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Eine Phänomenologie der Schule     Illich-1971

 

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Manche Wörter werden so dehnbar, daß sie nicht länger brauchbar sind. Dazu gehören die Begriffe <Schule> und <Lehren>. Sie lassen sich in fast jedes Sprachmilieu eingliedern. ABM (die Anti-Raketen-Rakete) wird die Russen lehren, IBM (Internationale Büro-Maschinen) wird die Negerkinder lehren, und die Armee kann zur Schule der Nation werden.

Deshalb muß die Suche nach Alternativen im Bildungswesen damit beginnen, daß man sich einigt, was wir unter <Schule> verstehen. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen. Zunächst könnten wir eine Liste der latenten Funktionen aufstellen, die vom modernen Schulwesen wahrgenommen werden, so z.B. Beaufsichtigung (custodial care), Auslese, Indoktrination und Lernen.

Aber auf jedem dieser Wege würden wir genötigt sein, von bestimmten Prämissen über ein Verhältnis zwischen Schule und Bildung auszugehen. Um eine Sprache zu entwickeln, mit der wir über Schule reden können, ohne uns dabei stets zugleich auf Bildung zu beziehen, will ich mit einer Phänomenologie der öffentlichen Schule beginnen. Zu diesem Zweck definiere ich „Schule" als das altersbezogene, an Lehrer gebundene Verfahren, das zur ganztägigen Erfüllung eines Curriculums verpflichtet.

    1. Alter   

Die Schule klassifiziert Menschen nach ihrem Lebensalter. Diese Einteilung beruht auf drei Voraussetzungen, die nicht in Frage gestellt werden. Kinder gehören in die Schule. Kinder lernen in der Schule. Nur in der Schule kann man die Kinder etwas lehren. Diese einfach hingenommenen Voraussetzungen verdienen ernstlich hinterfragt zu werden.

Was unsere Gesellschaft unter „Kindheit" versteht, wird gemeinhin für selbstverständlich und universal gehalten. Wir haben beschlossen, daß Kinder zur Schule gehen, gehorchen und weder eigenes Einkommen noch eigene Familie haben sollen. Wir erwarten von ihnen, daß sie wissen, was sich gehört, und sich wie Kinder benehmen. Mit Sehnsucht oder Bitterkeit erinnern wir uns der Zeit, als auch wir Kinder waren. Man erwartet von uns, daß wir das kindische Benehmen von Kindern tolerieren. Für uns ist die Menschheit eine Spezies, die zugleich dazu verdammt und damit gesegnet ist, für Kinder zu sorgen. Wir vergessen jedoch, daß unser heutiger Begriff der „Kindheit" sich in Westeuropa erst in jüngerer Zeit, in Amerika noch später herausgebildet hat.1

Den meisten historischen Epochen war die Vorstellung von Kindheit als einer eigenen Lebensphase, die sich von Säuglingsalter, Adoleszenz oder Jugend unterscheidet, unbekannt. Einige christliche Jahrhunderte hatten nicht einmal einen Blick für die körperlichen Proportionen der Kindheit. Die Künstler stellten das kleine Kind als einen Mini-Erwachsenen auf dem Arm seiner Mutter dar. In Europa tauchte das Phänomen „Kindheit" gleichzeitig mit den Taschenuhren und den christlichen Geldverleihern der Renaissance auf.

Doch bis ins 19. Jahrhundert kannten die Unterschichten und damit der größte Teil der Bevölkerung weder spezielle Kinderkleidung noch die Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen beim

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Spiel und bei der Arbeit. Seien es Kinder von Bauern, Handwerkern oder Arbeitern - sie alle kleideten sich wie ihre Väter, spielten und arbeiteten wie ihre Väter und wurden wie ihre Väter gehenkt.

Das Stadium „Kindheit" war eine Eigentümlichkeit der oberen Schichten, insbesondere des Bürgertums. Mit seiner Entdeckung der „Kindheit" entwickelte sich die moderne Vorstellung des erziehungsbedürftigen Menschen, die den Kindern mit der „Fürsorge" auch die ganze Bandbreite von pädagogischer Überwachung und Strafe einerseits und gesetzliche Strafunmündigkeit andererseits bescherte. Nur einige Kirchen hielten noch länger an der Würde und Reife junger Menschen fest. Bis zum II. Vatikanischen Konzil wurde jedem Kind eingeschärft, daß ein Christ mit sieben Jahren sittliche Urteilsfähigkeit und Freiheit erlangt und danach imstande ist, Sünden zu begehen, für die er in alle Ewigkeit in der Hölle bestraft werden kann. Gegen Mitte dieses Jahrhunderts begannen bürgerliche Eltern mit dem Versuch, ihren Kindern die Wirkung dieser Lehre zu ersparen, und ihre Einstellung zum Kind hat sich jetzt auch in der Praxis der Kirche durchgesetzt.

Bis ins vorige Jahrhundert wurde „Kindheit" mit Hilfe von Hauslehrern und Privatschulen „hergestellt" und blieb auf den Adel und vor allem das Bürgertum beschränkt. Erst die Entstehung der Industriegesellschaft ermöglichte die serielle Produktion von „Kindheit", die nun für die Massen - ob sie wollten oder nicht - verfügbar gemacht werden sollte. Das Schulwesen ist ebenso wie die Kindheit, welche es erzeugt, ein modernes Phänomen.

Da die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung außerhalb von Industriestädten wohnt, bleibt den meisten Menschen die Erfahrung von Kindheit entzogen. In den Anden bestellt man den Acker, sobald man „brauchbar" geworden ist. Vorher hütet man die Schafe. Wer gut genährt ist, sollte mit Elf tauglich sein, sonst mit Zwölf. Unlängst sprach ich mit meinem Nachtwächter Marcos über seinen elfjährigen Sohn, der im Friseurladen arbeitet. Ich ließ die Bemerkung fallen, daß sein Sohn noch ein „nino" sei. Marcos war überrascht und antwortete arglos lächelnd: „Das mag wohl sein, Don Ivan."

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Mir wurde klar, daß Marcos bis zu meiner Bemerkung den Jungen vornehmlich als seinen „Sohn" betrachtet hatte, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich zwischen zwei vernünftigen Menschen die Schranke der „Kindheit" errichtet hatte. Würde ich dagegen einem Slumbewohner in New York sagen, daß sein bereits arbeitender Sohn noch ein „Kind" sei, so würde er sich gewiß nicht überrascht zeigen. Er weiß sehr wohl, daß seinem elfjährigen Sohn Kindheit zusteht, und ist erbittert darüber, daß sie ihm vorenthalten wird. Marcos' Sohn muß noch mit dem Verlangen nach Kindheit infiziert werden, der Sohn des New Yorkers entbehrt sie bereits.

Die meisten Menschen wollen also entweder für ihre Sprößlinge keine moderne Kindheit oder können diese nicht erlangen. Anscheinend aber bedeutet Kindheit für eine ganze Anzahl von den wenigen, denen sie zuerkannt wird, eine Belastung. Viele von ihnen werden einfach dazu gezwungen und sind keineswegs glücklich darüber, die Kinderrolle spielen zu müssen. Durch Kindheit hindurch heranzuwachsen bedeutet dazu verurteilt zu sein, einen langwierigen und inhumanen Konflikt auszufechten zwischen dem eigenen Selbstbewußtsein und der Rolle, die von einer Gesellschaft auferlegt wird, die selbst noch ihr „Schulalter" durchmacht. Weder Stephen Daedalus noch Alexander Portnoy hatten Freude an ihrer Kindheit, und ich vermute, daß auch viele von uns sich nicht gern als Kinder behandeln ließen.

Gäbe es keine altersbezogene und obligatorische Lerninstitution, so würde die Produktion von „Kindheit" eingestellt werden. Die Jugend reicher Nationen würde von deren destruktiver Wirkung befreit werden, und arme Nationen würden gar nicht erst versuchen, es mit der Kinderei der Reichen aufzunehmen. Würde die Gesellschaft auf das Kindheitsstadium verzichten, so müßte sie für junge Menschen lebenswert werden. Das heutige Mißverhältnis zwischen einer Erwachsenengesellschaft, die human zu sein behauptet, und einer schulischen Umwelt, die zum Konsum dressiert, ließe sich nicht länger aufrechterhalten.

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Die Abschaffung des Schulmonopols könnte auch der gegenwärtigen Benachteiligung von Kleinkindern, Erwachsenen und Alten zugunsten von Kindern und Jugendlichen ein Ende machen. Die Entscheidung der Gesellschaft, Bildungsmittel vornehmlich denjenigen Bürgern zuzuteilen, die die außergewöhnliche Lernfähigkeit ihrer ersten vier Lebensjahre bereits hinter sich gelassen, den Höhepunkt selbstmotivierten Lernens aber noch nicht erreicht haben, wird später einmal wahrscheinlich als absurd empfunden werden.

Die institutionelle Klugheit sagt uns, daß Kinder Schulen brauchen. Sie sagt uns ferner, daß Kinder in der Schule lernen. Diese institutionelle Klugheit ist aber wiederum ein Produkt der Schule, denn der gesunde Menschenverstand sagt uns, daß man nur „Kinder" in der Schule unterrichten kann. Nur indem wir menschliche Wesen in die Kategorie Kindheit verwiesen haben, konnten wir sie überhaupt dazu bringen, sich der Autorität eines Schullehrers zu unterwerfen.

 

  2. Lehrer und Schüler  

Kinder sind per definitionem Schüler. Die Nachfrage nach Kindheitsmilieu schafft einen unbegrenzten Markt für anerkannte Lehrer. Als Institution ruht die Schule auf dem Grundsatz, daß Lernen ein Ergebnis von Unterricht sei. Und die institutionelle Klugheit hält an diesem Grundsatz fest, obwohl überwältigende Beweise für das Gegenteil vorliegen.

Den größten Teil dessen, was wir wissen, haben wir alle außerhalb der Schule gelernt. Schüler lernen das meiste ohne ihre Lehrer und häufig trotz diesen. Am tragischsten ist, daß die meisten Menschen ihren Denkzettel durch Schulen erhalten -selbst wenn sie niemals eine Schule besuchen.

Wie man leben kann, lernt jeder außerhalb der Schule. Wir lernen sprechen, denken, lieben, fühlen, spielen, fluchen, politisieren und arbeiten, ohne daß ein Lehrer einen Anteil daran hätte. Selbst Kinder, die Tag und Nacht unter der Obhut von Lehrern und Erziehern sind, bilden da keine Ausnahme.

Ob Waisenkinder, geistig Behinderte oder Lehrersöhne, sie lernen

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das meiste von dem, was sie lernen, jenseits des für sie geplanten „Bildungsweges".

Lehrer haben mit ihren Versuchen, das Lernen der Armen zu fördern, armselige Wirkungen erzielt. Armen Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken möchten, geht es weniger um das, was sie dort lernen, als um das Zeugnis und das Geld, das sie dann vielleicht verdienen werden. Und bürgerliche Eltern vertrauen ihre Kinder der Obhut eines Lehrers an, damit sie nicht lernen, was die Armen auf der Straße lernen. Die Bildungsforschung liefert immer mehr Belege dafür, daß Kinder das, was die Lehrer zu lehren vorgeben, größtenteils aus Comic-Strips, durch zufällige Beobachtung und vor allem voneinander lernen. Soweit in den Schulen überhaupt etwas gelernt wird, sind Lehrer eher hinderlich.

Die Hälfte der Weltbevölkerung hat niemals eine Schule betreten. Diese Menschen haben keinen Kontakt zu Lehrern, und das Privileg durchzufallen bleibt ihnen vorenthalten. Trotzdem lernen auch sie ziemlich gründlich, was die Institution Schule lehrt: daß sie mehr und immer noch mehr Schule brauchen. Die Schule unterweist sie in ihrer Unterlegenheit, ob durch das Finanzamt, das sie dafür Steuern zahlen läßt, oder durch den Demagogen, der ihre Erwartungen in die Höhe schraubt, oder durch die eigenen Kinder, wenn diese erst einmal von der Schule eingefangen worden sind. So werden die Armen ihrer Selbstachtung beraubt, indem sie sich dem Glauben verschreiben, das Heil könne nur durch die Schule kommen. Die Kirche ließ ihnen immerhin noch die Chance, in der Sterbestunde zu bereuen. Die Schule läßt sie allein mit der Erwartung, die eine falsche Hoffnung ist: daß ihre Enkel es schaffen werden. Diese Erwartung bereitet natürlich den Weg für noch mehr Schule und die Eskalation von Behandlung, nicht etwa für mehr Lernen durch Lehrer.

Das Verdienst an dem größten Teil ihres Wissens haben Schüler niemals den Lehrern zugeschrieben. Gescheite und Dumme haben sich gleichermaßen auf Auswendiglernen, Lesen und ihren eigenen Witz verlassen, um die Prüfungen zu bestehen, zu denen sie durch Zwang oder durch die Verlok-kung einer ersehnten Karriere angetrieben wurden.

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Erwachsene neigen dazu, ihre Schulzeit romantisch zu verklären. Rückblickend schreiben sie ihr Wissen dem Lehrer zu, dessen Geduld sie zu bewundern gelernt haben. Dieselben Erwachsenen würden sich aber Sorgen um den Geisteszustand eines Kindes machen, das ihnen zu Hause erzählt, was es von jedem seiner Lehrer gelernt hat.

Schulen schaffen Posten für Schullehrer, was auch immer die Schüler von ihnen lernen mögen.

 

   3. Ganztägige Teilnahme   

Jeden Monat sehe ich eine neue Liste von Vorschlägen, die irgendein amerikanischer Industriezweig dem AID2 vorlegt, um anzuregen, daß lateinamerikanische „Klassenzimmer-Praktiker" durch ausgebildete Systemverwalter oder einfach durch Fernsehen ersetzt werden. In den Vereinigten Staaten setzt sich Unterrichten als ein Mannschaftsunternehmen von Bildungsforschern, Programmplanern und Technikern allmählich durch. Ob nun aber der Lehrer eine Schulmeisterin oder ein Team von Männern in weißen Kitteln ist, und ob sie die im Verzeichnis aufgeführten Fächer erfolgreich unterrichten oder nicht - der professionelle Lehrer schafft immer einen heiligen Bezirk um sich herum.

Die Ungewißheit über die Zukunft des Lehrberufes ist eine Gefahr für die Idee des Klassenzimmers. Würden professionelle Erzieher sich darauf spezialisieren, das Lernen zu fördern, so müßten sie auf eine Einrichtung verzichten, die jährlich 750 bis 1000 Zusammenkünfte erfordert. Aber Lehrer tun natürlich viel mehr. Die institutionelle Klugheit der Schulen sagt Eltern, Schülern und Erziehern, daß der Lehrer, wenn er lehren soll, seine Autorität in einem geheiligten Bezirk ausüben müsse. Das gilt selbst für solche Lehrer, deren Schüler einen Teil ihrer Schulzeit in einer Klasse ohne Wände zubringen, d.h. unter pädagogischer Kontrolle klettern, wandern oder Altenheime besuchen dürfen.

Die Schule neigt ihrem Wesen nach dazu, Zeit und Kräfte

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ihrer Teilnehmer in vollem Umfang zu beanspruchen. Das wiederum macht aus dem Lehrer einen Wächter, Prediger und Therapeuten.

In jeder dieser drei Rollen gründet der Lehrer seine Autorität auf einen besonderen Anspruch. Der „Lehrer als Wächter" tritt als Zeremonienmeister auf, der seine Schüler durch ein schier endloses rituelles Labyrinth geleitet. Er ist Schiedsrichter über das Einhalten von Regeln und wacht über den schwierigen Ablauf der Einführung ins Leben. Im besten Falle schafft er den Rahmen für den Erwerb einer Fertigkeit, wie Schulmeister es von jeher getan haben. Ohne die Illusion, er könne gründliches Lernen erzielen, drillt er seine Schüler in gewissen Grundtechniken routinierten Verhaltens.

Der „Lehrer als Moralist" tritt an die Stelle von Eltern, Gott oder Staat. Er trichtert dem Schüler ein, was Recht oder Unrecht ist, und zwar nicht nur in der Schule, sondern in der Gesellschaft überhaupt. Er nimmt für jeden einzelnen die Elternstelle ein und sorgt so dafür, daß alle sich als Kinder desselben Staatswesens fühlen.

Der „Lehrer als Therapeut" fühlt sich ermächtigt, in das Innenleben seines Schülers einzudringen, um ihm bei der Entwicklung seiner Persönlichkeit zu helfen. Wird diese Rolle von einem Wächter oder Prediger wahrgenommen, so bedeutet das gewöhnlich, daß er den Schüler dazu überredet, sich der Domestizierung seiner Vorstellung von Wahrheit und seines Rechtsgefühls zu unterwerfen.

Die Behauptung, die moderne Schule könne Keimzelle einer liberalen Gesellschaft sein, ist widersinnig. Alle Sicherungen der persönlichen Freiheit werden im Umgang eines Lehrers mit seinem Schüler aufgehoben. Vereinigt der Lehrer in seiner Person die Rollen des Richters, des Ideologen und des Arztes, so wird die für die Demokratie charakteristische Gewaltenteilung gerade in der Schule verleugnet. Ein Lehrer, der diese drei Machtfunktionen in sich vereinigt, trägt zur Deformation des Kindes viel mehr bei als die Gesetze, die dessen juristische oder wirtschaftliche Unmündigkeit begründen oder sein Recht auf Versammlungs- und Aufenthaltsfreiheit beschränken.

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Die Lehrer sind keineswegs der einzige Berufsstand, der eine Therapie anbietet. Psychiater, Studien- und Berufsberater, ja sogar Rechtsanwälte erheben den Anspruch, ihren Klienten dabei behilflich zu sein, Entscheidungen zu treffen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln und zu lernen. Gleichwohl sagt dem Klienten der gesunde Menschenverstand, daß die Angehörigen dieser Berufsstände darauf verzichten sollten, ihm ihre Meinung von dem, was richtig oder falsch ist, aufzudrängen oder ihn gar zu nötigen, ihrem Rat zu folgen. Schullehrer und Geistliche sind die einzigen, die sich von Amts wegen für berechtigt halten, ihre Nase in die Privatangelegenheiten ihrer Klienten zu stecken und ihnen zugleich als einer eingesperrten Zuhörerschaft zu predigen.

Kinder werden durch die Verfassung nicht geschützt, wenn sie dem weltlichen Priester, also dem Lehrer, gegenüberstehen. Das Kind muß sich einem Amtsinhaber stellen, der eine unsichtbare dreifache Krone, gleich der päpstlichen Tiara, trägt: Symbol dreifacher Autorität, die in einer Person vereinigt ist. Dem Kind begegnet der Lehrer mit der ungeteilten Vollmacht eines Hirten, Propheten und Priesters; er ist zugleich Lenker, Lehrer und Verwalter eines geheiligten Rituals. Er vereinigt in sich die Ansprüche mittelalterlicher Päpste in einer Gesellschaft, die sich auf die Garantie gründete, daß diese Ansprüche niemals gleichzeitig von einer einzigen etablierten und verpflichtenden Institution wahrgenommen werden sollten, sei es nun Kirche oder Staat.

Die Bestimmung von „Kindern" als Ganzzeitschüler erlaubt dem Lehrer, eine Art von Macht über ihre Person auszuüben, die durch verfassungs- und gewohnheitsrechtliche Einschränkungen viel weniger limitiert wird als die Macht, die die Hüter anderer sozialer Enklaven ausüben. Ihr Lebensalter schließt Kinder von Sicherungen aus, die für Erwachsene in einem modernen Asyl selbstverständlich sind, ob es nun ein Irrenhaus, ein Kloster oder ein Gefängnis ist.

Unter dem autoritativen Regime des Lehrers fließen verschiedene Wertkategorien ineinander. Die Unterschiede zwischen Sittlichkeit, Rechtmäßigkeit und persönlicher Wertvorstellung werden verwischt und schließlich ausgelöscht. Jede Übertretung wird als vielfältiger Verstoß hingestellt. Der Übeltäter soll die Empfindung haben, daß er gegen eine Ordnung verstoßen, sich unmoralisch verhalten hat und sich selbst untreu geworden ist. Einem Schüler, der es geschickt versteht, sich bei einer Prüfung Hilfe zu verschaffen, sagt man, er sei ein Gesetzesbrecher, ein unmoralischer Mensch und ein unwürdiger Nichtsnutz.

Der Schulbesuch entfernt das Kind aus der Alltagswelt der westlichen Zivilisation und stürzt es in eine Umgebung, die viel primitiver, magischer und von tödlichem Ernst ist. Eine solche Enklave, in der die Regeln der gewöhnlichen Lebenswirklichkeit aufgehoben sind, könnte die Schule gar nicht schaffen, würde sie nicht die jungen Menschen über viele Jahre hinweg auf geheiligtem Territorium buchstäblich einkerkern. Die allgemeine Schulpflicht ermöglicht es, aus dem Klassenzimmer einen magischen Mutterleib zu machen, aus dem das Kind am Ende jedes Schultages und Schuljahres entbunden wird, bis man es endlich in die Welt der Erwachsenen hinaustreibt. 

Ohne Schulen könnte es weder die weltweit ausgedehnte Kindheit noch die erstickende Atmosphäre des Klassenzimmers geben. Wohl aber könnten Schulen als zwangsmäßige Wissensvermittler ohne diese beiden bestehen und noch repressiver und destruktiver sein als alles, was wir bisher kennengelernt haben.

Um zu begreifen, was es heißt, die Gesellschaft zu entschulen und nicht nur das Bildungsestablishment zu reformieren, müssen wir unsere Aufmerksamkeit jetzt auf das verborgene Curriculum der Schulbildung richten. Uns geht es hier nicht unmittelbar um das verborgene Curriculum der Gettostraßen, das die Armen brandmarkt, oder um das verborgene Curriculum des „Salons", das die Reichen begünstigt. Uns geht es vielmehr darum, auf die Tatsache hinzuweisen, daß das Zeremoniell oder Ritual des Schulunterrichts selbst ein solches verborgenes Curriculum darstellt. Auch die besten Lehrer können ihre Schüler nicht gänzlich davor schützen. Zu der Diskriminierung, welche eine Gesellschaft gegenüber einigen ihrer Mitglieder praktiziert, fügt dieses verborgene Curriculum unweigerlich noch Vorurteil und Schuldigsprechung hinzu, während es die Privilegien anderer um einen neuen Anspruch vermehrt, die Mehrheit herablassend zu behandeln. Ebenso unvermeidlich ist, daß dieses verborgene Curriculum für Reiche wie für Arme als Ritual bei der Einführung in eine wachstumsorientierte Verbrauchergesellschaft dient.

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Ivan Illich 1971