünfjahresplan und Ernährungskrise  

Auf dem Gebiete der Landwirtschaft rühmen sich die russischen Kommunisten dessen, daß die Ergebnisse der beiden ersten Planjahre die Voranschläge des Fünfjahresplanes bedeutend übersteigen. Insoweit als man nicht die Steigerung der Produktion, sondern in erster Linie die "Sozialisierung" der Landwirtschaft und die Proletarisierung der russischen Bauernmassen im Auge hatte, sind die Ergebnisse in der Tat überwältigend. 

Ohne auf eine Analyse der einschlägigen Statistik, die auf diesem Gebiete mit besonderer Vorsicht zu verwenden ist, einzugehen, kann man sagen, daß der Prozentsatz der gegen Ende des zweiten Planjahres sozialisierten Bauernwirtschaften bedeutend das Maß übersteigt, welches für das ganze Jahrfünft geplant war (15 bis 20 Proz.). In den beiden letzten Jahren (1929 oder 1930) ist vor allem ein Zerstörungsprozeß auf dem Lande vor sich gegangen, der die Ergebnisse der ersten russischen Agrarrevolution der Jahre 1917/1918 in den Schatten stellt. In diesen Jahren wurde die beste, produktivste Schicht der russischen Bauernklasse vernichtet. 

Die physische Ausrottung "des Kulakentums als Klasse" wurde zum obersten Ziel der Agrarpolitik der Sowjetregierung. Über die Hälfte der russischen Bauern wurde in die Kollektivbetriebe, die "Kolchosy", zusammengetrieben, zu Proletariern gemacht, die unmittelbar der Gewalt des allmächtigen kommunistischen Staates unterstehen; später ist rund ein Viertel der gesamten Bauernschaft zurückgetreten, um ihre halbzerrüttete Wirtschaft wieder aufzunehmen. Die übrigen blieben in den Kollektivbetrieben.20)

 

18) "Ekonomitscheskaja Shisn", vom 25. Februar 1930.
19) "Ekonomitscheskaja Shisn", vom 22. April und 28. Februar 1930.
20) S. die Aufsätze von Prof. I. Iljin und von Kritsky im vorliegenden Sammelwerk.

368


Das bedeutet in einer Hinsicht einen tatsächlichen Erfolg des kommunistischen Staates. Dieser Staat stellt in eigener Regie einen wesentlichen Teil seines Bedarfes an Getreide her, beziehungsweise erhält er die unmittelbare Verfügungsgewalt über einen größeren Teil der Ernte. Dieser Teilerfolg — vom Standpunkte des kommunistischen Staates — in bezug auf die Getreideversorgung ist aber um den hohen Preis des allgemeinen Rückganges der Lebens­mittel­versorgung erkauft worden, ja um den Preis einer großartigen Lebensmittelkrise, die nur durch die außerordentlich günstigen Ernteergebnisse des Jahres 1930 in ihren Wirkungen etwas abgeschwächt worden ist. 

Vor allem droht der städtischen Bevölkerung für die nächsten Jahre großer Mangel an Fleisch und Fetten. Die zu Verzweifelung getriebenen Bauern haben, bevor sie sich den bolschewistischen Kollektivbetrieben "freiwillig" anschlossen, große Mengen ihres Viehs abgeschlachtet, um es nicht umsonst dem kommunistischen Staate hergeben zu müssen. In seiner großen Programmrede auf dem XVI. Kongreß der Kommunistischen Partei im Juni 193021) führte Stalin wahrhaft erschreckende Zahlen an. Innerhalb eines Jahres hat sich der Bestand an Rindvieh in der russischen Landwirtschaft um 23 Prozent, an Schweinen um ganze 40 Prozent vermindert. 

Das ist nur ein Teil des ungeheuren Preises, den das russische Volk für das "Gelingen" der Sozialisierung auf dem Gebiete der Landwirtschaft zahlen mußte. Es besteht für die nächste Zukunft — nach Meinung der Kommunisten selbst — keine Hoffnung auf die Behebung dieser Mißstände. In den Moskauer "Iswestija"22) gibt der kommunistische Agrarsachverständige Golendo offen zu, daß die Versorgung der Bevölkerung der russischen Städte mit Erzeugnissen der Viehwirtschaft sich im Winter 1930 gegenüber dem Vorjahre um ein Drittel vermindern muß.

Diese Verschärfung der Ernährungskrise, die als eine unmittelbare Folge der Durchführung des Fünfjahresplanes in der russischen Landwirtschaft zu betrachten ist, beginnt nun auch die industrielle Produktion ungünstig zu beeinflussen. Man denke nur an die ungeheure Fluktuation der Arbeitskräfte in den Sowjetbetrieben, die eine unmittelbare Folge der Ernährungskrise ist. Außerdem wird die Leistungsfähigkeit der Arbeiter in den Sowjetfabriken durch Unterernährung, insbesondere infolge Mangels an fetthaltigen Nährstoffen, beeinträchtigt.

 

  Das Ergebnis  

Ohne uns auf irgendwelche Prophezeiungen einzulassen, können wir nicht umhin, die unzweifelhaften Ergebnisse der beiden ersten Jahre des Fünfjahres­planes (die übrigens laut der in vergangenem Jahre von Stalin ausgegebenen Parole <Der Fünfjahrsplan in vier Jahren!> die Hälfte der gesamten Erfüllungsfrist nunmehr darstellen sollten), wie sie von der Sowjetpresse und den Sowjetwirtschaftlern festgestellt worden sind, nochmals kurz zusammen­zufassen:

1. eine mengenmäßige Steigerung der industriellen Produktion, insbesondere derjenigen der Produktionsmittel, aber in der Hauptsache auf Kosten einer gleichzeitigen weiteren Verringerung der Qualität der hergestellten Ware;

2. eine nominelle Senkung der Produktionskosten, die um die Hälfte hinter dem vorgeschriebenen Maße zurückbleibt;

5. infolgedessen ein "Durchbruch" der finanziellen Grundlage des Planes und als weitere Folge die Verwandlung einer latenten und schleichenden Inflation in eine offene — mit allen ihren Nebenerscheinungen;

4. Verschärfung der Ernährungskrise als direkte Folge des teilweisen "Gelingens" der Sozialisierung der Landwirtschaft; Verschärfung der Transportkrise, ganz besonders auf den Eisenbahnen; die verschlechterte Versorgung der Industriearbeiter mit Lebensmitteln wirkt sich in einer verminderten Leistungsfähigkeit derselben sowie in der Abnahme der Produktion in einzelnen Industriezweigen (Kohle!) aus.

 

Dies wäre in großen Zügen das gesamte Bild der Ergebnisse der ersten zwei Jahre des Fünfjahresplanes.

 

#

21)  "Prawda", 29. Juni 1930.
22)  Vom 8. September 1930.

 369-370


  ^^^^