8. Die Behandlung
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Neue Patienten werden schon im voraus darauf vorbereitet, daß die Primärtherapie kein gewöhnliches Behandlungsverfahren ist. Normalerweise bitten wir den künftigen Patienten vor einem persönlichen Gespräch um eine schriftliche Selbstdarstellung. Haben wir den Eindruck, der Kandidat ist für die Behandlung geeignet (d.h. liegen keine organischen Gehirnschäden oder schwere Psychosen vor), erfolgt ein persönliches Gespräch, dessen Ergebnisse zusammen mit der schriftlichen Selbstdarstellung vom Stab diskutiert werden und darüber entscheiden, ob der Bewerber angenommen oder abgelehnt wird.
Wird er angenommen, bitten wir ihn unter Umständen, uns weitere schriftliche Angaben zu machen, und sich einer gründlichen medizinischen Untersuchung von dem Leiter unserer medizinischen Abteilung zu unterziehen. Gelegentlich mag er auch um das Einverständnis gebeten werden, sich über seine Funktion als Patient hinaus unserer wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung zu stellen. Erklärt er sich einverstanden, werden im Verlauf der gesamten Behandlung wiederholt Blut- und Urinuntersuchungen sowie Untersuchungen der Hirnwellen vorgenommen. Zudem werden gelegentlich auch psychologische Tests mit einbezogen.
Nachdem der Patient angenommen ist, erhält er von uns zunächst einiges schriftliche Material. Unter anderem ist eine Liste mit Anweisungen, denen er während der Behandlung Folge leisten muß — diese Anweisungen (z.B. striktes Verbot von Zigaretten, Alkohol, Tranquilizern oder Schmerztabletten) sind unter allen Umständen einzuhalten —, ferner einen Fragebogen, der unseren Forschungsarbeiten dient und eine allgemeine Darstellung dessen, was den Patienten bei der Primärtherapie erwartet. Ihm wird mitgeteilt, daß er drei Wochen Einzeltherapie erhält, innerhalb derer ihm täglich so viel Zeit zur Verfügung gestellt wird, wie er benötigt. Dem folgt eine Gruppentherapie, die allerdings weniger Gruppentherapie im strengen Sinne ist, sondern eher »primärtherapeutische Behandlung innerhalb einer Gruppe«.
Er wird aufgefordert, in den ersten drei Wochen weder zu arbeiten, noch einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Er wird seine ganze Kraft für die Therapie brauchen. Abgesehen davon, daß er kaum das Verlangen haben wird zu arbeiten, würde er zu erregt sein, um es überhaupt zu können. Er ist in diesen drei Wochen der einzige in Einzeltherapie befindliche Patient seines Therapeuten.
Ihm wird jeden Tag so viel Zeit zur Verfügung gestellt, wie er braucht; nur seine Gefühle werden das Ende der Sitzung bestimmen. Im allgemeinen dauern die Sitzungen zwischen zwei und drei Stunden; selten bleibt jemand weniger als zwei Stunden oder länger als dreieinhalb Stunden da. Die Primärtherapie ist viel ökonomischer als die konventionelle Gesprächstherapie — nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch in bezug auf die aufgewendete Zeit. Die gesamten finanziellen Ausgaben betragen etwa ein Fünftel der Kosten einer Psychoanalyse.
Vierundzwanzig Stunden, ehe wir beginnen, wird der Patient in einem Hotelzimmer isoliert und gebeten, den Raum nicht vor der Therapiestunde am nächsten Tag zu verlassen. Er darf in diesen vierundzwanzig Stunden nicht lesen, nicht fernsehen und nicht telefonieren, aber schreiben. Wenn wir Grund zu der Annahme haben, daß der Patient eine starke Abwehr hat, dann bitten wir ihn, die ganze Nacht aufzubleiben. Diese Methode kann gelegentlich in den beiden ersten Wochen der Einzeltherapie angewandt werden.
Die Isolierung und Schlaflosigkeit sind wichtige Techniken, die die Patienten oft einem Urerlebnis nahebringen. Der Zweck der Isolierung ist, den Patienten all seiner gewöhnlichen Auslaßventile für Spannung zu berauben, während die Schlaflosigkeit seine verbliebenen Abwehrmechanismen schwächen soll; er hat weniger Mittel und Wege, sich seiner Gefühle zu erwehren. Das Ziel ist, dem Patienten keine Möglichkeit zu lassen, von sich selber abgelenkt zu werden. Ein Patient sagte mir: »Mitten in der Nacht machte ich Liegestütz. Jedesmal, wenn ich die Übung unterbrach und aus dem Fenster des Hotelzimmers schaute, begann ich zu schluchzen und wußte nicht, warum.« Eine andere Patientin hatte einen Anfall von Panik und mußte mich um Mitternacht anrufen, damit ich sie darüber beruhigte, daß sie nicht verrückt würde. Alleinsein kann den Neurotiker oft zur Verzweiflung bringen.
Für viele Patienten ist die Nacht in dem Hotelzimmer das erste Mal seit Jahren, daß sie ganz allein stillgesessen und über sich nachgedacht haben. Nirgends können sie hingehen und haben nichts zu tun. Sie haben keine Gelegenheit, die Irrealität auszuagieren. Einer der wichtigen Gesichtspunkte, warum der Patient die Nacht über wach bleiben soll, ist, ihn daran zu hindern, seine Irrealität in seinen Träumen auszuagieren. Mangel an Schlaf trägt dazu bei, die Abwehrmechanismen zu zerstören, teilweise, weil schlichte Müdigkeit den Betreffenden unfähiger macht, sein Agieren fortzusetzen, aber hauptsächlich, weil er sich nicht symbolisch durch seine Träume ausagieren kann, so daß er die Spannung nicht zu mildern vermag. Dadurch, daß wir das symbolische Agieren, ob wachend oder schlafend, verhindern, bringen wir den Patienten seinen Gefühlen näher. Außerdem hat eine Reihe von Forschungen ergeben, daß Isolierung an sich schon die Schmerzwelle senkt.
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Die erste Stunde
Wenn der Patient kommt, leidet er. Er raucht nicht und nimmt kein Beruhigungsmittel, er ist müde und ängstlich. Er ist nicht sicher, was ihm bevorsteht. Vielleicht lassen wir ihn fünf oder zehn Minuten über die verabredete Zeit hinaus warten, damit sich mehr Spannung aufbaut. Das schallgedämmte Sprechzimmer ist halb dunkel; ein Telefon gibt es nicht. Der Patient liegt auf der Couch. Ihm wird gesagt, er solle die Beine spreizen und die Arme ausbreiten, denn ich möchte, daß der Körper eine möglichst abwehrlose Stellung einnimmt. Die Bedeutung von Stellung und Körperhaltung wurde mir klar, als ich Gefängnisinsassen beobachtete, die die ersten Tage im Gefängnis oft mit gekreuzten Beinen, über dem Bauch zusammengelegten Armen und über die Knie gebeugtem Oberkörper verbringen, als wollten sie sich gegen das Alleinsein, die Verzweiflung und den Schmerz schützen. Was von diesem Punkt an mit dem einzelnen Patienten geschieht, hängt natürlich von ihm ab. Ein typisches Beispiel ist das folgende:
Der Patient spricht über seine Spannung und Probleme; seine Impotenz, Kopfschmerzen, Depression und daß er rundum unglücklich ist. Er könnte etwa sagen: »Was hat das alles für einen Zweck?« Oder: »Alle sind so krank; keiner ist davon verschont.« Oder: »Ich habe es satt, allein zu sein! Ich kann mich mit niemandem anfreunden, und wenn ich doch einmal Freunde finde, habe ich auch sie bald satt!« Der Patient ist also unglücklich und leidet. Wenn er sehr in Spannung ist und Angst hat, werde ich ihn auffordern, sich von diesem Gefühl übermannen zu lassen. Gerät er in Panik, ermuntere ich ihn, seinen Vater oder seine Mutter zu rufen und sie um Hilfe zu bitten. Gelegentlich führt das schon in den ersten fünfzehn Minuten der ersten Sitzung zu einem schmerzlichen Gefühl. Ich fordere ihn dann auf, von seiner Kindheit zu erzählen. Er wird sagen, er könne sich nicht an sehr viel erinnern. Ich dränge ihn zu sagen, an was er sich erinnert. Dann beginnt der Patient von seiner Kindheit zu sprechen.
Während er redet, sammle ich Informationen. Der Patient enthüllt sein Abwehrsystem auf zweierlei Weise. Erstens dadurch, wie er redet. Er gibt sich vielleicht sehr intellektuell, läßt kein Gefühl erkennen, verwendet Abstraktionen und verhält sich im großen und ganzen so, als sei er ein Beobachter seines Lebens und nicht derjenige, der es erlebt hat. Weil er sich seiner Persönlichkeit (oder seines irrealen Selbst) bedient, um sein Leben zu beschreiben, passen wir genau auf, was diese Persönlichkeit sagt. Der vorsichtige Mensch, der ausweicht und die Fragen des Therapeuten abwandelt, sagt vielleicht: »Tun Sie mir nicht mehr weh. Ich werde nichts fühlen, wenn Sie nicht aufhören, mir wehzutun.«
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Während er redet, sagt uns der Patient auch, wie er sich Hause benahm: »Gewöhnlich hielt ich die Klappe, wenn er das sagte.« — »Ich wollte ihm nicht die Genugtuung verschaffen zu wissen, daß er mich verletzt hatte.« — »Mutter war ein solches Baby, daß ich alles in die Hand nehmen mußte und sozusagen die Mutter war.« — »Pappi war immer so anklagend, daß ich sehr bestimmt antworten mußte.« — »Ich konnte es nie recht machen.« — »Da war keine Liebe.«
Der Patient wird ermuntert, sich in eine frühe Situation zu versetzen, die eine Menge Gefühl in ihm erweckt zu haben scheint. »Ich saß da und ließ zu, daß er meinen Bruder verprügelte, und ... nanu, ich bin so in Spannung ... ich weiß nicht, was das ist.« Er wird wieder ermuntert, sich in das Gefühl zu versetzen. Vielleicht entdeckt er nicht, was für ein Gefühl das ist, oder er sagt: »Ich glaube, ich begann zu empfinden, daß mir das auch passieren könnte, wenn ich freche Antworten geben würde wie mein Bruder ... Oh, ich habe einen Knollen im Magen. Hatte ich damals Angst?« Der Patient beginnt ein wenig zu zucken. Er bewegt Beine und Hände. Seine Lider zittern, und er runzelt die Stirn. Er seufzt oder knirscht mit den Zähnen. Ich dränge ihn: »Fühlen Sie das! Bleiben Sie dabei!« Manchmal sagt er dann: »Es ist vorbei. Das Gefühl ist vergangen.« Dieses Sparring kann Stunden oder Tage dauern, aber ich will hier das Verfahren abkürzen und annehmen, das Gefühl sei dageblieben, so daß wir zum nächsten Stadium übergehen können.
»Ich fühle die Spannung überall. Ja, ich glaube, ich hatte Angst vor dem Alten«, mag die nächste Aussage des Patienten sein. An diesem Punkt, wenn ich sehe, daß er das Gefühl empfindet und daran festhält, fordere ich ihn auf, tief und kräftig vom Bauch aus zu atmen. Ich sage: »Machen Sie den Mund so weit als möglich auf und lassen Sie ihn so! Jetzt ziehen Sie, ziehen Sie das Gefühl aus dem Bauch hervor!« Der Patient fängt tief an zu atmen, sich zu winden und dann zu zittern. Wenn das Atmen automatisch zu sein scheint, dränge ich ihn: »Sagen Sie Pappi, daß Sie Angst haben!« — »Dem Mistkerl sage ich gar nichts!« wird er vielleicht antworten. Ich dränge weiter. »Sagen Sie es! Sagen Sie es!« Wie einfach die Sache auch zu sein scheint, so ist der Patient doch in der ersten Stunde gewöhnlich nicht imstande, es zu sagen. Wenn er es herausschreit, führt es gewöhnlich zu einem Strom von Tränen und magenumdrehendem Keuchen. Es kann sein, daß er gleich danach davon spricht, was für ein Mann sein Vater war. Es besteht auch gute Chance, daß er, während er redet, mehrere Einsichten hat.
Diese Anfangsreaktion wird Vor-Urerlebnis genannt. Die Vor-Urerlebnisse können mehrere Tage oder auch etwa eine Woche lang auftreten. Es ist im wesentlichen ein Abschälungsprozeß, der zum Ziel hat, den Patienten aufgeschlossen und bereit zu machen, sein Abwehrsystem preiszugeben. Niemand kommt daher und läßt das einfach so geschehen. Der Körper gibt die Neurose nur widerwillig auf.
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Nach etwa fünfzehn Minuten ist der Patient wieder ruhig und wird vielleicht anfangen zu >nörgeln<, sein üblicher Stil der Nicht-Kommunikation: sein gefühlloses Gerede. Dann wird er wiederum in eine besonders schmerzliche Situation seiner Vergangenheit versetzt. Der Therapeut fordert den Patienten auch dazu heraus, seine ganze Abwehr zu offenbaren. Redet der Patient zum Beispiel leise, wird er ermahnt, laut zu sprechen. Gibt er sich intellektuell, wird bei jeder Gelegenheit auf seine Intellektualität angespielt. Dem Patienten, der seinen Gefühlen fern ist, der <in seinem Kopf> lebt, ist es gewöhnlich nicht möglich, mehrere Tage hintereinander zu einem Vor-Urerlebnis zu gelangen. Dennoch versuchen wir es bei jeder Sitzung von neuem.
Die erste Stunde des Intellektuellen kann zum Beispiel einer normalen Therapiesitzung sehr ähnlich sein: Diskussion, Krankengeschichte, Fragen und Klarstellung. Über Ideen wird keinesfalls diskutiert. Auch über die Primärtherapie oder ihre Stichhaltigkeit diskutieren wir nicht, was manche Patienten gern täten. Jeden Tag wird ein Versuch unternommen, die Bresche im Abwehrsystem zu erweitern, bis sich der Patient nicht mehr wehren kann. Die ersten Tage der Therapie scheinen den ersten Lebensjahren des Patienten vor dem Auftreten der Primärszene zu entsprechen, die den Patienten dann veranlaßte, sich abzukapseln. Stückchenweise erlebt er isolierte und aus einzelnen Teilen bestehende Geschehnisse. Wenn sich alle Bruchstücke zu einem sinnvollen Ganzen vereinigen, beginnt für den Patienten das Urerlebnis.
Ob der Patient nun intelligent, demütig, höflich, unterwürfig oder feindselig ist, welche Fassade er auch immer darbietet — er wird daran gehindert, es zu sein, damit er sein Abwehrsystem überwinden und in seine Gefühle versetzt werden kann. Wenn, der Patient die Knie hebt oder den Kopf dreht, wird ihm gesagt; er solle gerade liegen. Er wird vielleicht kichern oder gähnen; wenn die Gefühle in ihm aufsteigen, und das wird dann sofort unnachsichtig beanstandet. Oder er versucht, das Thema zu wechseln, das wird unterbunden. Oder er verschluckt buchstäblich das Gefühl, was auf viele Patienten zutrifft, die jedesmal schlucken, wenn ein Gefühl aufzusteigen beginnt. Das ist einer der Gründe, warum wir darauf bestehen, daß der Mund offen bleibt.
Wenn der Patient über eine neue, frühe Situation spricht, achten wir darauf, ob sich Anzeichen von Gefühl erkennen lassen. Vielleicht zittert die Stimme ein wenig, als ob sie durch Spannung bedrängt werde. Immer wieder reden wir dem Patienten gut zu, er solle atmen und fühlen. Diesmal, es mag ein oder zwei Stunden später sein, wird der Patient schwach. Er weiß nicht, was für ein Gefühl das ist, er fühlt sich nur in Spannung und >abgedichtet< — das heißt, gegen das Gefühl abgedichtet.
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Ich beginne mit dem Prozeß des Ziehens und Atmens. Der Patient schwört, er wisse nicht, was für ein Gefühl das sei. Die Kehle ist ihm zugeschnürt, und es kommt ihm vor, als habe er eine Bandage um die Brust. Er beginnt mit offenem Mund zu würgen. Er sagt: »Ich muß mich übergeben!« Ich erkläre ihm, daß das nur ein Gefühl sei und er nicht brechen werde. (Tatsächlich hat trotz langen Würgens kein Patient jemals sich übergeben.) Ich dränge ihn, das Gefühl auszusprechen, obwohl der Patient nicht weiß, was er fühlt. Kaum beginnt er, ein Wort zu bilden, da schlägt er um sich und windet sich in Schmerzen. Ich dränge ihn, es zu sagen, und er versucht es. Schließlich kommt es heraus — ein Schrei: »Pappi, sei lieb!« — »Mammi, hilf mir!« Oder auch nur ein Wort: »Haß.« — »Ich hasse dich, ich hasse dich!« Das ist der Urschrei. Er äußert sich in zitterndem Keuchen, herausgestoßen durch den Druck der jahrelangen Verdrängung und Verleugnung dieses Gefühls. Manchmal besteht der Schrei auch nur aus »Mammi!« oder »Pappi«. Allein diese Wörter auszusprechen, bringt ganze Sturzbäche von Schmerz mit sich, denn viele >Mammis< erlauben ihren Kindern überhaupt nicht, sie anders als »Mutter« zu nennen. Sich gehen zu lassen und das kleine Kind zu sein, das eine >Mammi< braucht, trägt dazu bei, all das aufgestaute Gefühl freizusetzen.
Der Schrei ist zugleich ein Schrei aus Urschmerz und ein befreiendes Geschehnis, bei dem sich das Abwehrsystem des Patienten auf dramatische Weise öffnet. Er ist die Folge des Drucks, der durch die vielleicht jahrzehntelange Zurückdrängung des realen Selbst entstanden ist. Er ist ein weitgehend unwillkürlicher Akt. Der Schrei wird im ganzen Körper verspürt. Manche Patienten beschreiben ihn als einen Blitz, der die unbewußte Körperbeherrschung zu sprengen scheint. In einem späteren Kapitel werde ich den Schrei und seine Bedeutung ausführlicher besprechen. Hier genügt es festzuhalten, daß der Urschrei sowohl die Ursache als auch das Ergebnis eines abbröckelnden Abwehrsystems ist.
Während der ersten Stunde lasse ich den Patienten manchmal nur seine Eltern anreden. Wenn er mir von ihnen erzählt, dann entfernt er sich einen Schritt von seinen Gefühlen, es ist dann etwa so, wie wenn sich zwei Erwachsene miteinander unterhalten. Aber wenn er vielleicht sagt: »Pappi, ich erinnere mich, wie du mich Schwimmen lehren wolltest und mich angeschrieen hast, weil ich Angst hatte, mit dem Kopf unter Wasser zu gehen. Zuletzt hast du mich dann untergetaucht.« An dieser Stelle wendet sich der Patient vielleicht wütend an mich und sagt: »Können Sie sich vorstellen, daß dieser Dummkopf einen Sechsjährigen untergetaucht hat ?« Ich erwidere: »Sagen Sie ihm, was Sie fühlen!«, und er tut das, läßt eine lange Rede vom Stapel und schreit seine Angst heraus, die er als Sechsjähriger hatte. Das führt dann zu weiteren Assoziationen, und jetzt kann er etwas fühlen.
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Er fängt an zu erzählen, wie sein Vater ihm auch andere Dinge beibringen wollte und wie furchterregend er war. »Einmal war da dieses große Pferd, und ich konnte nicht reiten, aber ich mußte trotzdem aufsitzen. Das Pferd bäumte sich auf und ging durch. Der Reiseführer holte uns ein und brachte das Pferd zum Stehen. Mein Vater sagte kein Wort.« Wieder weise ich ihn an, seinem Vater zu sagen, was er fühlt. Seine Assoziationen halten ihn vielleicht bei derartigen väterlichen >Unterrichtsstunden< fest oder den beängstigenden Situationen, bei denen sein Vater ihm nicht erlaubte, Angst zu haben.
Oder er schaltet plötzlich auf seine Mutter um. »Warum ist sie nicht eingeschritten? Ach, sie war so schwach. Sie hat mich nie vor ihm beschützt.« Der Patient hat schon etwas gelernt und wendet sich jetzt direkt an sie. »Mammi, hilf mir, ich brauche Hilfe. Ich habe Angst!« Das mag dann ein noch tieferes Gefühl zur Folge haben: Schluchzen, Tränen, ein Krümmen des Bauches. Weitere Assoziationen über die Zeit, als sie ihn nie vor dem >Ungeheuer< beschützte. Weitere Einsichten darüber, wie kindisch und ängstlich seine Mutter war. Daß sie zu schwach war, um zu helfen, und so weiter. Nach zwei oder drei Stunden ist der Patient erschöpft, und wir machen für heute Schluß.
Der Patient kehrt in sein Hotelzimmer zurück. Er weiß, daß ich jederzeit telefonisch erreichbar bin, wenn er mich brauchen sollte, und in der ersten Woche kann es auch sein, daß er wegen seines hohen Angstpegels später am selben Tag zu einer weiteren Sitzung wiederkommt. Nach der ersten Woche kommt das weniger häufig vor. Er darf immer noch nicht fernsehen oder ins Kino gehen. Er will es eigentlich auch gar nicht, weil er vollauf mit sich beschäftigt ist.
Der zweite Tag
Der Patient kommt, und die Einsichten sprudeln nur so. »Es ist, als ob mein ganzer Verstand explodiert wäre«, sagt er. »Letzte Nacht habe ich so viel ausklamüsert, und nach Essen steht mir der Sinn gar nicht. Als ich endlich eingeschlafen war, habe ich immerzu geträumt.« Er beginnt gleich mittendrin, denn alles taucht; wieder auf. Er erzählt mir von Erinnerungen, die er vergessen hatte, spricht über die schmerzlichen Situationen, die er in der ersten Stunde nicht erwähnt hatte. Es mag sein, daß er schon in den ersten zehn Minuten zu weinen beginnt und dann wieder abwechselnd von Erinnerungen und Einsichten spricht. Er scheint einen starken Schmerz zu verspüren, doch sagt er, wie fast jeder Patient: »Ich konnte es kaum erwarten herzukommen.« Wiederum unternehmen wir Angriffe auf das Abwehrsystem. Wir gestatten dem Patienten nicht, vom Thema abzuschweifen, wenn wir vermuten, daß er etwas auslassen will. Auch darf er sich nicht aufsetzen und <nörgeln>.
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Wir haken wiederum bei einer schmerzlichen Erinnerung ein: »Einmal nahm Mutter mich mit, als sie mit zwei Freundinnen einkaufen ging, und sie hielt mir eine Haarschleife an und sagte zu ihren Freundinnen: >Findet ihr nicht, daß er ein hübsches Mädchen wäre?<« — »Ich bin ein Junge, du Dummkopf!« schrie er.
Und dann sprach er davon, wie seine Mutter ihn unbedingt feminin machen wollte. Noch mehr Erinnerungen, Einsichten und Gefühle, die sich gegen sie richteten. Dann erörterte er ihre Vergangenheit. Was sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Warum sie einen so unmännlichen Mann geheiratet hatte. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Als ich zum Wehrdienst eingezogen wurde und sie mich zum Abschied küßte. Es war ein Zungenkuß. Können Sie sich das vorstellen? Meine eigene Mutter! Mein Gott! Immer hat sie mich und nicht Vater gewollt. Mutter! Laß mich zufrieden. Laß mich zufrieden! Ich bin dein Sohn!« Dann sagt er vielleicht: »Jetzt weiß ich, warum sie immer etwas gegen meine Freundinnen hatte. Sie wollte mich für sich haben. Mein Gott, ist das widerlich. Jetzt erinnere ich mich, als wir zu einem Picknick fuhren, da rannten wir weg und versteckten uns vor Vater, und sie legte den Kopf auf meinen Schoß. Mir war komisch zumute. Irgendwie mies. Oh! Mutter wollte mich verführen. Mir wurde übel, und ich übergab mich und wußte nicht, warum. Jetzt weiß ich es. Sie wollte mich gegen Vater ausspielen. Das einzig Anständige in meinem Leben. O du Miststück ! Du Miststück!« Jetzt wälzt sich der Patient vielleicht auf dem Fußboden, windet sich und keucht: »Ich hasse sie, ich hasse sie!« Er schreit, daß er sie umbringen möchte. »Sagen Sie es ihr«, sage ich. Er schlägt wie wild auf den Fußboden, völlig unbeherrscht vor Zorn, und das dauert vielleicht fünfzehn oder zwanzig Minuten. Schließlich ist es vorbei. Er ist erschöpft, zu müde, um zu reden, und wir beenden die zweite Sitzung.
Der dritte Tag
Der Patient wird abwehrlos. Manchmal kommt er schon weinend ins Sprechzimmer. Oder ich finde ihn schluchzend auf dem Fußboden im Wartezimmer. »Ich kann den ganzen Schmerz nicht aushaken«, klagt er. »Es geht über meine Kraft. Ich kann überhaupt nicht lesen, so überschwemmt bin ich von Erinnerungen und Einsichten. Wie lange soll das dauern?« Und wieder machen wir uns daran, Gefühle wachzurufen. »Ich erinnere mich, daß Pappi einmal wütend auf mich war, weil ich nicht tun wollte, was meine Mutter mich gebeten hatte. Ich war erst acht. Ich sagte, er solle den Mund halten. Er warnte mich, ich solle das nie wieder zu ihm sagen. Ich sagte es noch einmal. Er nahm den Besen und drohte mir damit. Ich rannte weg.
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Er setzte mir nach und packte und verdrosch mich. Mein Gott, er wird mich umbringen. Pappi haßt mich. Er will mich weghaben. Hör auf, Pappi, hör auf!« Der Patient ist nun ganz vom Gefühl überwältigt. Er ist von der Couch auf den Fußboden hinuntergerutscht und schreit unter heftigen Bauchkrämpfen, daß sein Vater ihn umbringe. Er keucht mit offenem Mund und schwitzt und versucht, einen Schrei auszustoßen, aber er bekommt ihn nicht heraus. Er keucht immer noch und würgt und schreit, daß er sterben wird. Schließlich: »Ich will brav sein, Pappi, ich will nichts Böses mehr sagen!« Und er tut es auch nicht wieder. Er wird ein artiger kleiner Junge. Was er durchmachte, war ein Urerlebnis. Ein totales Erleben des Fühlens und Denkens aus der Vergangenheit. In ein paar Minuten ist es vorbei, es scheint außerordentlich schmerzhaft zu sein. Der Patient erörtert seine Gefühle nicht. Er empfindet sie.
Ein Urerlebnis ist ein völlig überwältigendes Erlebnis. Der Patient ist sich kaum bewußt, wo er sich im Augenblick befindet. Was er in den ersten beiden Tagen der Therapie erlebt, nenne ich Vor-Urerlebnisse. Es sind starke Gefühle aus der Vergangenheit, aber noch nicht völlig überwältigende. Das soll nicht heißen, daß ein totales Urerlebnis nicht auch in der ersten Stunde eintreten könnte. Es ist zwar möglich, doch nicht die Regel. Manchmal vergehen Wochen bis zu einem vollen Urerlebnis. Wenn es eintritt, scheint es das Hindernis für das Denken und Fühlen zu beseitigen, der Betreffende wird aufgeschlossen für alle möglichen Gefühle, und beginnt auch außerhalb der Therapie, spontane Urerlebnisse zu haben. Von diesem Punkt an ist der Patient auf dem Weg zur Gesundheit.
Mit jedem Tag wird er wahrscheinlich tiefere Gefühle haben, bis er den Punkt erreicht, an dem das kritische Gleichgewicht zwischen dem irrealen und dem realen Selbst sich zugunsten des realen Selbst ändert und ein vollständiges Gefühlserlebnis möglich wird. Von dieser Zeit an wird er von schmerzlichen Situationen der Vergangenheit überwältigt und noch viele Urerlebnisse haben, die sich über Monate erstrecken. Das soll indes nicht heißen, daß die Person völlig real ist. Jedes Urerlebnis vermindert das irreale Selbst und erweitert das reale Selbst. Wenn die großen Urschmerzen empfunden worden sind, wird es kein irreales Selbst mehr geben, und wir können sagen, der Patient sei normal. Unsere Aufgabe ist es, Urschmerzen hervorzulocken, um zu erreichen, daß der Patient eine real fühlende Person wird.
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Nach dem dritten Tag
Das Behandlungsverfahren in den nächsten drei Wochen verläuft weitgehend so, wie bereits beschrieben. Es gibt zeitweilige Zustände von Stabilität, in denen der Patient nicht viel zu fühlen scheint oder <versiegt> ist.
Manchmal befindet er sich einfach in der Refraktärperiode, in der er sich von den Tagen des Urschmerzes ausruht. Der Organismus ist ein vortrefflicher Schmerzregulator, und wir achten darauf, daß wir einen Patienten nicht in weiteren Schmerz hineintreiben, wenn er in der Refraktärperiode ist.
Manchmal will der Patient auch seinen Gefühlen einfach nicht ins Auge sehen, da sein Abwehrsystem noch verhärtet ist. Obwohl der Patient in der Regel nach der ersten Woche das Hotelzimmer aufgibt, kann es sein, daß wir ihn bitten, wieder ins Hotel zu ziehen und die ganze Nacht wach zu bleiben. Das ist ein Versuch, die Abwehrmechanismen erneut zu schwächen.
Jeder neue Tag der Therapie bringt ein Abtragen von Schichten des Abwehrsystems, wie es einige Patienten nennen. Dieser Prozeß erhält immer mehr Wucht, weil das Empfinden von etwas Urschmerz dem Patienten den Weg bereitet, mehr Schmerz zu ertragen. Jedes Urerlebnis scheint neue, verborgene Erinnerungen aufzuschließen, die zu weiteren Urerlebnissen führen. Einander folgende Urerlebnisse erfassen unter Umständen in zunehmendem Maße den ganzen Körper, weil weitere Abwehrmechanismen abbröckeln. Der Körper wird sich jeweils nur zumuten, so viel Schmerz zu empfinden, wie er auf einmal ertragen kann, so daß die Urerlebnisse, wenn der Patient nicht gehetzt wird, in geordneter und ungefährlicher Folge stattfinden. Zwingt man einen Patienten, mehr zu empfinden, als er ertragen kann, wird er sich wieder abkapseln.
Gewöhnlich geht der Patient bei den einander folgenden Urerlebnissen Tag um Tag weiter in seiner Kindheit zurück. Oft kommt es vor, daß man sogar die Stimme des Lebensalters hört, das wiedererlebt wird — Lispeln, Kindersprache und schließlich das Weinen des Säuglings.
Als ich das alles beobachtete, wurde mir die Beziehung zwischen Urschmerz und Erinnerung klar, denn sobald der Urschmerz ausgeräumt ist, beginnen die Erinnerungen der postprimären Patienten mit den ersten Lebensmonaten. Diese Beobachtungen führten auch dazu, daß ich die ungeheure Bedeutung der ersten drei Lebensjahre verstand. Das ist keine neue Entdeckung; Freud machte sie zu Anfang dieses Jahrhunderts bekannt. Aber das Wesen des Traumas ist so schwer deutbar: naß im Bettchen gelassen zu werden; herausgenommen und grob behandelt zu werden; vernachlässigt zu sein und stundenlang schreien zu müssen; (abwehrlos) im Bettchen zu liegen und den keifenden Stimmen der Eltern ausgesetzt zu sein, die den Frieden des Kindes ständig stören; nicht gefüttert zu werden, wenn das Kind hungrig ist; nicht an der Brust trinken zu dürfen — oder wenn, dann nicht auf natürliche Weise entwöhnt, sondern nach Zeitplan abgestillt zu werden.
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Und das Trauma ergibt sich aus einer schwierigen Geburt, was uns nötigt, Otto Rank, der zu Beginn des Jahrhunderts über das Geburtstrauma schrieb, in neuer Perspektive zu sehen. Rank glaubte nämlich, daß die Geburt selbst traumatisch sei (das Verlassen der Wärme und Geborgenheit des Mutterleibs), während ich glaube, daß die traumatische Geburt traumatisch ist. Die Geburt ist ein natürlicher Prozeß, und ich glaube nicht, daß etwas Natürliches traumatisch sein kann.
Ich habe ein Urerlebnis mitangesehen, bei dem eine Frau zu einer Kugel zusammengerollt war, gluckste und fast daran erstickte, Flüssigkeit ausspie und sich dann streckte und wie ein Neugeborenes wimmerte. Nachher hatte sie das Gefühl, ihre sehr schwierige Geburt wiedererlebt zu haben, bei der sie tatsächlich voller Flüssigkeit war und fast daran erstickte. Noch ein Patient erlebte seine lange Geburt wieder (seine Mutter war etwa zwanzig Stunden in Wehen gewesen). Nachdem er gefühlt hatte, welch ein Kampf es gewesen war, auf die Welt zu kommen, wußte er, daß sein Kampf mit der Geburt begonnen und kein Ende genommen hatte: »Es war, als ob meine Mutter es mir von Anfang an hatte schwermachen wollen«, sagte er. Ein anderes Urerlebnis, das ich beobachtete, war in dieser Hinsicht lehrreich. Eine Frau konnte ein Gefühl von Unbehagen und Unglücklichsein nicht loswerden und wußte nicht, warum. Sie wimmerte dauernd: »Ich kann nicht weinen, ich kann nicht weinen!«
Plötzlich erlebte sie ein Erlebnis noch einmal, und Tränen entströmten ihren Augen. Dieses Erlebnis war eine Operation an den Ausführgängen der Tränendrüsen gewesen, die vorgenommen wurde, als sie ein Jahr alt war, um eine nach der Geburt eingetretene Behinderung zu beseitigen. Jetzt konnte diese Frau von über Dreißig weinen, doch als sie in meinem Sprechzimmer Geschehnisse aus der Zeit vor der Operation wiedererlebte, vermochte sie keine Träne zu vergießen.
Das ist ein Hinweis darauf, daß es selbst im präverbalen Stadium Traumen geben kann. Nicht wegen der Art und Weise, wie Vater oder Mutter das Kind anschreien, entsteht eine Neurose; das Trauma wird anscheinend im Nervensystem aufbewahrt und organismisch erinnert. Das Körpersystem >weiß<, daß es traumatisiert ist, selbst wenn das nicht gleichzeitig vom Bewußtsein registriert wird. Und wiederum reicht es nicht aus, von diesen Geschehnissen zu wissen; wenn sie traumatisch waren, müssen sie wiedererlebt und voll empfunden werden, damit sie aufgelöst werden und nicht mehr ständig auf den Organismus einwirken.
Mit dem Beginn der zweiten der drei Einzeltherapie-Wochen kommt es gewöhnlich fast täglich zu Urerlebnissen. Jeder Mensch hat einen ihm eigenen Stil des Urerlebnisses. Manche Patienten müssen durch Reden zu dem Gefühl gelangen; andere beginnen mit einem körperlichen Gefühl, das vorübergehend unerklärlich ist, aber später mit irgendeiner Erinnerung verknüpft wird.
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Doch vor der entscheidenden Herstellung des Zusammenhangs, die so schmerzlich ist, klammern sich manche Patienten an der Couch fest, andere halten sich den Bauch, wieder andere drehen den Kopf hin und her, klappern mit den Zähnen und transpirieren stark. Manche Patienten krümmen sich vor Schmerz, andere rollen sich in einer Ecke der Couch zusammen, und manche fallen von der Couch herunter und winden sich in Krämpfen auf dem Fußboden.
Kein Urerlebnis ähnelt einem zweiten, nicht einmal bei demselben Patienten. Es gibt zornige und heftige, ängstliche und stille, traurige Urerlebnisse. Welche Form die Therapie auch annimmt, immer richtet sie sich gegen alte, unaufgelöste Gefühle.
Es läßt sich schwer mit Worten beschreiben, auf wie unterschiedliche Weise Gefühle empfunden werden können. Eine Patientin, die eine konventionelle Therapie durchgemacht hatte, sagte, sie habe dabei zwar sehr viel geweint, das Weinen sei aber ganz anders gewesen als bei einem Urerlebnis. Sie pflegte zu weinen, um ihren Schmerz zu lindern und sich wohler zu fühlen, um den Schmerz selbst zu schonen. Jetzt weint sie vor Schmerz, und diese Gefühle sind viel intensiver und umfassender. Bei einem Urerlebnis, sagte sie, könne sie ihr Weinen bis in die Zehenspitzen fühlen.
Während der Therapie lernen die Patienten schnell, sich in ihre Gefühle zu versetzen. Ein Patient spricht vielleicht über einen Traum der letzten Nacht und erzählt ihn so, als ob er ihn gerade eben träume, empfindet das Gefühl von Angst oder Hilflosigkeit, verliert rasch die Selbstbeherrschung und stellt die Verbindung zwischen dem Gefühl und dessen Ursprung her. Der völlige Verlust der Selbstbeherrschung ermöglicht die Herstellung der Verbindung, denn Selbstbeherrschung bedeutet fast immer Unterdrückung des Selbst. Der Patient will den Urschmerz empfinden, denn er weiß, daß das der einzige Ausweg aus seiner Neurose ist. »Mir tut es weh«, sagte ein Patient, »und ich kann mich fühlen, das ist alles, was ich will.«
Nach einer Weile gibt es für den Therapeuten nicht mehr viel zu tun, außer still zu sein. Wenn sich der Patient in ein Gefühl versenkt, dann ist er >zurückversetzt< in die Vergangenheit und erlebt das Gefühl von neuem — er riecht die Düfte, hört die Geräusche und macht die körperlichen Prozesse durch, die damals vor sich gingen und zu so früher Zeit blockiert wurden. Ein Patient, der geliebt wurde, weil er so beherrscht war und mit anderthalb Jahren fast nie die Windeln naß machte, litt während seines Urerlebnisses unter demselben Bedürfnis zu urinieren wie als Kleinkind. Es darf nicht vergessen werden, daß sich der Patient völlig in die Szene der Vergangenheit versetzt hat, und jedes Wort des Therapeuten in der Gegenwart reißt ihn womöglich heraus.
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Bleibt er sich selbst überlassen, wird das Gefühl den Patienten zu seinen Anfängen zurückbringen, aber das wird nicht geschehen, wenn der Therapeut und der Patient das Gefühl erörtern.
Es gibt eine Reihe von Anzeichen, die für ein Urerlebnis charakteristisch sind. Eins davon ist das Vokabular. Wenn der Patient in der Kindersprache redet, was meistens der Fall ist, dann bedeutet es, daß er ein Urerlebnis hat. Ein Doktor der Philosophie sagte zum Beispiel bei seinem Urerlebnis: »Pappi, ich Angst.« Für mich war das ein Zeichen, daß er nicht Theater spielte. Wenn ein Patient indes mit Schimpfwörtern um sich wirft, etwa »Pappi, du Schweinehund!«, dann handelt es sich höchstwahrscheinlich nur um ein Vor-Urerlebnis.
Eine weitere Eigenart der Urerlebnisse ist, daß größere Reife die Folge ist, wenn die eigene Säuglingszeit und Kindheit immer stärker empfunden wird. Denn wenn die Vergangenheit aus dem System herausgebracht wird, kann der Betreffende wirklich erwachsen werden und verhält sich nicht nur wie ein Erwachsener. Kurz und gut, er wird, was er ist. Oft befindet sich ein Patient während seines Urerlebnisses ganz und gar in seiner Säuglingszeit und wimmert und schreit wie ein Einjähriger, und nachher hat er dann eine ganz neue Stimme, eine tiefere und vollere, und nicht mehr das dünne, infantile Stimmchen wie vor der Therapie.
Wenn ein Patient bei einem Urerlebnis seine Vergangenheit wiedererlebt hat, kommt es vor, daß er das Zeitgefühl verliert. Manche Patienten sagen zum Beispiel: »Es scheint Jahre her zu sein, daß ich heute morgen zu Ihnen kam.« Wenn ich einen Patienten frage, wie lange er seiner Schätzung nach im Sprechzimmer gewesen sei, dann antwortet er womöglich: »Vermutlich dreißig Jahre.« In den Minuten oder Stunden, die er in seiner früheren Umwelt verbracht hat, scheint er die Gegenwart nicht miterlebt zu haben.
Diese Urerlebnisse bezeichnen die Patienten als ein bewußtes Koma. Obwohl sie den Zustand jederzeit beenden könnten, wenn sie wollten, wollen sie es nicht. Sie wissen, wo sie sind und was vor sich geht, doch erleben sie bei dem Urerlebnis die Vergangenheit noch einmal und werden von ihr ganz in Anspruch genommen. Sie waren immer von dieser Vergangenheit ganz und gar in Anspruch genommen, aber sie agierten sie aus, statt sie zu empfinden. Selbst ihre Träume handelten gewöhnlich von der Vergangenheit. Das Urerlebnis verweist die Vergangenheit dann auf den Platz, der ihr zukommt, und ermöglicht dem Patienten endlich, in der Gegenwart zu leben.
Der Urschrei
Der Urschrei ist nicht ein Schrei um seiner selbst willen. Auch dient er nicht dazu, Spannung abzulassen. Wenn er die Folge tiefen, verheerenden Gefühlen ist, dann ist er, glaube ich, eher ein Heilungsprozeß als ein einfaches Ablassen von Spannung. Jedenfalls ist nicht der Schrei heilend, sondern der Urschmerz.
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Der Schrei ist nur eine Ausdrucksform des Urschmerzes. Der Urschmerz ist das Heilmittel, denn er bedeutet, daß der Patient endlich fühlt. In dem Augenblick, da der Patient den Schmerz verspürt, verschwindet der Urschmerz. Der Neurotiker leidet, weil sein Körper nicht ständig auf den Urschmerz eingestellt ist. Es war die spannungsgeladene Erwartung, die weh tat.
Der echte Urschrei ist unverkennbar. Er ist ganz eigenartig tief, rasselnd und unwillkürlich. Wenn der Therapeut plötzlich irgendeinen Teil des Abwehrsystems entfernt und der Patient nackt und bloß mit seinem Urschmerz zurückbleibt, dann schreit er, weil er seiner Wahrheit ganz ausgesetzt ist. Wenngleich der Schrei die üblichste Reaktion ist, so ist er doch weder die einzige noch die immer wiederkehrende Reaktion auf das dem Urschmerz Ausgesetztsein. Manche Leute ächzen, stöhnen, winden sich und schlagen um sich. Es läuft alles auf dasselbe hinaus. Der Schrei eines Patienten ist das Ergebnis eines einzigen Gefühls, das Tausenden von früheren Erlebnissen zugrunde liegen mag: »Pappi, tu mir nicht mehr weh!« — »Mammi, ich habe Angst!« Manchmal muß der Patient auch nur zu Anfang schreien. Er schreit wegen der Hunderte von Malen, da er still sein mußte, ausgelacht, gedemütigt oder geschlagen wurde. Jetzt schreit er, weil er oft verletzt wurde und man ihm nicht einmal zu bluten erlaubte. Es ist, als ob ihn jemand dauernd mit einer kleinen Nadel stach und er nicht einmal »Au« sagen durfte.
Widerstände
Die Primärtheorie verläuft nicht so glatt, wie es nach meiner Schilderung scheinen mag. Die Abwehrmechanismen selbst sind ein Widerstand gegen das Fühlen. Daher gibt es immer einen Widerstand dieser oder jener Art, solange noch ein Teil des Abwehrsystems vorhanden ist. Viele Patienten weigern sich, nach ihren Eltern zu rufen. Vielleicht haben sie eine jahrelange Analyse hinter sich und sagen: »Ach, das habe ich schon vor Jahren erarbeitet. Ich weiß, wie sie sind; was Sie da vorschlagen, hat keinen Sinn.« Ich behaupte, daß die Patienten in Wirklichkeit nicht wissen, wie die Eltern sind, ehe sie sie gerufen haben. Die Patienten sind von diesem >kindischen Unterfangen< peinlich berührt. »Das ist ganz schön vereinfachend, finden Sie nicht ?« war der Kommentar eines jungen Psychologen. Doch im Kopf zu wissen, daß man nicht geliebt wird, ist ein gespaltenes Empfinden — ein halbes Fühlen, an dem der Körper nicht beteiligt ist. Um Liebe zu bitten ist etwas anderes.
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Der neurotische Kampf begann, weil das Kind nicht mehr gefahrlos um Liebe bitten konnte; das Bitten brachte Ablehnung und Urschmerz mit sich. Da der Kampf das fortgesetzte symbolische Bitten um Liebe ist, bedeutet es, den Kampf zurückzudrängen und den Urschmerz freizulegen, wenn man den Patienten dazu bringt, unumwunden zu bitten: »Liebe mich, Mama!«
Manchmal ist der Widerstand physisch. Der Patient wird aufgefordert, auszuatmen, und er macht es umgekehrt. Er scheint die Luft nach unten zu drücken, statt nach oben und hinaus. Diese Unfähigkeit auszuatmen findet man oft bei Neurotikern, besonders bei den unterdrückten, die sich immer beherrschen mußten. Der physische Widerstand scheint automatisch zu sein. Der Hals strafft sich, der Körper krümmt sich, der Patient rollt sich zu einer Kugel zusammen — alles, um das Fühlen abzustellen. Der entscheidende Punkt ist, daß niemand, wie unerfreulich Neurose auch zu sein scheint, sich einfach hinlegt und seine Neurose einfach abstreift.
Wenn der Patient bei seinem flachen Atmen bleibt, drücke ich manchmal auf seinen Bauch. Das ist allerdings selten notwendig. Keinesfalls tue ich es, ehe der Patient fest in irgendeinem Gefühl befangen ist, denn nicht auf das Atmen sind wir aus, sondern auf das Fühlen.
Das symbolische Urerlebnis
Da übermäßiger Schmerz offenbar automatisch von unserem System abgestellt wird, kommt es offensichtlich in den ersten Tagen der Therapie zu symbolischen Urerlebnissen, wie ich sie nennen möchte. Das gilt insbesondere für ältere Menschen mit sich verstärkenden Abwehrmechanismen. Der physische Teil des Urschmerzes wird zuerst vielleicht erweckt, aber der Patient kann die geistige Verbindung nicht herstellen. Statt dessen hat er womöglich heftige Rückenschmerzen (symbolisch für Ans-Bett-gefesselt-Sein), oder er ist teilweise gelähmt (symbolisch für seine Hilflosigkeit), oder er spürt vielleicht ein Gewicht auf den Schultern (die Last, die er getragen hat). Die Symbolik ist unterschiedlich. Ein Patient konnte eine halbe Stunde lang seine linke Seite nicht bewegen. »Das ist das ganze tote Gewicht, das ich mein Leben lang herumgeschleppt habe«, sagte er, kurz nachdem er begonnen hatte, Verbindungen herzustellen.
Wenn der Primärtherapeut dem neurotischen Verhalten des Patienten einen Riegel vorschiebt, scheint sich die Neurose auf die nächste Verteidigungslinie, die physische Symbolik, zurückzuziehen — also psychosomatische Beschwerden. Hier stellen wir wiederum fest, daß körperliche Schmerzen die Folge von frühem geistigem Schmerz sind, und wenn diese seelischen Verletzungen empfunden werden, dann verschwinden die physischen Leiden.
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Psychosomatische Leiden plagen zu Beginn der Primärtherapie fast jeden Patienten, selbst diejenigen, die vorher relativ gesund gewesen waren. Ein Patient hatte nach seinem ersten großen Urerlebnis Durchfall. Er sagte: »Die Dinge kommen schneller, als es mir möglich ist herauszufinden, was sie sind.« Als er es herausgefunden hatte und empfand, was sie waren, hörte sein Durchfall auf. Wenn entscheidende Gefühle blockiert sind, scheint sich der Urschmerz zuerst gegen bestimmte Bereiche oder Körperteile zu richten. Auf diese Weise wissen wir, daß der Urschmerz im Aufsteigen begriffen ist. Wenn die Verbindungen hergestellt sind, vergehen die psychosomatischen Leiden rasch.
Während seines zweiten Vor-Urerlebnisses fühlte sich ein Patient buchstäblich auseinandergerissen. Er hatte die Fäuste geballt und die Arme steif ausgestreckt, angespannt und zitternd. Wenn man diesen Patienten beobachtete, sah man, wie er von der einen Seite zur anderen gezogen wurde. Dennoch war das symbolisches Verhalten — symbolisch dafür, daß er sich gespalten fühlte (und es auch war), aber die Ursachen der Spaltung in keinen Zusammenhang zu bringen vermochte. Später spürte er, was geschah. Er erlebte eine Szene wieder aus der Zeit, als seine Eltern sich scheiden ließen. Er fühlte, wie gern er mit seinem Vater mitgegangen wäre, aber er wagte das nicht zu fühlen aus Angst, seine Mutter zu kränken ... Er fühlte, wie sehr er seine Mutter haßte, mußte aber dieses Gefühl unterdrücken, weil er mit ihr zusammenleben mußte und ganz von ihr abhängig war ... Er fühlte die Wut auf seinen Vater, weil er wegging, und er mußte sie verbergen, damit sein Vater wiederkäme und ihn besuchte .. . All diese Widersprüche hatten ein physisches Zerren des Körpers zur Folge. Sie wurden physisch, weil er nicht wagte, sie direkt zu fühlen. Die Gefühle wurden dann mit ihren symbolischen Werten im Muskelsystem verschlüsselt; der Patient war tatsächlich durch diese widerstreitenden Gefühle auseinandergerissen worden, denn Gefühle sind reale, physische Dinge. Um das Zerren aufzulösen, mußte er in seine Vergangenheit zurückkehren und die einzelnen Elemente des Widerspruchs empfinden. Es genügte nicht, zu >wissen<, daß er sich wegen der Scheidung in einem Konflikt befand.
Die Primärtheorie erklärt den eben geschilderten Fall damit, daß verleugnete Erinnerungen — das heißt Geschehnisse, die zu schmerzlich sind, um ihnen voll ins Auge zu sehen — im Gehirn aufbewahrt und unterhalb der Bewußtseinsschwelle gespeichert werden und dem Körper Botschaften senden. So mag es sein, daß ein nie zum Ausdruck gebrachter Impuls, einen prügelnden Vater ebenfalls zu schlagen, statt dessen die Form verspannter Armmuskeln annimmt. Während eines frühen Urerlebnisses kann ein Patient, der sich an die Prügel seines Vaters erinnert, eine Spannung in seinen Armen fühlen, aber nicht wissen, warum. Später wird er die Muskelspannung mit ihrem richtigen Kontext (Wut, den Vater schlagen wollen) in Verbindung bringen, und zu guter Letzt wird die Muskelverspannung aufgelöst.
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Ein Patient knirschte ständig mit den Zähnen. Es war ein automatisches und unbewußtes Verhalten bei Tag und bei Nacht (im Schlaf). Er begann, an die Zeit zu denken, als sein Vater sein Versprechen, ihn zu einem Baseballspiel mitzunehmen, nicht gehalten hatte, und unbewußt begann er, wütend mit den Zähnen zu knirschen. Wut durfte man bei ihm zu Hause nicht zum Ausdruck bringen. In meinem Sprechzimmer schrie er schließlich seine Wut hinaus, und das Zähneknirschen hörte auf. Dieser eine Vorfall war nicht der Grund für das Zähneknirschen gewesen. Dieser eine Vorfall, eine ins Auge springende Erinnerung, löste einfach stellvertretend den ganzen Ärger des Patienten über eine Unzahl nicht gehaltener Versprechungen aus, über die er sich zu Hause niemals beklagen durfte. Wir alle sehen ringsum symbolisches Verhalten, doch nennen wir es wahrscheinlich nicht so. Wenn ein Kind ohne Erlaubnis die Schule schwänzt, handelt es triebhaft. Vermutlich agiert es symbolisch eine Freiheit aus, die es nicht fühlen kann. Was das Kind bedrängt hat, ist womöglich gar nicht die Schule, sondern alte Gefühle. Wenn es diese Gefühle empfindet, wird es dadurch davon befreit, seinen Freiheitsdrang durch Schuleschwänzen ausagieren zu müssen. Dieses Kind könnte durch die Schulleitung oder einen hilfreichen Therapeuten zu besserem Verhalten gebracht werden, wenn ihm die Notwendigkeit klargemacht würde, seine Pflicht in der Schule zu erfüllen, aber der Freiheitsdrang würde bestehen bleiben und das Kind zu symbolischem und soziopathischem Verhalten antreiben.
Das symbolische Stadium ist notwendig in der Primärtherapie. Der Patient empfindet ein Gefühl nur teilweise, weil es zu schmerzhaft ist, um es ganz zu empfinden — der Körper schließt sich dann vorläufig ab, und der Patient agiert den restlichen Teil des Gefühls aus (oder ein). Dieses Ausagieren braucht nichts Bestimmtes zu sein. Es kann einfach die Form einer vagen Spannung annehmen, die Teile der alten Persönlichkeit intakt erhält.
Das symbolische Stadium darf nicht übereilt abgetan werden. Das System sieht sich kleinen Dosen von Urschmerz gegenüber, und das wird sich in einem geordneten Prozeß mit einem geringeren Grad von Symbolik fortsetzen, wenn mehr Gefühle empfunden werden. Es zeigt sich auch darin, daß in den Träumen weniger Symbolik auftaucht.
Wenn der Patient das symbolische Stadium hinter sich läßt und auf direktere Weise zu seinen Gefühlen gelangt, stellt er fest, daß er an symbolischen Dingen weniger interessiert ist. Symbolik scheint ein totales Phänomen zu sein, und leider verbringt der Neurotiker oft sein ganzes Leben in diesem symbolischen Wolkenkuckucksheim. Seine >rasenden< Kopfschmerzen sagen ihm vielleicht, wie wütend er ist, und trotz jahrelanger Kopfschmerzen scheint er selten einen Sinn darin zu erkennen.
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Nach einem besonders vehementen Urerlebnis drückte ein Patient das folgendermaßen aus: »Ich glaube, all dieser Druck in meinem Kopf waren zornige Gefühle, die sich nicht ausbreiten konnten und sich an meine körperlichen Gefühle anhängten. Es war, als hätte ich selbst meine Gedanken in irgendein Abteil stopfen müssen, das schon zu voll war.«
Die schlimmste Zeit in der Primärtherapie scheint die erste Woche zu sein. Der Patient ist voll banger Ahnungen und elend und sagt gewöhnlich: »Mein Gott, wann hört all das auf? Es war bloß eine Woche und kommt mir vor wie ein ganzes Leben!« Er ist in großer Bedrängnis gewesen. Ein anderer Patient sagte: »Es ist, als ob Sie mich in dem Augenblick, als ich hereinkam, an den Füßen gepackt, mit dem Kopf nach unten hätten hängen lassen und alles aus mir herausgeschüttelt hätten.«
Der Patient fühlt sich mehr in Spannung denn je zuvor, denn er hat weniger neurotische Abwehrmechanismen gegen die Gefühle, die an die Oberfläche kommen. Sobald er ganz aufgeschlossen ist, sind seine Bedürfnisse so dringend, daß der Therapeut ständig für ihn erreichbar sein muß.
Am Ende der dritten Woche ist beim Abbau des Abwehrsystems die Hauptarbeit getan. Dem Patienten geht es allerdings noch nicht gut. Es ist noch ziemlich viel Spannung vorhanden — alte Verletzungen und Gefühle, die aus diesem oder jenem Grunde noch nicht aufgetaucht sind oder ausgelöst wurden. Weil es eine große finanzielle Belastung und auch nicht notwendig ist, den Patienten länger in Einzeltherapie zu behalten, wird er dann einer postprimären Gruppe zugeteilt. Es mag sein, daß der Patient gelegentlich noch eine Einzelstunde braucht, aber die Hauptarbeit bleibt nun der Gruppentherapie überlassen.
Wenn ich sage, die Hauptarbeit sei in den ersten Wochen geleistet worden, dann meine ich damit, daß mittlerweile beträchtliche Veränderungen der Persönlichkeit und Symptomatik erkennbar sind. Als ich noch die konventionelle Therapie praktizierte, dauerte es gewöhnlich drei Wochen, bis die Anamnese eines Patienten aufgenommen und eine psychologische Testbatterie durchgeführt war. In demselben Zeitraum erleben wir jetzt zum Beispiel, daß ein lebenslang hoher Blutdruck auf normale Werte sinkt (und dann auch normal bleibt). Die Redeweise ändert sich, der Ton der Stimme und das >Aussehen< - tote Gesichter werden beweglich und lebendig. Auch die Gedanken des Patienten verändern sich in dieser kurzen Zeit radikal, und das geschieht ohne irgendeine Diskussion zwischen dem Patienten und dem Therapeuten. Das liegt daran, daß irreale Ideen notwendigerweise eine Begleiterscheinung irrealer Systeme sind.
Das Hauptziel ist natürlich, in den drei Wochen die Verteidigungsmechanismen abzubauen, und meistens geschieht das auch. Der Patient kann kaum ohne beträchtliche Emotionen über irgend etwas Bedeutungsvolles reden. Selbst sein Gang ist anders. Viele dieser Veränderungen sind ausführlich in den von meinen Patienten geschriebenen Krankengeschichten erwähnt.
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Unterschiedliche Formen der Urerlebnisse
Urerlebnisse können auf mannigfache Weise voneinander abweichen. Bei einer Patientin begannen die Urerlebnisse zum Beispiel mit der Geburt. Am ersten Tag ihrer Therapie rollte sie sich zu einer Kugel zusammen, begann ihren Körper zusammenzuziehen und wieder zu strecken, sagte, sie spüre einen kalten Luftzug, und wimmerte dann genau wie ein Neugeborenes. Sie hatte keine Ahnung, was sie da erlebte, und berichtete, es sei ein völlig unwillkürlicher Vorgang.
Andere Patienten gehen niemals so weit zurück. Eine Patientin, die keine Erinnerung hatte an die Zeit, ehe sie zehn Jahre alt war, erlebte zuerst Erfahrungen wieder, die sie mit vierzehn gemacht hatte, und arbeitete sich dann durch die Jahre hindurch, bis sie ein entsetzliches Geschehnis wiedererlebte, das die endgültige Spaltung der Zehnjährigen verursacht hatte. Danach hatte sie indes weitere Urerlebnisse aus immer früherer Zeit, bis sie zum Alter von drei Jahren kam und das >reine Bedürfnis< empfand, von ihren Eltern geliebt zu werden. Später sagte sie, das sei ihr schmerzhaftestes Urerlebnis gewesen — als sie spürte, daß ein physisches Bedürfnis bedeutet, den ständigen Urschmerz von etwas nie Befriedigtem zu empfinden. Es fiel kein Wort während dieses Urerlebnisses, es war eine ganz und gar innere Empfindung mit einem Zusammenrollen des Körpers, sich Winden und Stöhnen, Ballen der Fäuste und Zähneknirschen.
Wie unterschiedlich die Urerlebnisse sind, hängt auch davon ab, wie lange die Spaltung zurückliegt und wie tief der Urschmerz ist. Manche Patienten vermögen direkt zu der großen Szene zurückzugehen, bei der sie die Spaltung fühlten; andere brauchen Monate, um so weit zu kommen. Manche berichten, daß sie niemals zu einer bestimmten Szene gelangen; viele Szenen schienen gleich bedeutsam für die Erzeugung der Neurose gewesen zu sein. Wenn die Spaltung früh eingetreten war und der Urschmerz groß ist, kann es sein, daß der Patient eine Szene viele Male wiedererlebt. Kürzlich hat ein Patient zum Beispiel wiedererlebt, daß er im Alter von neun Monaten für viele Wochen in einem Kinderbett im Krankenhaus allein gelassen wurde. Seine Eltern durften ihn nicht besuchen, weil er eine ansteckende Krankheit hatte. Am nächsten Tag kam er auf diese Szene zurück und wußte nun, daß es ein Krankenhaus gewesen war. Dann sah er das Gesicht seiner Mutter; schließlich sah er, wie seine Eltern fortgingen, und spürte das Verlassensein.
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Sein lebenslängliches neurotisches Ausagieren war darauf gerichtet, jemanden zu finden, zuletzt eine Freundin, an die er sich halten konnte, und er tat, was ihm nur möglich war, damit sie ihn nicht verließ. Er hatte keine Ahnung, daß sein Verhalten zum größten Teil auf etwas beruhte, das ihm in frühester Kindheit widerfahren war, und tatsächlich hatte er auch gar keine Erinnerung daran gehabt. Als er zum erstenmal kam, war er in großer Spannung, weil seine letzte Freundin ihn verlassen hatte. Als er sich in dieses Gefühl versenkte, brachte ihn das zu dem Kinderbett zurück. Während er die Kinderbettszene wiedererlebte, war nur Babygeschrei zu hören. Er hatte mehrere wortlose Urerlebnisse. Das letzte dieser Serie war ein lauter, schriller Jammerschrei, seine Eltern mögen zurückkommen, ein Schrei, den auszustoßen er dort im Kinderbett nicht gewagt hatte.
Gewöhnlich erkennen wir es, wenn ein Patient ein Urerlebnis gehabt hat. Er öffnet die Augen und zwinkert, als ob er aus einem Koma käme. Manchmal ist es nicht dermaßen dramatisch; die Stimme nimmt wieder den Klang der erwachsenen Stimme an, und dann wissen wir, daß sich der Patient von dem frühen Gefühl gelöst hat. Immer wieder überraschend ist, daß oft Spannung einsetzt, wenn der Organismus für einen Tag genug Urschmerz gehabt hat. Hat der Patient einen großen Urschmerz empfunden, wird er unerklärlicherweise in Spannung sein und sagen, er könne sich an nichts mehr erinnern. Oder er wird sich, wenn er ein Erlebnis in seiner Gesamtheit empfunden hat, völlig entspannt fühlen. Wenn ein Patient nach einem Urerlebnis noch in Spannung ist, wissen wir, daß noch Gefühl aufzulösen bleibt. Restliche Spannung nach einem Urerlebnis macht in dramatischer Weise deutlich, daß die Neurose unser früher Freund und Wohltäter war. Sie nahm alles in die Hand und beschützte uns, als das Leben noch unerträglich schmerzhaft wurde, und sie nimmt alles in die Hand und bringt den Patienten in Spannung, wenn er für einen Tag genug Urschmerz gehabt hat.
Es gibt Zeiten, da sind Urerlebnisse vorwiegend physisch; ein Patient hatte gegen Ende seiner Therapie ein Urerlebnis, bei dem sich sein Körper in seltsamen und bizarren Stellungen von rechts nach links verdrehte. Er lag auf dem Bauch, die Beine bis zum Rücken hin angewinkelt, den Kopf hoch erhoben, den Hals nach hinten gestreckt. Das ging auf unwillkürliche Weise fast eine Stunde lang. Dann stand er ganz gerade auf und sagte, er fühle, daß seine Rückgratverkrümmung, die ihn den größten Teil seines Lebens geplagt hatte, weg sei. Er beschrieb es folgendermaßen:
»Ich glaube, nicht nur mein Geist war verzerrt, sondern auch mein Körper. Er schien eine Art Sequenz ablaufen zu lassen, wobei zuerst alles krumm war — wie ich selbst mich ja auch krumm gemacht hatte —, und dann begann er sich automatisch wieder zusammenzufügen. Eben, bevor das losging, sagte ich mir dauernd, ich würde verrückt.
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Irgend etwas knackte in meinem Kopf, und dann begann diese physische Sequenz. Ich glaube, es war so gewesen: Als mein Geist endlich den Kampfund diese ganze Irrealität (gewissermaßen das Zulassen, daß er sich zerstörte) aufgab, konnte der Körper endlich real sein und mit sich selbst ins reine kommen. Ich stehe und gehe jetzt ganz gelockert, als sei ich ein anderer Mensch. In meinem ganzen Leben habe ich meine Beine nicht richtig kreuzen können, was ich jetzt kann, und so seltsam es erscheint, jetzt kann ich zum erstenmal meinen Hals nach allen Seiten drehen. Ich kann nur sagen, daß ich nicht nur in einer geistigen Zwangsjacke steckte und beschränkt war in meinem Denken, sondern auch in einem körperlichen Prägestock, gleichsam einer Preßform, die mich ganz und gar in ein paar seltsame Formen preßte.«
Wir sind alle so daran gewöhnt, den >normalen< Emotionsbereich zu beobachten, daß sich die ungeheure Gewalt der Urerlebnisse nur schwer ausdrücken läßt. Ihre Tiefe und ihr Gefühlsumfang sind fast unbeschreiblich. Ihre große Unterschiedlichkeit und oft seltsame Eigenart sind ebenfalls schwer darzustellen. Hier sei nur gesagt, wenn ein Gefühl einen Menschen in Zuckungen versetzen und einen markerschütternden Schrei hervorbringen kann, dann ist das ein Beweis für den ungeheuren Druck, unter dem der Neurotiker ständig stehen muß. Verblüffend ist, daß viele Neurotiker ihn nicht direkt spüren können; sie fühlen ihn statt dessen in einem Druck auf der Brust, einem aufgeblähten Bauch oder einem Kopf, der schier platzen will.
Der Prozeß des Urerlebnisses fuhrt den Patienten in einen Bereich, der selten, wenn überhaupt je zu sehen ist, selbst in den Sprechzimmern von Psychotherapeuten. Noch seltener wird er verstanden.
Es ist ein systematischer Trip, nicht ein zufälliger, hysterischer Höhenflug, sondern eine schrittweise, wohlgeordnete Reise des Menschen zu sich selber. Gelangen die Patienten schließlich zu dem frühen katastrophalen Gefühl, zu wissen, daß sie ungeliebt waren, gehaßt oder nie verstanden wurden — diesem Gefühl, das einen wie eine Offenbarung überkommt, daß man letztlich allein ist —, dann begreifen sie vollkommen, warum sie sich abgekapselt haben und daß ein kleines Kind diesem Gefühl nicht Widerstand leisten und weiterleben konnte.
Wenn man solche Patienten beobachtet, die sich vor Schmerz in Krämpfen winden, wenn sie auf dieses Gefühl stoßen, dann erkennt man die Tiefen des menschlichen Fühlens. In all den Jahren, in denen ich mich mit konventioneller Therapie befaßte, habe ich nie beobachtet oder auch nur verstanden, was Fühlen eigentlich ist. Natürlich sah ich viel Weinen und heftige Erregung, aber zwischen Weinen und einem Urerlebnis liegen Welten.
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Ein Patient beschrieb seine Urerlebnisse so: »Das Gefühl bei einem Urerlebnis, das mit einem irgendwann nach Eintreten der Spaltung stattgefundenen Kindheitserlebnis assoziiert ist, ist ein Stück des realen Selbst, das nicht ganz und gar empfunden werden kann, sofern man nicht in die Zeit vor der Spaltung zurückgeht. Darum ist das Wiedererleben von Kindheitserlebnissen oder -szenen in der Primärtheorie so wichtig. Sie tragen dazu bei, Stücke des eigenen realen Selbst dadurch zu fühlen, daß der Schmerz mit bestimmten Vorfällen assoziiert wird, bis man die Substanz seines realen Selbst sein kann. Zum Beispiel: Wenn ich ein Urerlebnis darüber habe, daß mich meine Mutter immer wegschiebt, dann werde ich wahrscheinlich sagen: >Schieb mich nicht weg, Mammi.< Das reine Gefühl bei diesem Urerlebnis hat eigentlich keine Worte. Das Gefühl ist mein reales Selbst, und die Worte besagen in Wirklichkeit: >Ich fühle mich nicht wohl, Mammi, bitte nimm meinen Schmerz weg<, und das ist eine Abwehr dagegen, dieses Gefühl zu sein. Die vielen Male, bei denen dieses Gefühl mit bestimmten Vorfällen in Verbindung gebracht wird, werden den Patienten, glaube ich, dazu führen, daß er schließlich dieses Gefühl ganz und gar ist und seine Substanz empfindet, und das ist früher nur einmal geschehen, kurz vor der Spaltung. An diesem Punkt gibt es nichts zu sagen und keine Szenen, zu denen Verbindung herzustellen ist. Man ist man selber. Für mich war es das, was die totale Deprivation mir angetan hatte. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, in Worten ausdrücken zu wollen, was ich bei diesem Erlebnis empfand, und daß ich es nicht ausdrücken kann, ist ein weiterer Beweis dafür, daß es sich mit Worten nicht sagen läßt ...«
Das Wiedererleben der Urschmerzen scheint von fast unbeschreiblicher Intensität zu sein. Wenn man Patienten bei Urerlebnissen beobachtet, ist man überzeugt, es müsse überaus qualvoll sein. Ich war so davon überzeugt, daß ich erst Monate, nachdem ich mit der Primärtherapie begonnen hatte, auf den Gedanken kam, einen Patienten zu fragen, ob es weh tue. Zu meiner großen Überraschung sagten die Patienten, der Urschmerz tue trotz all des Stöhnens, Schreiens und der krampfhaften Zuckungen nicht weh! Ein Patient beschrieb es folgendermaßen:
»Es ist nicht, als ob man sich in die Hand geschnitten hat und es sich ansieht und sagt: >O jemine, meine Hand tut weh!< Während eines Urerlebnisses denkt man überhaupt nicht daran, ob es weh tut. Man fühlt sich nur überall elend. Aber es tut nicht weh. Wenn man überhaupt davon sprechen kann, könnte man nur sagen, es tut angenehm weh, denn es ist eine solche Erleichterung, endlich fühlen zu können.«
Damit meinte er, glaube ich, daß man bei einem Urerlebnis nicht überlegt, was man tut, und das, was geschieht, nicht verarbeitet, daß man sozusagen das Bedürfnis nicht logisch begründet. Es gibt nur ein Selbst, das zum erstenmal seit der Kindheit an etwas total beteiligt ist. Die Person ist das Fühlen. Einer der Gründe, warum sie an dem Prozeß des Fühlens völlig beteiligt sein kann, ist, daß sie nicht einfach auf einen Stuhl beschränkt dasitzt und sich an etwas erinnert.
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Der ganze Körper ist an diesem Prozeß beteiligt, ebenso wie das kleine Kind an einem Gefühl total beteiligt war, ehe es sich abkapselte. Einige Patientinnen erinnern sich, wie sie in ihren ersten Lebensjahren ihren Ärger zum Ausdruck brachten — sie lagen auf dem Fußboden und strampelten mit den Beinen, schlugen mit den Armen um sich und wimmerten. Sie waren völlig beteiligt, und wenn man das Kind, das einen Wutanfall hat, fragen würde, ob es Schmerzen hat, bezweifle ich, ob es (wenn es die Frage überhaupt verstünde) mit ja antworten würde.
Ich zitiere hier noch eine andere Beschreibung eines Urerlebnisses, das gegen Ende der Therapie eines Patienten stattfand, weil es zur Erklärung des Phänomens eines schmerzlosen Urschmerzes beiträgt: »Ich glaube, am besten kann ich beschreiben, welche Art dieses Erlebnis war, wenn ich sage, daß ich mir des Gefühls und seiner Zusammenhänge nicht bewußt war, mir war, glaube ich, überhaupt nichts bewußt. Ich war einfach mein Schmerz, und es war kein Zusammenhang nötig (nichts Getrenntes, das sagt: >Du hast Schmerzen.<). Nötig war nur, daß mein Sein das Erlebnis akzeptierte und es nicht abspaltete, wie ich es vorher einmal getan hatte, als ich endgültig neurotisch wurde. Ich war einfach mein reales Selbst.« Bedeutsam am Erleben des Urschmerzes ist, daß es ein Hinweis darauf ist, daß Gefühle an sich nicht weh tun. Wenn man sich gegen das Gefühl verspannt, dann tut es weh. Das soll nicht heißen, daß es keine unerfreulichen Gefühle gebe, aber wenn sie als das empfunden werden, was sie sind, dann werden sie nicht in Urschmerzen verwandelt. Traurigkeit tut nicht weh. Aber wenn einem versagt wird, traurig zu sein, wenn man nicht elend sein darf, dann tut es weh. Fühlen ist also die Antithese des Urschmerzes.
Die Dialektik der Primärmethode ist, daß man, je mehr Urschmerzen man spürt, um so weniger Schmerz erleidet. Die Gefühle eines normalen Menschen kann man in Wirklichkeit nicht verletzen, aber man kann einen Neurotiker verletzen, wenn man verleugnete Gefühle auslöst.
Das Gruppenerlebnis
Postprimäre Gruppen treffen sich mehrmals wöchentlich für drei oder vier Stunden. Die Gruppe besteht aus Patienten, die eine Einzeltherapie hinter sich haben. Die Hauptfunktion der Gruppe ist, die Gruppenmitglieder zu neuen Urerlebnissen anzuregen. Die generell emotionale Atmosphäre in der Gruppe lockt weitere Urerlebnisse hervor. Das Urerlebnis eines Patienten vermag die Urerlebnisse von vielen anderen Patienten auszulösen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Dutzende von Urerlebnissen zur gleichen Zeit stattfinden, denn abwehrlos gewordene Patienten werden durch den sie umgebenden Schmerz leicht angeregt.
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Wenn viele Urerlebnisse gleichzeitig Beginnen, kann es wie im Tollhaus sein. Die einzigen, auf die sich das Chaos nicht auswirkt, sind diejenigen, die ihre Urerlebnisse haben. Sie bemerken gar nicht, was die anderen tun. Es kommt sogar vor, daß in einer einzigen, dreistündigen Gruppensitzung fünfzig Urerlebnisse gleichzeitig in Gang kommen.
Da der ganze Primärprozeß umwerfend ist, um es gelinde auszudrücken, hat die Gruppe noch eine weitere Funktion: Es ist tröstlich für die Patienten, andere Leute zu treffen und zu kennen, die auch die Therapie durchmachen. Die Gruppenbehandlung wird mehrere Monate fortgesetzt, je nach dem Patienten.
Da ich vor der Primärtherapie viele Jahre lang die übliche Gruppentherapie praktiziert habe, möchte ich daraufhinweisen, daß die Primärgruppe etwas völlig anderes ist. Patienten, die Gruppen anderer Art kennengelernt haben, angefangen von Marathon- bis zu analytischen Gruppen, betonen den Unterschied auch.
In der Primärgruppe gibt es sehr wenig Interaktion. Es ist fast nichts von Hier und Jetzt, dem Geben und Nehmen der üblichen Gruppentherapie zu finden. Die Teilnehmer befragen sich kaum untereinander über Motivationen, und Einsichten werden nicht ausgetauscht. Selten läßt man auch einem anderen gegenüber Ärger oder Furcht erkennen. Der Blick ist nach innen gerichtet. Wenn einer seine Zeit damit verbringt, andere anzusehen, ihre Reaktionen zu beobachten, dann ist das ein deutliches Zeichen, daß er in diesem Augenblick nichts fühlt. Es gibt viele Gründe dafür, glaube ich, aber der entscheidende Grund ist, daß die Primärtherapie kein Interaktionsprozeß ist. Es ist ein Prozeß des persönlichen Fühlens mit einem fast ununterbrochenen Strom von Einsichten, wenn ein Urschmerz tief empfunden wurde. (Vgl. Kapitel 13)
Der zweite Unterschied besteht darin, daß die Patienten begreifen, daß sie in der Gruppe auftretenden Reaktionen, wie ungeordnet sie auch sein mögen, sich auf alte Erlebnisse beziehen.
Drittens: Die Zeit der Gruppentherapie ist die Periode großer Abwehrlosigkeit. Die Patienten kommen in eine Gruppe und haben sofort Urerlebnisse, weil sie ihre bislang unterdrückten Gefühle nicht länger zurückhalten können. Niemand braucht sie anzuspornen. Sie sind sozusagen eine einzige große Gefühlsmasse.
Wie bereits erwähnt, erwecken die sich bei einem Patienten abspielenden Vorgänge — »Ich könnte nicht behaupten, daß ich je Angst gehabt hätte« — oft ähnliche Gefühle bei den anderen anwesenden Patienten.
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Drei Stunden sind eine kurze Zeit für Primärgruppen. Nach einem Urerlebnis in der Gruppe — durchschnittlich dauert ein Urerlebnis etwa ein bis zwei Stunden — bleibt der Patient vielleicht noch ungefähr eine Stunde liegen und stellt schweigend Beziehungen her, während andere Urerlebnisse vor sich gehen. Was immer mit den anderen Patienten vorgeht, scheint niemanden zu stören, der mit seinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen beschäftigt ist. Am Schluß jeder Gruppensitzung findet eine Diskussion statt, bei der die Teilnehmer über das reden, was ihnen widerfahren ist. Zum Beispiel diskutieren sie über ein bestimmtes Gefühl bei ihrem Urerlebnis, das früher gewisse Arten von neurotischem Verhalten hervorgerufen hatte.
Die Gesundung
Nach einem Jahr oder auch längerer Zeit der Gruppentherapie haben Patienten immer noch Urerlebnisse; aber meistens können sie ihre Gefühle zu Hause, ohne Hilfe eines Therapeuten erreichen. Es ist kein nennenswerter Abwehrmechanismus mehr da, der Gefühle verbirgt und das Ausagieren hervorruft. Der Patient ist nicht länger symbolisch in seinem Verhalten. Er kann die Gruppe noch aufsuchen, aber seltener, oder er kann die Gruppe auch verlassen und seine Therapie allein fortführen. Die Gruppe zu verlassen bedeutet jedoch nicht, daß er gesund ist; noch bedeutet es unbedingt, wenn er weiterhin in der Therapie bleibt, daß der Patient noch immer vorwiegend neurotisch ist. Sie ist lediglich eine Stelle, an die man geht und fühlt.
Nach einer gewissen kritischen Periode, für gewöhnlich nach achtzehn Monaten, fällt ein Großteil des neurotischen Verhaltens fort. Das Verlangen zu rauchen oder zu trinken hört auf. Selbst wenn sie wollten, könnten die Patienten nichts Irreales mehr tun. Sie können nicht auf ihre alten Kopfschmerzen zurückkommen, denn ihre Kopfschmerzen waren Teil dessen, was sich abspielte, als ihre Gefühle blockiert waren.
Es gibt zu diesem Zeitpunkt wenig Abwehrmechanismen, so daß Alkohol oder Kaffee eine sehr andere Wirkung haben als früher. Der Patient kann sich bereits nach zwei Tassen Kaffee »quirlig« fühlen oder nach einem Glas Wein benebelt sein. Das Beizende des Zigarettenrauchs wirkt sich sofort auf sie aus. Sie können nicht sexuell ausagieren (zwanghafte Sexualität), weil keine alten Triebe mehr da sind, die blockiert und auf den sexuellen Bereich umgeleitet werden. Sie haben kein Verlangen, sich zu überessen, weil sie nicht mehr Gefühle mit Essen wegstopfen.
Hält das im Lauf der Zeit an? Ja. Bisher ist irreales Verhalten (und das schließt physische Symptome ein) bei fortgeschrittenen Patienten nicht wieder aufgetreten. Wie könnte es auch?
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Die Person ist sie selber geworden; um wieder in ihr irreales Verhalten zurückzufallen, müßte sie erneut ein anderer werden. Geschehnisse im Leben des Erwachsenen können keine Spaltung hervorrufen, die aus einer Person zwei Menschen macht. Es geschieht bei kleinen Kindern, weil sie so schwach und zart sind und so abhängig von ihren Eltern, um am Leben zu bleiben. Sie müssen wohl oder übel das werden, was die Eltern verlangen. Auf einen Erwachsenen trifft das selten zu. Niemand kann einen realen Erwachsenen zu einem irrealen machen. Er wird gegen einen halsstarrigen Chef oder wegen einer unmöglichen Arbeitssituation keinen Kampf führen.
Doch möchte ich klarstellen, daß der Patient nach der Behandlung nicht etwa in Ekstase oder auch nur >glücklich< ist. Glücklich zu sein ist kein Ziel der Primärtherapie. Nach der Behandlung werden manche Patienten vielleicht noch viele seelische Verletzungen spüren, weil sie ein ganzes Leben voller nicht empfundener Verletzungen hinter sich haben. So stehen ihnen unter Umständen noch seelische Schmerzen bevor, aber es sind, wie ein Patient es ausdrückte, »wenigstens reale Schmerzen, die irgendwie einmal ein Ende nehmen werden«.
Das Gesundsein bedeutet nicht unbedingt, daß sich die Interessen ändern; viele Patienten stellen fest, daß sie jetzt dasselbe tun wie eh und je, aber mit einem völlig anderen Gefühl. >Gesund< sein bedeutet zu empfinden, was >jetzt< geschieht. Die Patienten wissen es, wenn sie endlich voll fühlen können, denn es ist kein Residium von Spannung mehr da, und sie sind völlig gelockert. Nichts bringt sie in Spannung. Unerfreuliche Vorkommnisse verstimmen sie, und sie spüren die Verstimmung — aber keine Spannung.
Gleichgültig, wie viele Urerlebnisse jemand gehabt hat, wenn noch signifikante blockierte Gefühle da sind, dann werden diese Gefühle unaufhörlich symbolisch ausagiert, bis sie empfunden und aufgelöst werden.
Ein Patient, der in seinem dritten Therapiemonat in sein College zurückkehrte, stellte plötzlich fest, daß er die Vorlesungen nicht verstehen konnte. Er kam sich im Unterricht dumm vor und wirkte auch dumm, denn er konnte die einfachsten Dinge nicht verstehen, die der Professor erwähnte. Er kam in die Gruppe und erzählte, daß ein Assistent ihn ausgelacht habe, weil er bei einer Examensarbeit etwas nicht verstanden hatte. Als er davon sprach, versenkte er sich in das Gefühl: »Erklär mir das, Pappi. Nimm dir etwas Zeit für mich!« Sein Vater hatte ihn nämlich immer ausgelacht, wenn er etwas nicht sofort verstand. Er bemühte sich nach Kräften, alles immer gleich zu begreifen, um seinem Vater Freude zu machen und den Schmerz abzuwehren.
Das war ein einfaches Gefühl, dennoch von enormer Auswirkung. Der Schmerz bestand darin, daß er sich dumm vorkam und es zu verbergen versuchte, indem er rasch begriff.
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In seinem dritten Therapiemonat begann sein Abwehrmechanismus, nämlich das rasche Auffassen, abzubröckeln, und er verhielt sich dumm. Die Dummheit sagte: »Erklär es mir.« Er mußte sich weiter dumm verhalten, bis er den Ursprung der Dummheit fühlen konnte.
Zusammenfassung
Ich glaube, Neurose kann allein durch Druck und Gewaltanwendung beseitigt werden: Durch den Druck jahrelang komprimierter Gefühle und verleugneter Bedürfnisse und durch die Gewalt, die angewendet wird, um sie aus einem irrealen System herauszureißen. Ebenso, wie Neurose die Folge eines allmählichen Abkapselungsprozesses ist, gehört zum Gesundwerden ein allmähliches Wieder einschalten. Da der Urschmerz einen allzu schnellen Trip zu diesen Urgefühlen nicht zuläßt, müssen sie stufenweise empfunden werden. Solange sie nicht alle empfunden sind, besteht die Wahrscheinlichkeit des symbolischen Ausagierens.
Die Primärtherapie ist wie eine umgekehrte Neurose. Tagtäglich schließt eine seelische Verletzung nach der anderen das Kleinkind mehr von seinen Gefühlen ab, bis es neurotisch ist. In der Primärtherapie erlebt der Patient diese Verletzungen wieder und wird ihnen gegenüber aufgeschlossen, bis er gesund ist. Eine seelische Verletzung ruft noch keine Neurose hervor, und ein Urerlebnis macht einen Menschen noch nicht normal. Es sind die Anhäufung von Verletzungen und das Fühlen der Verletzungen, die Quantität in neue Qualitäten von Krankheit oder Gesundheit verwandeln. Ich glaube, der Prozeß des Gesundwerdens ist unvermeidlich, solange der Patient in Behandlung ist. Sobald das Hauptabwehrsystem zusammengebrochen ist, bleibt dem Patienten gar nichts anderes übrig, als gesund zu werden. Diese Unvermeidlichkeit entspricht der Lage des Kleinkindes, das in einer traumatischen Umgebung mit ständiger Unterdrückung lebt. Seine Neurose, das endgültige Abkapseln des realen Selbst und der Aufbau eines dauerhaften Abwehrsystems, ist eine Selbstverständlichkeit. Wird das Kind vor der großen Spaltung aus der traumatischen Umgebung herausgenommen, kann eine ernstliche Neurose vermieden werden. Nimmt man den Patienten aus der therapeutischen Behandlung heraus, ehe er die Spaltung beseitigt hat, ist das Gesundwerden vielleicht nicht so sicher.
Wie kommt es, daß eine frühe Neurose nicht durch liebevolle Eltern oder Lehrer geheilt werden kann? Eine Reihe Patienten bekam als Teenager Stiefmütter oder Stiefväter, mit denen sie sehr gut auskamen, die oft warmherzig und freundlich waren, und doch brauchten diese Menschen später eine Therapie. Diese freundlichen Stiefmütter und Stiefväter haben niemals lebenslängliches Stottern, Tics, Allergien usw. beseitigen können.
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Sprachtherapeuten haben Sprachstörungen nicht heilen können. Wenn die Kinder nach Beendigung der Schule das Elternhaus verließen und gute, liebevolle Freunde und Freundinnen fanden, hörten die Spannung und anhaltende Symptome wie Psoriasis (die auf die Primärtherapie übrigens anzusprechen scheint) nicht auf. Wenn Freundlichkeit, Liebe und Anteilnahme Neurose aus der Welt schaffen könnten, dann hätte die Psychotherapie, die von warmherzigen Therapeuten praktiziert wird, gewiß imstande sein müssen, viele Neurosen zu beseitigen, und das ist, glaube ich, nicht der Fall.
Neurose läßt sich nicht beschwichtigen und durch logische Überlegungen, Drohungen oder Liebe nicht aus der Welt schaffen. Ihre pathologischen Prozesse scheinen alles zu verschlingen, was ihnen in den Weg kommt. Man kann die Neurose mit Einsichten futtern, und sie verdrückt sich wie nichts, während sie weitermarschiert. Man kann ein neurotisches Auslaßventil nach dem anderen zudrehen, nur um neue und besser verborgene zu finden. Neurose kann mit einem Medikament nach dem anderen gelindert werden, aber sobald die Medikamente abgesetzt werden, wird sie wieder so stark sein wie eh und je. Neurose wird von einer der großen Energiequellen angetrieben — dem Bedürfnis, geliebt zu werden und an Körper und Seele real zu sein.
Da mir wissenschaftliche Vorsicht anerzogen worden ist, bin ich mir beim Schreiben bewußt, wie dramatisch und >unirdisch< all das klingt. Es mag sein, daß manche Leser die Primärtherapie damit abtun wollen, daß sie sagen, sie sei eine nur für bestimmte Arten von Neurose anwendbare Behandlung. Indes läßt sie sich bei allen Neurosen anwenden und, wie später dargelegt wird, möglicherweise auch bei Psychosen. Patienten, die ich früher nach der normalen Therapie behandelt hatte, haben niemals so etwas wie einen Urschmerz empfunden. Nachdem ich die Urerlebnisse entdeckt hatte, bat ich indes einige meiner früheren Patienten, nun zur primärtherapeutischen Behandlung zu kommen, und wir fanden ihren Urschmerz tatsächlich heraus. Nachdem wir uns jahrelang mit ihrer rationalen Fassade befaßt hatten, erschien es uns unglaublich, daß so viel unerforschtes Gefühl dahinter lag.
Bei manchen Neurotikern ruft die Primärtherapie eine ambivalente Reaktion hervor, je nach dem, wie nahe die Patienten ihrem Urschmerz sind. Wenn sie ihm nahe sind, werden sie offenbar sofort zu ihm hingezogen, weil sie dann das Gefühl haben, daß sie auf dem richtigen Weg sind. Wenn sie ihren Gefühlen noch fern sind, werden sie den Urschmerz als primitiv, naiv und übervereinfacht abtun. Der Neurotiker, der sein eigenes Wesen verzerren mußte, um etwas Lohnendes aus seinen Eltern herauszuholen, mag der Meinung sein, daß eine Therapie, die nicht einen ausgedehnten und >qualvollen< Kampf einschließt, der sich über eine Reihe von Jahren erstreckt, nicht viel taugen kann.
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Indes mag die Primärtherapie derart simpel erscheinen, daß ich eine Warnung aussprechen muß: niemand, der nicht voll AUSGEBILDETER PRIMÄRTHERAPEUT IST, SOLLTE ES MIT IHR VERSUCHEN ! Es könnte recht üble Folgen haben. Eine Gruppe Psychologen wird jetzt seit vielen Jahren ausgebildet. Die Teilnehmer und ich sind übereinstimmend der Ansicht, daß sie die Grundprinzipien der Theorie und die Technik noch nicht beherrschen. Ich betone das, um die mögliche Gefahr hervorzuheben, die mit der Anwendung der Primärtherapie durch unausgebildetes Personal verbunden ist.
Obschon dieses Buch praktisch keine Einzelheiten der Technik enthält, möchte ich unterstreichen, daß die Primärtherapie nicht eine Zufallsmethodik ist. Sie ist ein geplantes Programm. Es gibt bestimmte Ziele, die in den ersten drei Wochen erreicht werden müssen, und gewisse Ergebnisse, die von Monat zu Monat zu erwarten sind. Wir haben eine genaue Vorstellung darüber, wie der Patient während seiner Therapie essen und schlafen wird, und was das bedeutet. Unter gewissen therapeutischen Bedingungen werden andere Therapien fast genauso verfahren.
Diese Therapie erfordert eine ganze Menge Vertrauen zum Therapeuten. Wenn der Therapeut nicht real ist, kann sie nicht durchgeführt werden. Wenn er real ist, werden die Patienten es spüren. Viele von uns sind bereit, sich nach nur einem Händeschütteln von einem Chirurgen den Körper aufschneiden zu lassen, deshalb sollte es nicht überraschend sein, daß ein Patient den Therapeuten, kurz nachdem sie sich kennengelernt haben, in seinem Urschmerz bohren läßt.
Das Ende der Neurose ist sehr ähnlich wie ihr Anfang. Es ist kein Knalleffekt, nicht eine letzte große Einsicht oder ein unerhört emotionales Erlebnis. Es ist einfach ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem der Patient ein anderes Gefühl empfindet, das früher in der Vergangenheit verankert war. So beschreibt ein Patient das Ende der Neurose: »Ich weiß nicht, was ich bei alledem erwartete. Vermutlich wollte ich, daß etwas Dramatisches geschieht, um all diese Jahre des Elends wettzumachen. Vielleicht erwartete ich, meine neurotische Phantasiegestalt zu werden — dieser ganz besondere Mensch, der endlich geliebt und gewürdigt wird. Aber nichts scheint da zu sein außer mir ...« Und das ist wirklich nur der nicht-neurotische Mensch.
kathy
Das Folgende ist ein Auszug aus dem Tagebuch einer fünfundzwanzigjährigen Frau über mehrere Wochen Primärtherapie. Das Tagebuch soll dem Leser eine Vorstellung davon vermitteln, was die Patienten Tag um Tag während der Behandlung empfinden.
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Diese Frau kam zur Therapie, weil sie als Folge eines >schlechten Trips< mit LSD erschreckende Halluzinationen hatte. Diese Halluzinationen hielten nach ihrem Drogentrip monatelang an. Jetzt ist die Therapie beendet, und alle Symptome sind verschwunden. Sie betrachtet sich selber als eine neue Person.
Das Nachstehende ist ein Bericht über meine ersten fünf Wochen in der Primärtherapie. Abgesehen von ein paar Änderungen um größerer Klarheit willen sind die Notizen so, wie ich sie nach jeder Sitzung niederschrieb.
Meine ersten zehn Lebensjahre verbrachte ich bei Mutter, Vater, meiner älteren Schwester und einem Onkel. Dann ließen sich meine Eltern scheiden, und bis ich sechzehn war, lebte ich mit Mutter und meiner Schwester und einer anderen Frau zusammen. Ich heiratete und wurde nach zwei Jahren geschieden, als ich dreiundzwanzig war. Vier Jahre lang war ich auf einem College gewesen, hatte aber kein Examen gemacht. Jetzt bin ich fünfundzwanzig Jahre alt.
Kurz bevor ich zur Therapie kam, begann ich visuelle Phantasien zu haben, und zwar sah ich Messer und Rasierklingen, die auf meinen Kopf zukamen. Beim Autofahren geriet ich in Panik und bildete mir ein, andere Autos würden mit mir zusammenstoßen. In meinen Phantasien ließ ich die Messer nie an mich herankommen, hatte aber Angst, daß ich mich selbst verletzen würde. Ich fand, daß ich Hilfe brauchte.Mittwoch Es fängt damit an, daß ich versuche, mich meiner Kindheit zu erinnern. Ich bin entsetzt, daß ich fast gar keine Erinnerungen habe. Ich entsinne mich, daß ich mir in der Mädchenschule, in die meine Schwester und ich geschickt wurden, als Mammi einen Nervenzusammenbruch hatte, verlassen und abgelehnt vorkam. Ich war etwa vier Jahre alt, und ich erinnere mich, daß ich auf dem Fußboden saß und immerzu weinte. Ich dachte an das Haus in W., das dunkel war, ich wohnte da, bis ich fünf Jahre alt war. Ich kam heim in das Haus von D. und fragte mich, ob Mammi wohl zu Hause sein würde. Sie erzählte mir, daß ich, als sie heimkam, mit Streichhölzern spielte und sie angezündet hatte. Ich log eine Menge, stahl auf Parties, schnitt Löcher in die Unterwäsche meiner Schwester und sah das alles heute zum erstenmal in Zusammenhang. Ich bemogelte Mammi und Pappi, weil sie mir nicht gaben, was ich brauchte — weil sie mich bemogelten. Sie waren nicht für mich da, waren nicht wirklich. Sie taten so, als ob alles in Ordnung sei, auch wenn es nicht so war. Als ob wir eine Familie seien, obwohl wir keine waren. Und ich tat auch so. Darum habe ich meine Kindheit immer als glücklich in Erinnerung gehabt — ich tat so, als sei ich ein glückliches kleines Mädchen, weil ich die Wirklichkeit nicht ertrug.
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Ich erinnere mich, daß Pappi in D. weinte. Damals und nach der Trennung zeigte er, wie traurig er war — er sah immer gequält aus. An dem Abend, als ich aus dem Sommerlager nach Hause kam (ich war zehn Jahre alt), kurz bevor ich herausfand, daß sie sich trennen wollten, sagte er, daß er mich lieb habe, er sah gequält aus, er wollte die Verbindung zwischen uns sichern vor dem Bruch. Aber Mammi ließ sich nicht beeinflussen. Sie gab vor, ich brauche sie. Ich kam mir verloren vor. Irgend etwas war nicht wirklich — vielleicht alles. Ich sagte ihnen nicht, wie mir zumute war. Ich verbarg alles, und dann zündete ich Streichhölzer an.
Am Schluß der Sitzung war mir schwindlig und schwach. Ich kehrte wieder dorthin zurück, in meine Kindheit, ein bißchen — aber alles ist so zusammenhanglos und uneinheitlich. Wie kommt es, daß ich mich an so wenig erinnere? Es ist, als ob ich damals gar nicht dagewesen wäre.
Donnerstag Ein unerfreulicher Anfang — mühte mich ab, auf Erinnerungen zu kommen, die nicht da sind. Ich bekam es mit der Angst — warum kann ich mich nicht erinnern? Ich bin hilflos; zuerst empfand ich die Hilflosigkeit so, wie ich jetzt bin, dann als hilfloses Kind. Ich versuchte nach Mammi zu rufen. Es kam mir unwirklich vor. Dann rief ich — ich spürte, daß sie mich im Arm hielt. Aber es war nicht tröstlich, daß sie mich hielt, ich fühlte nur das Alleinsein, ehe sie gekommen war. Mit einem Mal merkte ich, daß ich mit den Händen herumfuchtelte. Ich kam mir vor, sei ich ein Baby in einem Körbchen, wie ich so mit den Händen herumfuchtelte und wedelte. Ich fühlte mich einsam. Ich war tatsächlich da in der Dunkelheit des Hauses in W. — wo mein Kinderbett stand. Ich war ein kleines Baby und allein. Ich wollte meine Mammi, aber ich konnte sie nicht rufen. Dann wurde klar, daß ich sie auch als Baby nie gerufen hatte. Ich lag ganz still und spürte, wie traurig das war, und ich weinte. Dann wurde mir eiskalt, und ich kauerte mich wie ein Fötus zusammen, warm zu werden. Plötzlich kam es mir vor, als ob ich in den freien Raum fiele. Ich schwebte, voll Entsetzen. Ich hatte Angst, ich würde fallen und gegen etwas stoßen und mich verletzen. Mein Körper war immer noch zusammengerollt und begann sich jetzt zusammenzuziehen und dann zu strecken. Ich merkte nicht mehr was eigentlich geschah. Aber ich war ängstlich und fühlte den Kampf, und ich schrie auf. Schließlich fühlte ich, daß ich mich durch einen engen Raum zwängte. Ich spürte Seitenwände ringsum. Ich hatte Angst, daß ich mich verletzte, wenn ich mich durchzwängte, aber als ich herauskam, merkte ich, daß ich geboren worden war und mir nichts zuleide getan hatte. Ich flutschte heraus und spürte kühle Luft ringsum. Mein Körper streckte sich ein wenig. Ich war glücklich und erschöpft. Ich war geboren!
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Im Mutterleib war es mir noch so vorgekommen, als werde ich alles gewahr, und dabei hätte ich es gar nicht merken sollen. Als ob ich etwas erlebte, während ich eigentlich hätte schlafen sollen. Art* sagte, daß ich mich fünf Minuten lang zusammenzog; mir kam es nur wie wenige Minuten vor. Es ist phantastisch.
Ich erkannte all meine Ängste vor der Höhe, vor dem Fallen, vor dem ungeheuren Raum. Ich sah aus dem Fenster und blickte mich im Sprechzimmer um. Alles sah anders aus — es war, als sei eine Filmschicht entfernt worden. Als ich das Sprechzimmer verließ, fühlte ich mich großartig.
Als ich heute abend Musik hörte, fing ich an zu weinen. Ich spürte, wie traurig Pappi gewesen war — wie elend ihnen beiden zumute war — und ein wie trauriges kleines Mädchen ich war. Ich versuchte, mir ein Bild von Mammi zu machen. Ich sehe sie am Klavier sitzen, aber ihr Gesicht wird überblendet von etwas aus irgendwelchen Horror-Comics. Ich versuche sie jetzt zu sehen, aber ich sehe immer nur das traurige, kranke Gesicht von vor zwanzig Jahren. Mir ist ganz übel, denn mir wird zum erstenmal klar, wie krank und bemitleidenswert sie war.
Freitag Ich beginne damit, Mammi am Klavier zu betrachten, wie ich sie gestern abend sah, und wieder löste sich ihr Gesicht in etwas Schreckliches auf. Ich kann das Bild nicht festhalten und betrachten. Dann sehe ich sie im Alter von etwa Dreißig. Sie kann einem nicht gerade in die Augen schauen, sie ist paranoisch, in Panik. Ich rufe laut: »Sie ist verrückt!« Ich weine immerzu. Sie ist verrückt und irreal. Eine Maske. Sie war für mich als Kind nicht da, weil sie verrückt war. Dauernd mußte sie herumrennen, um nicht verrückt zu werden. Es muß sie verrückt gemacht haben, daß sie wegen meiner Schwester und mir zu Hause bleiben mußte. Arme Mammi. Plötzlich wurde ich klein - ich stand da und sah meine Familie. Pappi ist traurig; Mammi ist verrückt und hat Angst; meine Schwester ist wütend -jeder von uns ist ganz allein. Ich versuchte, die Lage zu bessern, indem ich wie wild herumtanzte und Spaß machte. Ich war verdutzt, zu klein, um es zu verstehen oder mich damit abzufinden. Sie erregten Mitleid und Furcht und waren keine Hilfe für ein kleines Mädchen. Ich spürte Mammis Verrücktheit. Ich verstehe ihr Angeben. Sie glaubt, wenn sie sich >gesund< benimmt, wenn sie >gesunde< Dinge tut, sei alles in Ordnung. Das war alles, was bei ihrer Therapie herauskam. Ich weinte um meine Schwester, die auch versuchte, die Sache in Ordnung zu bringen, indem sie angab und schauspielerte.
* Anm. d. Verfassers: Da mir meine Patienten den Spitznamen >Art< gegeben haben, kommt er in ihren Fallgeschichten häufig vor.
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Samstag Immer noch keine Erinnerung an meine Kindheit, deshalb sprach ich von meinen LSD-Trips. Die beiden ersten waren erfreulich gewesen, ekstatisch, mystisch, ganz und gar irreal und sehr anschaulich. In den drei Monaten zwischen dem zweiten und dem dritten Trip begann ich, eine Menge Benzedrin und Kodein zu nehmen. Als ich zum drittenmal LSD nahm, war ich unglücklich, und ich wollte mit dem Trip erreichen, daß ich mich besser fühlte. Ich fürchtete mich davor, es allein zu nehmen, aber ich tat es dann doch. Die ersten paar Stunden waren wie bei den anderen Trips. Ein paar Freunde besuchten mich kurz, und als sie gingen, bekam ich Angst. Ich versuchte mich zu erinnern, warum ich mich davor gefürchtet hatte, es allein zu nehmen, wurde aber nur verwirrt. Ich konnte mich gar nicht erinnern, was LSD war. Ich konnte mich an nichts Reales erinnern. Die Halluzinationen wurden erschreckend und überwältigend. Die Minuten schienen kein Ende zu nehmen, die Uhr zerfloß. Mein Verstand arbeitete nicht mehr. Ich konnte mich nicht erinnern, wo ich war. Es gab keine Hinweise mehr. Ich war verrückt und hatte das Gefühl, ich könnte nie mehr in die reale Welt zurückkehren.
In meiner Angst stellte ich fest, daß ich noch telefonieren konnte, und so rief ich meine Schwester an, sie möge bitte zu mir kommen. Ich war so erleichtert, als ich ihre >reale< Stimme hörte, daß ich wieder etwas >zu mir< gekommen war, bis sie eintraf. Der Rest des Trips war abwechselnd lustig und traurig, aber ich wußte, daß ich nie wieder dieselbe sein würde, nachdem ich diesen Wahnsinn empfunden hatte. Ungefähr drei Wochen später, nachdem ich mittlerweile viel Methedrin und Kodein genommen hatte, war ich schon beim Aufwachen deprimiert. Ich lag den ganzen Tag am Strand, bekam Sonnenbrand und war schrecklich deprimiert. Ich ging zu meiner Mutter und fing an, hysterisch zu weinen und nach Luft zu schnappen. Sie gab mir ein Beruhigungsmittel, so daß ich einschlief. Als ich aufwachte, weinte ich immer noch und litt unter Hyperventilation. Am nächsten Tag brachte mich meine Mutter in das Neuropsychiatrische Institut der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Nachdem ich dort mit dem für LSD zuständigen Arzt gesprochen hatte, versicherte er mir, daß ich nicht eigentlich krank sei, sondern nur auf die verschiedenen Medikamente reagiere, die ich nahm, und auf das LSD. Wenn ich aufhörte, sie zu nehmen, sagte er, und ganz normal lebte, würde ich bestimmt wieder in Ordnung kommen. Er gab mir so viel Melleril, daß es ein Pferd umgehauen hätte, und riet mir, so bald als möglich meine Arbeit wieder aufzunehmen und ständig mit Menschen zusammen zu sein. Alles, was er mir riet, entfernte mich nur noch mehr von meinen realen Gefühlen und half mir, sie wieder zu verbergen, wenn sie gerade so weit waren, aufgedeckt und empfunden zu werden. Etwa einen Monat lang war ich sehr deprimiert, weinte und schlief viel und stand unter Hyperventilation. Dann rappelte ich mich wieder auf und schob meine Gefühle beiseite, so daß ich arbeiten konnte.
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Während der heutigen Sitzung wurde mir klar, daß ich ver-rückt geworden war, weil ich dem Gefühl des Alleinseins, das das LSD freigelegt hatte, nicht ins Auge sehen konnte. Meine Phantasien in letzter Zeit von Messern und Rasierklingen, die auf mich zukommen, hängen damit zusammen. Wenn ich die Messer je an mich heranließe, würden sie mich aufschlitzen und meine Gefühle herauskommen lassen. Die Furcht, mich zu verletzen, ist meine Furcht, mich dem verschütteten Schmerz auszusetzen und ihn zu empfinden. Ich beginne, all die Traurigkeit und die Verletzungen in mir zu spüren. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich die Verletzungen, die Furcht und das Alleinsein verborgen. Ich erkenne, daß das nach Luft Ringen ein Kampf ist, um die Gefühle niederzuhalten, wenn sie emporkommen wollen, wie es nach dem LSD-Trip der Fall war. Ich weine und weine immerzu. Es scheint überhaupt nicht aufhören zu wollen. Ich spüre den Schmerz in meinem vollgestopften Kopf. Ich möchte alles erbrechen. Ich habe Angst und bin einsam.
Ich werde mir darüber klar, daß ich mich bei den beiden ersten LSD-Trips und auch zu anderen Zeiten in meinem Leben nur deshalb mit meinem Alleinsein abfinden konnte, weil ich meine Gefühle so gut verborgen hatte. Ich tat so, als ob alles in Ordnung sei (genau wie damals als Kind), weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, hilflos und einsam zu sein. Selbst jetzt nach der Sitzung tue ich so, als ob ich nichts fühle, weil ich der Tatsache nicht ins Auge sehen kann, daß mir kotzjämmerlich zumute ist und ich mich einsam fühle. Ich verberge meine Gefühle immer noch, nur nicht in den Sitzungen.
Dienstag Als ich heute kam, hatte ich starke Gefühle im Bauch. Sie äußerten sich in schauerlichen Schreien, aber nicht in Worten. Schließlich erkannte ich, daß ich Angst hatte, weil ich allein war; Mammi und Pappi waren nicht da. Allein konnte ich nicht fertigwerden; ich war zu klein. Ich sah Mammi so, wie sie damals war, als sie aus der Nervenheilanstalt kam und ich vier war, und wie sie jetzt ist: allen Leuten gegenüber liebenswürdig, tut so, als sei sie fröhlich, aber alles ist geheuchelt, eine Maske. Dann wurde mir klar, warum ich mich so abgestoßen fühle, wenn sie ihren Körper zeigt, ihre Häßlichkeit, weil ich nämlich genau wie sie bin, alles verdeckt — eine Maske über meinen Gefühlen und Ängsten. Das ist der Grund, warum ich als Kind ihren Schmerz erkannte, obwohl ich ihm damals nicht ins Auge sehen konnte. Meine Beine sind dick, weil ich meine Gefühle so weit nach unten schob, wie sie es auch tat. Meine Brüste sind groß, weil ich mich wie eine Erwachsene aufführte. Jetzt spüre ich die Spannung am ganzen Körper und möchte sie wegbekommen. Ich versenke mich in die Spannung und spüre, daß sie Schmerz ist. Meine ganze Spannung ist Schmerz, den ich nicht fühle. Jetzt fühle ich ihn und weine.
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Auch wurde mir heute klar, daß meine Sorge um das Wohlergehen meiner Schwester ein Ersatz für meine Sorge um mich war, denn sie agierte den Kummer und den Schmerz aus, die ich in mir verschloß.
Mittwoch Heute morgen hatte ich eine Magenverstimmung und war nervös und aufgeregt, als ich kam. All das Reden schien nicht das Richtige zu sein, so versenkte ich mich in das Fühlen. Ich war klein und lag in meinem Körbchen. Ich blickte auf und sah Mammi allein mit mir. Sie sah gequält aus, voll Angst und verrückt. Ich war entsetzt und fühlte mich genauso, wie sie aussah. Schon als Baby sah ich sie so, wie sie war. Es war auch zu schmerzlich. Ich war zu klein, um das sehen zu müssen. Es war nicht fair. Ich konnte es nicht aushaken. Darum mußte ich von Anfang an meine Gefühle nach unten schieben. Ein kleines Baby, das sehen muß, daß seine Mutter verrückt und hilflos ist.
Dann versuchte ich, mich an Pappi zu erinnern. Ich wurde kleiner, fühlte mich aber verhältnismäßig größer (wie wenn ich Fieber habe). Ich war ein kleines Baby im Körbchen (zuerst schien es ein Brutkasten zu sein, weil ein Kunststoffhimmel über mir war). Ich sah nur Dunkelheit und empfand das Bedürfnis, von Pappi in den Arm genommen zu werden. Dann sah ich ihn stehen, hoch über mir. Er war eine Statue, die mich anstarrte. Ich konnte nict an ihn heran. Ich weinte leise, aber er konnte es nicht hören. E| konnte mich einfach nicht hören. Mein Weinen bedeutete: »Was ist mit dir los, Pappi?« Ich konnte mich nicht bewegen. Ich könnt! nicht rufen. Dann sah ich Mammi neben ihm. Beide waren Wachsfiguren, leere Schalen, die einfach auf mich hinunterblickten, mich aber nicht sahen und gar nichts fühlten. Dann war meine Schwester rechts von mir, ein verlogenes Lächeln auf den Lippen, und sie knuffte mich. Ich wollte, daß sie alle weggingen — sie waren schrecklich und irreal. Es war beängstigend. Ich schloß die Augen und drehte mich auf die Unke Seite, weil ich hoffte, sie würden glauben, daß ich schlafe, und dann weggehen.
Meine Kindheit war von Anfang an scheußlich und beängstigend, aber ich verbarg es vor mir. Ich sperrte mich gegen das Gefühl — und es ist immer noch eingesperrt.
Donnerstag Es begann wieder mit Spannung im Bauch. Ich wurde ein Baby und empfand ein gewaltiges Bedürfnis ohne Worte. Ich versuchte, Mammi zu rufen, aber es hatte keinen Zweck. Dann sah ich sie, wollte aber nicht, daß sie mich in den Arm nahm, denn sie sah verrückt aus. Ich wollte, daß sie und Pappi nicht verrückt und wächsern wären. Mir war traurig zumute, denn ich konnte das Bedürfnis einfach nicht empfinden, ohne gleichzeitig das Bedürfnis zu haben, sie sollten sich zuerst ändern. Ich bat sie, nicht verrückt zu sein, und das war ein sehr reales Gefühl.
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Dann spürte ich die Wut, die dieser Realität zugrunde lag. Ich schrie sie an: »Ich brauchte euch, und ihr wart keine Hilfe für mich - ihr wart zu wahnsinnig.« Wer will schon nach seinen Eltern rufen, und dann kommen zwei verrückte Menschen daher? Ich glaubte, die Wut würde ewig anhalten, aber nach einem Schrei schien alles heraus zu sein.
Nach der Sitzung war ich den ganzen Tag und die ganze Nacht traurig — kam mir betrogen vor und ging meinem unglücklichen Baby-Selbst nach.
Freitag Ich war wieder klein und spürte das Bedürfnis nach Mammi und Pappi. Ich hatte Angst und fror entsetzlich. Ich lag gelähmt da und verhärtete meine Furcht, daß sie sich nicht um mich kümmern, mich nicht in den Arm nehmen würden. Ich konnte mich nicht verständlich machen, weil ich es immer noch nicht ertragen konnte, sie anzusehen. Als ich nach ihnen rief und schließlich tief aus dem Bauch wie ein Baby schrie, da tat es mir im linken Ohr weh. Vielleicht öffnete es sich, denn ich spürte, daß der Schrei durch das Ohr hinausging. Es war ein richtiges Babygeschrei und klang wie das Meckern einer Ziege. Als ich so erstarrt dalag, spürte ich, wie straff mein Bauch war, gegen das Gefühl verspannt. Noch heute sind meine Bauchmuskeln steif wie ein Brett.
Montag Über Wochenende und heute morgen hatte ich Bauchschmerzen, Magenkrämpfe und Kopfschmerzen. Und das flaue Gefühl im Magen, das ich immer hatte (und das mich immer an die Vergangenheit erinnerte). Versuchte, mich in dieses Gefühl zu versenken - mir war schwindlig (wie wenn man >high< ist oder Fieber hat). Ein Gefühl, daß sich alles dreht und sozusagen nach außen strebt. Mein linker Arm fühlte sich lahm an, als ob ihn jemand ganz fest nach unten drücke und die Muskeln zusammenpresse. Ich schrie: »Laß mich los, laß mich los«, aber das war nicht richtig. Dann war das Schwindelgefühl plötzlich so, als ob jemand meinen Kinderwagen zu heftig schaukelte und mir damit Angst machen wollte. Mein Verstand sagte, es könnte meine Schwester sein, aber dann sah ich Mammi vor mir mit verzerrtem Gesicht. Aber auch das schien nicht richtig zu sein. Ich spürte meinen Arm wieder. Mir war speiübel. Meine Eltern hatten mich hochgenommen, verdrehten mir den Arm und machten mir Angst. Ich schrie auf und riß schließlich meinen Arm los. Ich spürte, daß mit einem Mal wieder Gefühl in ihm war. Aber ich war voll Angst und verwirrt. Ich verstand nicht, was geschehen war. Schließlich rief ich: »Ich verstehe es nicht«, und das war es. Ich war ungefähr fünf Jahre alt und verwirrt und bestürzt über meine Eltern. Sie kümmerten sich nicht um mich. Alles, was sie taten, verwirrte und verletzte mich. Sie waren verrückt und machten mich verrückt.
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Ich haßte sie und brauchte sie dennoch. Sie liebten mich nicht. Es machte mich verrückt, als ich mir vorzustellen versuchte, was vor sich ging. Und ich agierte das Verrücktsein aus: das wilde Tanzen, die Grimassen, um das Gefühl zu verdecken. Ich war zu klein, um es zu verstehen — aber ich verstand mehr, als ein Baby wie ich eigentlich verstehen sollte. Es war entsetzlich schmerzhaft. Mein Kopf war immer vollgestopft, Ohren, Hals, Nase — all die Scheiße und Verwirrung, die drinnen verborgen waren. Ich stieß noch mehr kindliche Schreie aus und fühlte mich etwas besser. Als ich mich aufsetzte, sang ich ganz leise ein Kinderlied — fast unbewußt. Vielleicht, weil ich so schlicht und einfach sein wollte.
Dienstag Sofort begann ich ein wenig zu fühlen. Ich war wie gelähmt, stand in der Tür zwischen Küche und Eßzimmer und sah ins Wohnzimmer. Mammi und Pappi waren da, dann nicht da — sie sind durchsichtig. Ich brauche sie, kann aber nicht rufen. Ich bin gelähmt, weil ich sie einerseits will und andererseits vor ihrer Irrealität Angst habe. Ich war einsam, sehr einsam. Ich tat so, als brauchte ich sie nicht. Nie habe ich sie um etwas gebeten. Nie habe ich Pappi gebeten, mir mein Fleisch zu schneiden, wie es meine Schwester tat. Heute rief ich: »Pappi, wo bist du? Ich sehe dich nirgends im Haus.« Ich hatte das Gefühl, daß ich dann mit Mammi sprechen wollte; ich wollte ihr sagen, daß mir der Kopf weh tut. Ich tat es schließlich, und es war sehr real. Ich rief ihr auch zu: »Ich brauchte dich«, und das ging über in: »Ich brauche dich.« Ich hatte das Gefühl, daß dieses Haus, wieviel Lampen auch brannten, immer noch dunkel und leer war. Ich war allein und klein und tat so, als sei ich groß und selbständig. Sie waren wirklich nicht für mich da, auch wenn sie da waren. Ich kam mir betrogen vor. Warum habt ihr euch nicht um mich gekümmert? Selbst wenn ich geschrien und mit Füßen aufgestampft hätte, sie hätten mich nicht gehört oder gesehen.
Mittwoch War ängstlich heute morgen. Begann mich etwas deutlicher an das Haus in der D-Straße zu erinnern. Dann fühlte ich ein wenig — ich stand am Hinterausgang und hatte Angst vor dem leeren Haus. Ich konnte nicht atmen, hatte das Gefühl, ich könne nicht durchs Haus gehen, aber ich malte mir dauernd alle Räume im Erdgeschoß aus. Schließlich begann ich durchs Haus zu gehen und erinnerte mich sogar, was in den Schränken war. Ich hatte aber Angst, nach oben zu gehen, und fürchtete, ein entsetzliches Geheimnis zu finden, das der Grund für die Angst war. Ich zwang mich hinaufzugehen, Stufe um Stufe. Ich schaute in das Zimmer meines Onkels — nichts da. Dann ging ich über den Flur und mit Herzklopfen zum Zimmer meiner Eltern. An der Tür bekam ich Angst, als ich in das leere Zimmer schaute und mir klar wurde
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daß das alles war. Ich hatte Angst, weil das Haus leer war; es war niemand für mich da; ich war allein. Ich war trauriger denn je. Ich erkannte, daß ich damals gar nicht durch das Haus gegangen war. Damals konnte ich so ganz allein die Angst und den Schmerz nicht ertragen — deshalb setzte ich mich vor den Fernseher und verbarg den Schmerz unter Wut. Ich verbrannte Streichhölzer, um die Wut herauszulassen, und als Mammi nach Hause kam, konnte ich so tun, als ob alles in Ordnung sei. Innerlich reagierte ich wie ein Baby, wollte mich aber äußerlich nicht wie eins benehmen.
Donnerstag Die ganze letzte Nacht war ich in Panik — konnte nicht atmen, hatte einen Knoten im Magen wie Krämpfe. Heute morgen konnte ich keine Sitzung haben, deshalb beschloß ich, es allein zu versuchen — sah immerzu das Haus in ..., wo wir wohnten, als ich zehn war. Schaute in Mammis und Pappis Zimmer hinein und verspürte heftige Wut - ich stellte mir einen Streit vor, aber das war nicht real. Schließlich war ich dann in meiner Bude. Erinnerte mich an den Abend, als ich aus dem Lager kam und wußte, daß etwas nicht stimmte. Am nächsten Tag fragte ich Mammi, ob sie je daran gedacht hätte, sich scheiden zu lassen. An dem Abend glaubte ich zu hören, daß sie sich oben stritten, als ich auf meiner Bude war. Ich erinnerte mich, daß Pappi bei mir war, als ich badete, und mir sagte, er habe mich lieb, er sah traurig aus, und an seinem Ausdruck merkte ich, daß nicht alles in Ordnung war. Ich weinte. Ich muß zwei Stunden lang jämmerlich geweint haben. An jenem Abend wußte ich, daß es mit dem Heucheln vorbei sein würde. Das würde bald unvermeidlich werden. Es gab keine Familie. Ich mußte der Tatsache ins Auge sehen, daß es keine richtige Familie war und nie gewesen war — daß wir zehn Jahre lang nur so getan hatten. Ich empfand Panik — ich würde der Sache nicht ins Auge sehen können. Ich wollte sie anflehen — ich weinte: nein, nein, nein. All den Schmerz, den ich als Kind verborgen hatte, mußte ich an jenem Abend wieder verbergen. Mammi hätte es in Ordnung bringen können - hätte sie weitergeheuchelt, so hätten wir alle weiterheucheln können. Es war entsetzlich — das Ende der Welt, unserer Heuchelwelt.
Freitag Habe immer noch Kopf- und Bauchschmerzen. Ich bin gestern nicht alles losgeworden. Wiederholte es in der heutigen Sitzung. Übrigblieb nur das Schreien, das ich zu Hause nicht gewagt hatte. Jetzt schrie ich und schrie und fühlte mich erleichtert.
Montag Hatte den größten Teil des Tages noch Schmerzen. Bei der Sitzung versenkte ich mich in meine Ängste, allein zu sein, und versuchte den Schrecken herauszufinden. Aber der ganze Schrecken besteht in dem Vorgefühl.
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Sobald ich das Alleinsein empfand, statt es wegzuschieben, fühlte ich mich schlicht einsam und war traurig. Nicht angenehm, aber erträglich. Ich befaßte mich intensiv mit dem Hämmern in meinem Bauch und brachte es nach oben in den Kopf, aber ich konnte das Gefühl nicht benennen. Ich begann heftig zu weinen — tief vom Bauch her zu schreien, um das Gefühl herauszubringen. Ich rief Mammi: »Ich brauche dich. Ich hab' Angst. Kümmere dich um mich.« Es nützte nichts. Ich bekam Angst, daß ich es nicht herausbekommen würde. Meine Nase war verstopft, und ich erstickte schier. Ich konnte das Gefühl nicht benennen. Meine Gedanken gingen immer im Kreis, ich wurde verwirrt und verrückt. Es war wie bei dem LSD-Trip — ich versuchte, etwas Einfaches in Worte zu fassen, aber etwas, dem ich nicht ins Auge sehen konnte. Ich suchte ständig nach Antworten, versuchte, es mir klar zu machen, wurde wütend. Schließlich gab ich es auf, ging nach Hause und war voll Angst und verwirrt.
Dienstag Beschloß, das Urerlebnis noch einmal durchzugehen und zu sehen, was es eigentlich ist, dem ich nicht ins Auge schauen kann — all mein Schreien und das Bedürfnis, das ich empfand, waren zusammenhanglos. Ich ging zurück zu dem Tag nach dem Abend, als ich aus dem Lager nach Hause gekommen war. Mammi und ich fuhren nach Glendale. Ich fragte sie, ob sie je an Scheidung gedacht hätten. Dann erstarrte ich, ehe sie antwortete, mir war, als glitte, ich aus dem Wagen und fiele hinaus, mir war schwindlig. Mir wurde klar, daß ich mich davor zurückzog, die Situation wiederzuerleben. Ich zwang mich, dabei zu bleiben. Ich war wieder im Auto und sah sie an. Ich wiederholte meine Frage und spürte das Hämmern im Bauch. Sie sagte: ja. Ich sackte zusammen; es war wie ein Schlag in den Magen — unmöglich. Sie sagte: ja. Ich hatte das Gefühl, ich würde gegen die Tür gedrängt — sie beide schoben mich weg — Mammi jedenfalls. Schließlich traf es mich so, wie es mich damals getroffen hatte: »Sie liebt mich nicht.«
Hätte sie mich geliebt, hätte sie nicht ja gesagt — sie hätte mir etwas vorgelogen, mich beschützt, wäre irreal für mich gewesen. Ich brauchte es, daß sie nein sagte. Das ist das Gefühl, dem ich nicht ins Auge sehen konnte. Mit fünfundzwanzig wäre ich lieber verrückt geworden, als mit zehn Jahren dem ins Auge zu sehen und dann wahrscheinlich mein ganzes Leben lang das Gefühl zu haben, daß meine Mammi mich nicht liebt.
Samstag Begann mit Weinen. Sah das Haus in der O.-Straße nach der Scheidung. Mein Schlafzimmer — ich lag auf dem Bett und fühlte mich so einsam. Ich schrie nach Mammi. Konnte es nicht ertragen, so allein zu sein. Hatte wieder das Gefühl, daß sie mich nicht liebt, sonst hätte sie sich nicht scheiden lassen, das zerstörte den Wachtraum.
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Mittwoch Es begann mit Klopfen im Bauch und Würgen in der Kehle. Ich sah das Haus in der B.-Straße. Der Flur zwischen meiner Bude und der Küche. Ging im Haus umher und suchte etwas. Sah Mammi und meine Schwester in verschiedenen Zimmern, aber sie saßen wie unbewegliche Statuen. Ich brauchte etwas von ihnen, konnte es aber nicht bekommen. Ich war abgeschnitten und allein. Ich mußte wirklich mit jemandem, und zwar mit Mammi, zusammen und geborgen sein. Ich brauchte ihre Liebe. Ich habe Schmerzen - Arme und Kopf tun mir weh. Dann fühlte ich mich kraftlos wie ein Baby. Die beiden einzigen Möglichkeiten, die ich kannte, um Liebe zu erhalten. Ich sah die drei im Wohnzimmer. Ihre Augen sahen krank aus, ängstlich. Ich wollte immerzu die Tür schließen — wie ich es immer tat. Ich ging in mein Zimmer. Oder versteckte mich und las. Ich erkannte, daß ich mein Leben lang einen Zusammenhang hergestellt habe zwischen Liebe und Schmerz, weil ich ein hilfloses Baby war, und daher habe ich mich nie verhebt, außer wenn dieser Kampf mit dem Schmerz dazugehörte. Und hatte das Bedürfnis, Mammi und Pappi Geld zu schulden — mußte etwas aus ihnen herausholen. Als ich versuchte, sie um Liebe zu bitten, versagte mein Mund den Dienst. Endlich konnte ich sie um Liebe bitten, wieder und immer wieder.
Donnerstag Heute morgen war meine Kehle so zugeschnürt, daß ich überhaupt nicht sprechen konnte, als ich kam. Hatte das Gefühl, daß mein ganzer Kindheitsschmerz gleichsam ein Schlag in den Magen war. Ich schrie auf: »Mammi, warum liebst du mich nicht? Bitte hebe mich doch.« Ich wollte, daß sie für mich sorgt und mich beschützt. Dann: »Mammi, bitte, tu mir nicht weh«, und das wiederholte ich immerzu. Das ganze Rufen nützte nichts. Dann: »Du tust mir weh, ich bin krank, du machst mich krank.« Ich legte mich auf die Seite, mir war übel. »Kannst du mir nicht helfen?« Versenkte mich in dieses Gefühl — voll Schrecken, weil ich allein war, und ich spürte den Schmerz. Brachte mit tiefem Atmen einiges davon aus meinem Bauch heraus. Ich war nur noch trauriger, fühlte da drinnen einen größeren Schmerz und Schrecken denn je zuvor.
Ich weinte noch mehr. Es kribbelte mich am ganzen Körper, mein Bauch war verspannt, aber innerlich war ich ruhiger. Als ich mich aufsetzte und mein Gesicht berührte, fühlte es sich anders an, als ob ich früher niemals unter der Haut etwas gespürt hätte — meine vor Angst erstarrte Maske hatte Risse bekommen.
Freitag Das Gefühl ist immer noch im Bauch und in der Kehle. Heute habe ich den Schmerz und das Alleinsein endlich wirklich gefühlt. Konnte aber keinen Zusammenhang herstellen. Woher stammt dieser gewaltige Schmerz? Ich kann es nicht herausbekommen. Endlich fühle ich ihn die ganze Zeit — nicht nur bei den Sitzungen. Aber ich glaube, ich muß ihn herausbekommen.
Samstag Das Gefühl steckt da in der Gruppe. Schließlich kommt ein unkontrollierter Schrei heraus Ich schreie und schreie, und dann sage ich: »Ich wußte schon immer, daß Mammi nicht für mich da war. Ich wußte, sie konnte es nicht ändern, daß ich einsam war.« Vorübergehende Erleichterung, daß es endlich heraus war. Aber es ist noch nicht alles. Nur ein Bruchteil des Urschmerzes.
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