3. Der Schmerz
Janov-1970
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Wie wir auf Schmerz reagieren, ist wichtig zu wissen, um die Primärtheorie und -therapie zu verstehen. Ich will kurz auf die wissenschaftlichen Untersuchungen hinweisen, die mir die Formulierung der Theorie erleichterten.
Bei der Erforschung der Kontraktion und Dilatation der Pupille als Reaktion auf gewisse Reize fand E.Hess*, daß sich die Pupille erweitert, wenn der Stimulus erfreulich ist, und sich zusammenzieht, wenn er unerfreulich ist. Als Versuchspersonen Bilder von Folterszenen gezeigt wurden, zogen sich ihre Pupillen zusammen; als die Versuchspersonen aufgefordert wurden, sich an diese quälenden Szenen zu erinnern, zogen sich ihre Pupillen automatisch und unwillkürlich zusammen. Ich glaube, dasselbe geschieht, obwohl auf eine allumfassende Weise, wenn ein Kind sich unerfreulichen Szenen gegenübersieht. Das heißt, Rückzug vom Schmerz ist eine totale organismische Reaktion, die Sinnesorgane, zerebrale Prozesse, Muskelsysteme usw. erfaßt — wie es bei den Hess-Experimenten der Fall war.
Ich behaupte, es ist eine menschliche Reflexbewegung, sich von großem Schmerz abzuwenden; diese Reflexbewegung kann vom Zurückziehen der Hand von einem heißen Ofen bis zum Abwenden der Augen bei einer besonders grauslichen Szene in einem Horrorfilm und dem Verbergen quälender Gedanken und Gefühle vor dem Selbst reichen.
Ich glaube, dieses Grundprinzip des Schmerzes ist wesentlich für die Entwicklung von Neurose.
Bei der Primärszene verschließt sich also der Organismus des Kindes vor der vollen Erkenntnis und nimmt diese Erkenntnis nicht bewußt auf, so wie auch ein starker physischer Schmerz selbst den Standhaftesten unter uns das Bewußtsein rauben kann. Der Urschmerz ist eine nicht empfundene Verletzung, und unter diesem Gesichtspunkt kann Neurose als ein Reflex angesehen werden: die sofortige Reaktion des gesamten Organismus auf Schmerz.
T. Barber hat Versuchspersonen physiologisch untersucht, die unter Hypnose standen**. Die Versuchspersonen, die scheinbar wach waren, denen indes auf hypnotische Weise aufgetragen wurde, nichts zu spüren, erhielten Schmerz-Stimuli; sie erklärten, daß sie keinen Schmerz spürten, obwohl alle physiologischen Messungen darauf hinwiesen, daß sie auf Schmerz reagierten. Bei anderen Experimenten führte Schmerz zu EEG-Veränderungen bei hypnotisierten Versuchspersonen, die ebenfalls erklärten, daß sie nichts spürten.
In bezug auf die Primärtheorie wäre das ein Hinweis darauf, daß Körper und Gehirn ständig auf Schmerz reagieren, während der Betreffende es gar nicht merkt, daß er von Schmerz heimgesucht wird. Physiologische Messungen zeigen, daß Versuchspersonen selbst dann noch körperlich auf schmerzhafte Stimuli reagieren, wenn sie schmerzstillende Mittel erhalten haben. Körperlich auf Schmerz zu reagieren und sich dieses Schmerzes bewußt zu sein, können zwei verschiedene Phänomene sein.
Wenn sich der Körper gegen unerträglichen Schmerz abschließt, dann muß etwas dafür sorgen, daß die Urschmerzen verborgen und unterdrückt bleiben. Diese Funktion erfüllt die Neurose. Sie lenkt den Leidenden von seinem Urschmerz ab und verweist ihn auf die Hoffnung — d.h. auf das, was er tun kann, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Weil der Neurotiker so dringende, doch unbefriedigte Bedürfnisse hat, müssen seine Wahrnehmungen und sein Erkenntnisvermögen von der Realität abgelenkt werden.
Die Vorstellung von der Absperrung des Schmerzes ist für meine Hypothese wichtig, weil ich glaube, daß das Fühlen zentralistisch ist, ein Gesamtprozeß des Organismus, und wenn wir so umfassende kritische Gefühle wie die Urschmerzen absperren, dann verhindern wir, daß wir überhaupt zu fühlen vermögen.
Urgefühle sind wie ein Riesenbehälter, aus dem wir schöpfen. Die Neurose ist der Deckel dieses Behälters. Sie dient dazu, fast alle Gefühle niederzuhalten, Freude ebenso wie Schmerz. Daher erklären Patienten nach ihrer Primärtherapie übereinstimmend: »Ich kann wieder fühlen.« Sie sprechen davon, daß sie zum erstenmal seit ihrer Kindheit wirklich Freude verspüren.
Diese Vorstellung von einem Urschmerzbehälter im Inneren des Neurotikers ist mehr als eine bloße Metapher; oft ist es genau das, was die Patienten auf die eine oder andere Weise berichten (daß sie einen septischen Behälter voller Wunden mit sich herumschleppen). Zum Beispiel hat das Kind jedesmal, wenn es von Pappi geschlagen wird, das Gefühl: »Pappi, bitte sei nett zu mir! Bitte mach mir nicht solche Angst!« Aber aus einer Reihe von Gründen sagt das Kind das nicht. Gewöhnlich ist es so in den Kampf verstrickt, daß es seine Gefühle gar nicht bemerkt, und würde es sie bemerken, könnte eine solche Ehrlichkeit (»Pappi, ich bekomme Angst vor dir!«) für den Vater so bedrohlich klingen, daß er womöglich zu weiteren Züchtigungen schreitet. Deshalb agiert das Kind aus, was es nicht sagen kann, und wird scheuer, schuldbewußter, weniger aufdringlich, artiger und höflicher sein.
* Hess und Polt: <Pupil Size in Relation to Interest Value of Visual Stimuli>: Science, Bd. 152 (1960) S. 549-350
** Barber und Coules, <Electrical Skin Conductance and Galvanic Skin Response During Hypnosis>, <International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis>, Bd. 7 (1959), S. 79-92.
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Urschmerzen werden einer nach dem anderen aufgespeichert und in Schichten von Spannung aufgespalten, die nach Befreiung drängen. Nur durch das Herstellen der Verbindung mit ihren Ursprüngen können sie befreit werden. Nicht jeder Zwischenfall braucht wiedererlebt und in Verbindung gebracht zu werden, aber das allgemeine Gefühl, das vielen Erlebnissen zugrunde liegt, muß empfunden werden. Wenn in dem obigen Fall das Gefühl mit Pappi in Zusammenhang gebracht wird, wird der Patient von sämtlichen (im <Behälter> gespeicherten) Erinnerungen daran, wie sein Vater ihm Angst machte, bombardiert werden. Das ist ein Beweis für das Vorhandensein von Primärszenen, die für viele mit dem zentralen Gefühl verbundene Erlebnisse repräsentativ sind. Der Prozeß der Primärtherapie ist eine methodische Entleerung des Urschmerzbehälters. Wenn der Behälter leer ist, halte ich den Patienten für real oder gesund.
Das Bedürfnis zu überleben liegt den Urschmerzen zugrunde. Das kleine Kind wird tun, was es muß, um seine Eltern zu erfreuen. Ein Patient drückte das so aus: »Ich beseitigte mich selbst. Ich brachte den kleinen Jimmy um, weil er unmanierlich und wild und lebhaft war und die Eltern ein folgsames und sanftes Kind haben wollten. Ich mußte den kleinen Jimmy loswerden, um mit diesen verrückten Eltern weiterleben zu können. Ich brachte meinen besten Freund um. Es war eine miese Sache, aber das einzige, was ich tun konnte.«
Weil wir ein zusammenhängendes Ganzes gewesen sind, wird das reale Selbst ständig an die Oberfläche drängen und diese geistigen Zusammenhänge herstellen. Wenn es nicht ein echtes Bedürfnis wäre, heil und gesund zu sein, dann könnte das reale Selbst ein für allemal beiseite gelegt werden; es würde dann friedlich in uns ruhen und niemals versuchen, sich in unser Verhalten einzumischen. Was die Neurose vorantreibt, ist das Bedürfnis, wieder heil und gesund zu sein, das Bedürfnis, unser natürliches Selbst zu sein. Das irreale Selbst ist die Absperrung, der Feind, der schließlich vernichtet werden muß.
Es kostet den Primärtherapeuten eine beträchtliche Anstrengung, den Organismus wieder in diese frühen Urschmerzen hineinzuzwingen. Wie sehr der Patient auch gesund werden möchte, es muß immer ein Widerstand überwunden werden, um diese schmerzenden Gefühle zu empfinden. Tatsächlich fürchten die meisten Patienten <verrückt zu werden>, wenn sie nahe daran sind, diese Schmerzen zu verspüren.
Für unsere Zwecke ist der wichtigste Aspekt des Urschmerzes, daß er ebenso unverfälscht und intensiv, wie er an dem Tag war, an dem er begann, innerlich verkapselt bleibt. Er bleibt unberührt von den Lebensumständen und Erfahrungen des Betreffenden, wie immer sie auch sein mögen.
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Fünfundvierzigjährige Patienten empfinden diesen frühen Verletzungen mit verheerender Intensität, als ob sie die Erfahrung — die schon vierzig Jahre zurückliegen mag — zum erstenmal machten. Und ich glaube, so ist es tatsächlich. Der Urschmerz war niemals voll empfunden worden; er war abgewürgt und versteckt worden, ehe seine volle Wirkung spürbar werden konnte. Doch ist dieser Schmerz entsetzlich geduldig. An jedem Tag unseres Lebens gibt er uns auf alle mögliche heimliche Weise einen Wink und erinnert uns an sein Vorhandensein. Selten wird er laut rufen, um befreit zu werden.
Häufiger wird der Urschmerz hineinverwoben in das Persönlichkeitssystem, so daß er nicht mehr gespürt wird und weitgehend unerkannt bleibt. Das neurotische System agiert den Urschmerz dann aus.
Das tut es automatisch, weil der Urschmerz eine Befreiung irgendeiner Art haben muß, ob er erkannt ist oder nicht. Die Befreiung mag in dem ständigen Lächeln bestehen, das besagt: »Sei nett zu mir«, oder in dem körperlichen Leiden, das verlangt: »Sorge für mich«. Oder in lautem und aufdringlichem Benehmen als Salonlöwe bei Geselligkeiten, um zu sagen: »Schau mich mal an, Pappi!« Welche Stellung im Leben ein Mann auch errungen haben mag, wie nüchtern oder >reif< seine Abwehr auch ist, wenn man etwas tiefer eindringt, findet man unter der Tünche ein verletztes Kind.
Ich möchte betonen, daß das Empfinden des Urschmerzes nicht bloß das Wissen vom Urschmerz ist; es ist das Sein des Urschmerzes. Weil wir psychophysische Einheiten sind, glaube ich, daß kein Versuch, diese Einheit zu trennen, gelingen kann. Diätkliniken, Sprachkliniken und sogar psychotherapeutische Kliniken sind Beispiele dafür, daß Symptome isoliert und so behandelt werden, als seien sie vom gesamten System getrennt. Neurose ist weder eine Gemüts- noch eine Geisteskrankheit; sie ist beides. Um wieder heil und gesund zu werden, ist es nötig, die Spaltung zu spüren und zu erkennen und den Zusammenhang laut hinauszuschreien, der dem Menschen wieder seine Einheitlichkeit zurückgibt. Je intensiver diese Spaltung verspürt wird, um so intensiver und echter ist die wiedervereinigende Erfahrung.
Die Primärtheorie unterstellt, daß heutzutage alle Verletzungen, die übermäßig oder mit der Realität nicht im Einklang sind, auf den Urschmerzfundus hinweisen. Das Vorhandensein dieses Fundus bewirkt, daß sich ungute Gefühle viel länger halten, als es der Bedeutung einer sonstigen Unannehmlichkeit oder Kritik entsprechen würde.
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Wahrscheinlich kennen wir alle einen unfreundlichen oder bösartigen Menschen, der ohne erkennbaren Anlaß jeden Morgen ebenso unfreundlich und bösartig aufwacht wie am Tag zuvor. Woher kommen tagtäglich diese Gefühle? Ich glaube, sie stammen aus dem Urgefühlsreservoir.
Alles, was die irreale Fassade aufreißt, berührt diesen Fundus und ruft aufsteigenden Urschmerz hervor. Zum Beispiel wurde einer Patientin, mit deren Aussehen ihre Mutter offenbar niemals zufrieden gewesen war, einmal ganz beiläufig von ihrem Freund gesagt, ihre hübschen blauen Augen paßten eigentlich nicht zu ihrem tiefschwarzen Haar. Diese eindeutig belanglose Bemerkung erweckte in ihr das Gefühl, völlig abgelehnt zu werden, obwohl sie <wußte>, daß ihr Freund es nicht böse gemeint hatte. Eine Erörterung der gegenwärtigen Lage wurde als Mittel angewandt, um sie in ihren Urschmerz zu versetzen.
Diesen Urschmerz empfinden nenne ich ein Urerlebnis.
Man kann an einem Abend Dutzende von Komplimenten bekommen, aber eine kleine kritische Bemerkung macht all die Komplimente unwichtig, weil sie die lebenslänglichen Gefühle, man tauge zu nichts, sei untüchtig und unerwünscht, hervortreten läßt.
Oft fühlen sich Neurotiker zu kritischen Menschen hingezogen, eben weil sie symbolisch mit kritischen Eltern-Surrogaten kämpfen, um endlich die Kritik aufzulösen und zu überwinden. Derselbe dynamische Prozeß findet statt, wenn sich jemand mit einer kühlen, zurückhaltenden Person einläßt, um symbolisch (durch sie) die eigenen Eltern warmherzig zu machen.
Das ist der Kernpunkt des neurotischen Kampfes — die ursprüngliche häusliche Situation herzustellen und sie nach Möglichkeit aufzulösen, einen schwachen Mann zu heiraten und zu versuchen, ihn zum Starksein anzustacheln, oder sich einen starken Mann zu suchen und unbarmherzig auf ihm herumzuhacken, so daß er schwach und kraftlos wird. Warum <heiraten> die Menschen symbolisch ihre <Mammis und Pappis>? Um aus ihnen reale, liebevolle Menschen zu machen. Da das nicht geschehen kann, wird dadurch nur erreicht, daß der Kampf weitergeht.
An diesem Punkt könnte man fragen: <Woher wissen wir, daß der Neurotiker wirklich unter irgendeinem großen Schmerz leidet?>
In allen Fällen, die ich gesehen habe, ist der Urschmerz, ganz unabhängig von der psychiatrischen Diagnose, an die Oberfläche gekommen, nachdem die Abwehr zusammengebrochen war. Der Urschmerz ist immer da; nur ist er in einem allgemein gewordenen Spannungszustand auf den ganzen Körper verteilt.
Eine weitere Frage könnte lauten: <Woher wissen wir, daß der Patient nicht einfach auf den Schmerz reagiert, den der Therapeut ihm einredet?>
Erstens redet der Therapeut niemandem einen Schmerz ein. Der Angriff auf die Abwehr macht es dem Patienten möglich, sich, seine Bedürfnisse, Wünsche und seelischen Verletzungen zu empfinden.
Zweitens, sobald das Hindernis für das Denken und Fühlen größtenteils beseitigt ist, bricht das Fühlen ständig spontan hervor.
Drittens, der Schmerz führt den Patienten sofort in sein Leben zurück und konzentriert sich fast nie auf den Therapeuten.
Durch eine seltsam verzerrte Denkweise sind wir zu der Überzeugung gelangt, daß derjenige, der Schmerz am besten ertragen kann, der stärkste und tugendhafteste sei. Wer schweigend zu leiden vermag, <ihn aushält> ist der <reale Mensch>. Dennoch ist es der irreale Mensch, der ihn am <besten> aushält, weil er an Schmerzen gewöhnt ist. Damit wollen wir offenbar sagen, daß derjenige, der sich selbst verleugnet, der am besten leiden kann, der Gewinner des neurotischen Wettlaufs ist.
Beim westlichen Menschen scheint eine direkte Beziehung zwischen Selbstverleugnung und Tugend zu bestehen, nicht nur in unserem religiösen Leben, wo Entsagung hoch gepriesen wird, sondern auch im Leben des durchschnittlichen Mannes, der schwer arbeitet, um seine Familie zu ernähren, und infolge seiner Aufopferung vielleicht eines frühen Todes stirbt. Wer niemals Zeit für sich selbst gehabt hat, wer sich aufgeopfert hat, opfert zu guter Letzt buchstäblich sich selbst.
Allein in diesem Sinne können wir, glaube ich, sagen, daß Irrealität tödlich ist.
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