Einführung
Die Entdeckung des Urschmerzes
Janov-1970
9-11
Vor einigen Jahren hörte ich etwas, das den Verlauf meines Berufslebens und des Lebens meiner Patienten verändern sollte. Was ich hörte, mag auch das Wesen der Psychotherapie, wie sie jetzt bekannt ist, verändern – ein unheimlicher Schrei, der aus dem Tiefinneren eines jungen Menschen hervorbrach, der während einer therapeutischen Sitzung auf dem Fußboden lag. Ich kann den Schrei nur damit vergleichen, was man vielleicht von einem Menschen hören würde, der ermordet wird.
Dieses Buch handelt von dem Schrei und seiner Bedeutung für die Enthüllung der Geheimnisse der Neurose.
Den jungen Mann, der ihn ausstieß, will ich Danny Wilson nennen. Er war weder psychotisch noch das, was man als hysterisch bezeichnet; er war ein armer Student, zweiundzwanzig Jahre alt, introvertiert, sensibel und zurückhaltend. Während einer ruhigen Phase in unserer Gruppentherapie erzählte er uns von einem Mann namens Ortiz, der damals auf einer Londoner Bühne auftrat. Er stolzierte in Windeln einher und trank aus der Milchflasche. Während seiner ganzen Nummer schrie er aus Leibeskräften: »Mammi! Pappi! Mammi! Pappi!« Am Schluß seiner Vorstellung übergab er sich. Es wurden Plastiktüten im Publikum verteilt und die Zuschauer wurden aufgefordert, seinem Beispiel zu folgen.
Dieser Auftritt hatte eine solche Faszination auf Danny ausgeübt, daß es mich drängte, etwas Grundlegendes zu versuchen, auf das ich früher nicht gekommen war. Ich forderte ihn auf, laut »Mammi! Pappi!« zu rufen. Danny weigerte sich und sagte, er sehe nicht ein, was ein so kindisches Verhalten für einen Sinn haben solle, und ich sah es, ehrlich gesagt, auch nicht ein. Aber ich bestand darauf, und schließlich gab er nach. Als er begann, wurde er merklich unruhiger. Plötzlich krümmte er sich in heftiger Erregung auf dem Fußboden. Sein Atem ging rasch, krampfhaft.
»Mammi! Pappi!« kam es fast unwillkürlich und laut und schrill aus seinem Mund. Er schien in einem Koma oder hypnotischen Zustand zu sein. Das Sich-Krümmen ging in kleine Zuckungen über, und schließlich stieß er einen durchdringenden Todesschrei aus, der die Wände meines Sprechzimmers erzittern ließ. Die ganze Episode hatte nur ein paar Minuten gedauert, und weder Danny noch ich hatten eine Ahnung, was geschehen war. Alles, was er mir später sagen konnte, war: »Ich hab's geschafft! Was, weiß ich nicht, aber ich kann fühlen!«
Was Danny widerfahren war, blieb für mich monatelang ein Rätsel. Seit siebzehn Jahren hatte ich als psychiatrischer Sozialarbeiter und Psychologe die übliche Gesprächstherapie praktiziert. Meine Ausbildung hatte ich in einer Freudianischen psychiatrischen Klinik und einer nicht so sehr Freudianischen Abteilung der Kriegsteilnehmerfürsorge erhalten. Mehrere Jahre gehörte ich zum ärztlichen Personal der psychiatrischen Abteilung des Kinderkrankenhauses in Los Angeles. In dieser ganzen Zeit hatte ich niemals etwas Vergleichbares erlebt.
Da ich die Gruppensitzung an jenem Abend auf Band aufgenommen hatte, spielte ich das Band in den nächsten Monaten mehrmals ab und bemühte mich zu begreifen, was geschehen war. Aber erfolglos.
Doch bald hatte ich Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren. Ein dreißigjähriger Mann, den ich Gary Hillard nennen will, berichtete mit großem Gefühlsaufwand, daß seine Eltern ihn immer kritisiert, nie geliebt und sein Leben im großen und ganzen verpfuscht hatten. Ich drängte ihn, er solle nach ihnen rufen; er erhob Einwände. Er <wisse> ja, daß sie ihn nicht liebten, was hätte das also für einen Zweck? Ich bat ihn, auf meinen Einfall einzugehen. Gleichgültig begann er, Mammi und Pappi zu rufen. Bald merkte ich, daß er schneller und tiefer atmete. Sein Rufen wurde zu einem unfreiwilligen Akt, der dazu führte, daß er sich fast in Krämpfen wand und einen Schrei ausstieß.
Wir waren beide entsetzt. Was ich für einen Zufall gehalten hatte, für eine idiosynkratische Reaktion eines Patienten, hatte sich auf fast dieselbe Weise wiederholt.
Nachher, als er sich beruhigt hatte, wurde Gary von Einsichten überschwemmt. Er sagte mir, sein ganzes Leben scheine plötzlich keine Schwierigkeiten mehr zu bieten. Dieser im allgemeinen schlichte Mann begann sich vor meinen Augen praktisch in einen anderen Menschen zu verwandeln. Er wurde hellwach; sein Sensorium erweiterte sich; er schien sich selbst zu begreifen.
Wegen der Gleichartigkeit der beiden Reaktionen begann ich noch aufmerksamer die Bänder abzuhören, die ich von Dannys und Garys Sitzungen aufgenommen hatte. Ich versuchte zu analysieren, welche gemeinsamen Faktoren oder Methoden die Reaktionen hervorgerufen hatten. Allmählich ergab sich ein Sinn. Im Lauf der nächsten Monate versuchte ich es mit verschiedenen Modifikationen und Ansätzen, wenn ich einen Patienten aufforderte, nach seinen Eltern zu rufen. Jedesmal kam es zu denselben dramatischen Ergebnissen.
Mittlerweile sehe ich diesen Schrei als das Produkt der zentralen und universellen Schmerzen an, die bei allen Neurotikern vorhanden sind. Ich nenne sie Urschmerzen, weil sie die ursprüngliche frühe Verletzung sind, auf der sich jede spätere Neurose aufbaut. Ich behaupte, daß diese Schmerzen bei jedem Neurotiker in jeder Minute seines späteren Lebens, ungeachtet der Form seiner Neurose, vorhanden sind.
Diese Schmerzen werden oft gar nicht bewußt verspürt, weil sie sich auf das ganze System ausbreiten, wo sie auf Körperorgane, Muskeln, das Blut- und Lymphsystem und schließlich auf unsere verzerrte Verhaltensweise einwirken.
Die Primärtherapie zielt darauf ab, diese Schmerzen von Grund auf zu heilen. Sie ist revolutionär, denn sie schließt ein, das neurotische System durch eine gewaltsame Umwälzung zu zerstören. Genau das ist meiner Ansicht nach nötig, um eine Neurose zu beseitigen.
Die Primärtherapie ist das natürliche Ergebnis meiner Beobachtungen, nachdem ich mir die Frage vorgelegt hatte, warum bestimmte Veränderungen eintreten. Die Theorie, das muß ich betonen, ging der klinischen Erfahrung nicht voraus. Als ich mit ansah, wie sich Danny und Gary in Krämpfen des Urschmerzes wanden, hatte ich keine Ahnung, wie ich es nennen sollte. Durch die einander folgenden Berichte eines Patienten nach dem anderen, die von ihrer Neurose geheilt waren, wurde die Theorie ausgeweitet und vertieft.
Dieses Buch ist eine Aufforderung, die Revolution zu erforschen, die durch diese Berichte ausgelöst wurde.
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