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12  Der postprimäre Patient

 

Arthur Janov 1970

 

 

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Von welcher Art sind die Menschen, die eine Primärtherapie durchgemacht haben? Es gibt keinen bestimmten Typ des primär­therapeutischen Patienten. Ihr Alter schwankt zwischen einundzwanzig und fünfzig Jahren, und am stärksten vertreten sind junge Leute um Mitte Zwanzig. Sie haben die unterschiedlichsten Berufe, vom ehemaligen Mönch bis zu Freiberuflern aller Art, darunter viele Psychologen und Künstler. 

Während bei der konventionellen Therapie höhere Schulbildung ein Pluspunkt ist, kommen in der Primärtherapie auch Nicht-Intellektuelle gut voran. Die Patienten gehören den verschiedensten religiösen Gemein­schaften und Subkulturen an und kommen aus vielen Ländern. Ein Großteil meiner Patienten hatte schon früher eine Therapie durchgemacht, entweder viele Jahre Psychoanalyse, Gestalt­therapie, Existenztherapie oder Reichsche Behandlung (Wilhelm Reich). 

Mit Ausnahme der Reichschen Methoden haben die anderen Schulen eine Vielzahl von Techniken angewandt, in deren Mittelpunkt die Einsicht steht. Viele Patienten sind ledig, doch eine Reihe von ihnen ist verheiratet oder geschieden. Der Familienstand des Patienten ist oft wichtig. Ist er älter und hat er Familie, ist die Behandlung schwieriger. Das liegt daran, daß er womöglich in seinem Verhältnis zu einer neurotischen Ehefrau irreale Wurzeln geschlagen, einen irrealen Beruf gewählt oder sich irreale Freunde ausgesucht hat. Kurz, er muß viel aufgeben, um real zu werden; nicht viele Menschen sind dazu bereit, wenn sie erst einmal vierzig oder fünfzig Jahre alt sind.

Wenn ein älterer Mensch, der sich zehn oder zwanzig Jahre lang in einer neurotischen Ehe verschanzt hatte, real wird, dann kann es sein, daß der Ehepartner, der nicht therapeutisch behandelt wird, die Sache zu hintertreiben beginnt, was die Behandlung schwierig macht. Vielleicht ist der ideale Primärpatient unverheiratet und ziemlich jung und noch nicht unabdingbar auf Irrealität festgelegt. Indes gibt es zahlreiche Patienten mittleren Alters, die für Veränderungen aufgeschlossen sind und in dieser Therapie sehr erfolgreich waren.

Nur wenige primärtherapeutische Patienten haben eine Vorstellung davon, was ihnen bevorsteht. Daher sind unsere Ergebnisse weniger gefärbt durch vorgefaßte Erwartungen. Trotz der revolutionären Form der Primärtherapie lassen sich die Patienten durch sie fast nie verwirren. Gleichgültig, aus welchem Milieu die Patienten stammen, die Therapie scheint ihnen sofort einzuleuchten.

 

Werfen wir einen Blick auf einen Patienten, der seine Therapie gerade beendet hat. Wie ist er? 

Er funktioniert auf neue Weise. Oft bedeutet das einen Berufswechsel. Viele postprimäre Patienten sind physisch nicht mehr imstande, etwas Irreales zu tun; sie können nicht wieder skrupellose Verkaufskanonen werden oder die sinnlosen Schreibarbeiten erledigen, die bei manchen Berufen erforderlich sind. Zwei Bewährungshelfer fanden es unmöglich, weiterhin die bedingt Haftentlassenen lediglich zu überwachen, statt ihnen Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchten, um nicht rückfällig zu werden.

Zwei Psychologen, die sich zur Ausbildung in der Primärtherapie angemeldet hatten, nahmen in der Zwischenzeit lieber niedrigere Jobs an, statt ihre Arbeit auf psychologischem Gebiet, die sie für irreal hielten, fortzusetzen. Einer war Eheberater gewesen und sah sich nicht in der Lage, diese Tätigkeit weder aufzunehmen und sich allein mit Oberflächenverhalten zu befassen. Ein Fernsehregisseur gab seinen gutbezahlten Posten auf, um statt läppischer Stücke einen sinnvollen persönlichen Bericht zu schreiben. Ein Arbeiter beschloß, ein College zu besuchen, weil, wie er sich ausdrückte, »ein Gewerkschaftsausweis mit College-Abschluß mehr Geld einbringt als einer von Arbeitern«. Er machte sich keine Illusionen über das, was er im College lernen wollte. Eine Lehrerin mußte sich an eine andere Schule versetzen lassen, weil es ihr unmöglich war, weiterhin mit einem neurotischen Direktor zusammenzuarbeiten.

Bei den anderen psychotherapeutischen Schulen ist eins der üblichen Anzeichen für Normalität das <Funktionieren>. Das heißt, man stellt sich die normale Person als ein effizientes und produktives Mitglied der Gesellschaft vor. Die Primärtherapie ist da anderer Ansicht. Postprimäre Patienten sind nicht mehr gewillt, sich unermüdlich anzutreiben. In der Sprache der Primärtherapie treibt der Neurotiker sein Selbst an, so daß es sich schließlich wertvoll, akzeptiert oder geliebt fühlen kann.

Zum Beispiel müssen Primärpsychologen selbst eine Therapie durchmachen, das gehört zu ihrer Ausbildung. Obwohl sie vor ihrer Behandlung bereit waren, dreißig oder vierzig Stunden in der Woche therapeutisch zu arbeiten, sind sie nachher nicht mehr gewillt, eine solche Last auf sich zu nehmen. Sie wissen, daß der Neurotiker seine <Identität> allzuoft aus seinen Funktionen statt aus seinen Gefühlen bezieht; jemand kann Vorsitzender des Elternbeirats oder Präsidentin der zionistischen Frauen­bewegung sein und trotzdem recht krank. Eine Patientin, die die Primärtherapie abgeschlossen hatte, sagte: »Ich hatte mich selbst und alles ringsum immer gut organisiert, um meine tatsächliche Desorganisation nicht zu empfinden. Ich mußte immer weiter funktionieren und planen und im Gange bleiben, sonst wäre ich auseinandergefallen.« Die Funktionen dieser Patientin wurden ihr Leben.

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Viele postprimäre Patienten kommen zu dem Schluß, daß so manches, wovon sie früher geglaubt hatten, daß es getan werden müsse, in Wirklichkeit nicht so dringend ist. Sonntags wird also mit den Kindern gespielt, statt die Garage sauber zu machen. Ein Patient drückte es so aus: »Da ich jetzt weiß, daß ich alles bin, was ich auf der Welt habe, besteht kein Grund mehr, mich um <sie> zu bemühen. Ich nehme mir vor, zu mir selbst nett zu sein und es mir gemütlich zu machen.«

Mit weniger Antrieb (nicht angetrieben zu sein, um Beifall und Liebe zu finden) tut der postprimäre Patient weniger im Sinne von kämpfen. Aber jetzt kann er mehr dafür tun, das Selbst zufriedenzustellen, und infolgedessen vermag er seinem Ehepartner und den Kindern wirkliche Liebe entgegenzubringen.

Postprimäre Patienten tun zwar weniger, aber was sie tun, ist etwas Reales, so daß ihr Beitrag zur Gesellschaft qualitativ nützlich ist. Lehrer zum Beispiel verlangen weniger von ihren Schülern, bringen ihnen aber viel mehr bei. Sie ermöglichen den Schülern, sich zu artikulieren, und versuchen, sie etwas zu lehren, das für ihr Leben von Belang ist (soweit das bei dem heutigen Erziehungs­system möglich ist).

Diese Patienten verkaufen den Leuten keine Dinge, die sie nicht brauchen. Ein Bühnenarbeiter behielt seine Stellung, weil das, was er tat — etwas aufbauen —, real für ihn war. Allerdings hörte er auf, Überstunden zu machen, wenn es sich einrichten ließ, weil er lieber mit seiner Familie zusammen sein wollte. Er verspürte keinen Drang mehr, immer neue Kinkerlitzchen zu kaufen, und er gab das Wetten auf, so daß er sein Geld für vernünftige Dinge ausgeben konnte. Das Geld, das er an Bier sparte, sagte er mir, reichte für einen alljährlichen Urlaub.

Die Frage nach der Motivation ist wichtig, weil so vieles auf der Welt mit neurotischer Motivation betrieben wird. Ein Patient meinte, wenn man die Energie nutzbar machen könnte, die im Neurotiker steckt, dann könnte man Eisenbahnzüge damit antreiben.

Ich erinnere mich, daß ein Patient nach einem seiner letzten Urerlebnisse über eine Stunde lang nicht imstande war, seinen Kopf vom Fußboden hochzuheben. Er war Schwimmbadreiniger und hatte sein ganzes Leben schwer gearbeitet (er pflegte seinen Freunden den neurotischen Gruß zuzurufen: »Schön fleißig?«). Nachdem seine ganze alte neurotische Motivation zerstört war, konnte er keinen Muskel mehr bewegen. Nach der Therapie nahm er einen langen Urlaub, und als er die Arbeit wieder aufnahm, stellte er fest, daß er nicht mehr sechzehn Bäder pro Tag reinigen konnte. Es kam ihm wie ein Wunder vor, daß er das je gekonnt hatte. Die Neurose hatte ihn so daran gewöhnt, müde zu sein, daß er es gar nicht mehr merkte. Er stellte einen Gehilfen an, verdiente weniger Geld, genoß aber sein Leben viel mehr.

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Allzu viele Neurotiker sind produktiv, um sich wichtig vorzukommen, statt das zu tun, was für sie wirklich wichtig ist. 

Nach der Behandlung hörte ein Psychologe auf, bei allen möglichen wissenschaftlichen Gesellschaften Arbeiten einzureichen. Er sagte, diese ganze Energie habe er nicht aufgewandt um des Gedankenaustauschs mit seinen Kollegen willen, sondern um einige Stufen auf der Leiter des Prestiges zu erklimmen.

Die vielleicht dramatischsten Veränderungen bei postprimären Patienten sind physischer Art. Das liegt daran, daß es eine psycho-physische Therapie ist und nicht einfach eine Gesprächstherapie. Zum Beispiel berichtete etwa ein Drittel der ziemlich flachbrüstigen Frauen unabhängig voneinander, daß ihr Brustumfang zunahm; wenn sie einen neuen Büstenhalter kaufen wollten, stellten sie überrascht fest, daß sie eine Nummer größer brauchten. Eine Frau, die von weither mit dem Flugzeug zur Therapie gekommen war, kehrte nach mehrwöchiger Behandlung nach Hause zurück. Ihr erstaunter Mann war überzeugt, daß sie Hormonspritzen bekommen hatte. Ich habe viele dieser Frauen von ihren Ärzten messen lassen, um die von ihnen berichtete Zunahme zu verifizieren; in allen Fällen wurde sie bestätigt.

Andere Anzeichen für erwachsenes Funktionieren wurden berichtet. Zwei Patienten von Anfang Zwanzig berichteten vom ersten Bartwuchs ihres Lebens. Mehrere andere berichteten, daß sie zum erstenmal nach dem Schwitzen einen Körpergeruch hatten. Mehrere Patienten stellten fest, daß ihre Hände und Füße wuchsen. Diese Entdeckungen sind nicht die Folge irgendeiner Suggestion; keinem Patienten gegenüber wird angedeutet, was als Ergebnis zu erwarten ist. Zum Beispiel hatte eine Frau keine Ahnung, daß ihre Hände größer geworden waren, bis sie ein neues Paar Handschuhe anprobierte. Sie brauchte eine Nummer größer.

Die Erklärung für all das muß notwendigerweise spekulativ bleiben, bis physiologische Untersuchungen durchgeführt werden können. Ein Kollege, ein Biochemiker, hat darauf hingewiesen, daß sich das zum großen Teil mit Veränderungen der Hormon­produktion erklären lasse. Diese wiederum können sich schließlich auf einen genetischen Verschlüsselungs­mechanismus in den Zellen auswirken. Er stellt die Hypothese auf, daß infolge der Unterdrückung des Systems und einer Veränderung der Hormon­produktion früh im Leben eine bestimmte genetische Aufeinanderfolge nicht stattgefunden hat; so könne zum Beispiel der Bartwuchs über den Zeitpunkt hinaus, an dem er gewöhnlich eintritt, verzögert werden.

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Nach Ansicht des Biochemikers könnte sich die wechselseitige Beeinflussung des gesamten hormonalen Systems ändern und Veränderungen ermöglichen, die durch Hormonspritzen nicht eintreten würden. Die Urerlebnisse bringen die richtige Wachstumsfolge wieder in Gang. Wir müssen abwarten, ob die Ergebnisse der physiologischen Untersuchung eine stichhaltige Erklärung für die von uns beobachteten Erscheinungen bieten.

Im Zusammenhang mit den hormonalen Veränderungen möchte ich darauf hinweisen, daß jedenfalls bei Frauen, die entweder prämenstruelle Krämpfe oder unregelmäßige Menstruationsperioden hatten, diese Probleme in der Primärtherapie völlig verschwanden.

Frauen, die früher frigide gewesen waren und den Geschlechtsverkehr als schmerzhaft empfunden hatten, stellten fest, daß die Vagina gut gleitfähig ist, manchmal sogar ohne sexuelle Erregung. Eine Frau machte sich schon Sorgen über ihre ständige <Geilheit>, wie sie es nannte. Zum erstenmal in ihrem Leben wußte sie, wie es ist, wenn man Sex wirklich wollte. Vorher war es eine Pflicht gewesen, etwas, das ihr Mann wollte.

Vieles ändert sich bei den Patienten — das Gleichgewicht zum Beispiel. Einer beschrieb es so: »Früher war jeder Schritt, den ich tat, sorgfältig gelenkt und voraussagbar. Und wenn ich jetzt den Fuß hebe, bin ich keineswegs sicher, wo und wie er landen wird. Es ist derselbe Bürgersteig, auf dem ich früher gegangen bin, bevor ich herkam, aber es ist ein ganz anderes Gehen. Ich fühle mich gelockert und spüre, was mein Körper in jedem Augenblick tut. Ich bin kein Roboter mehr.«

Oft berichten postprimäre Patienten, daß sich ihre Koordination völlig geändert hat — wie sie rennen, einen Ball auffangen und werfen. Ein Tennis­turnier­spieler stellte fest, daß er Gegner schlug, die ihn sonst leicht hatten abhängen können. Zum Teil läßt sich das mit der nicht vorhandenen Spannung erklären — der Beseitigung der Spaltung, die Teile seines Körpers und Atmungssystems davon abhielt, koordiniert zu funktionieren. Während eines seiner Urerlebnisse spürte er, wie sein Atem endlich in Gleichklang mit dem Rhythmus seines Körpers kam.

Urerlebnisse rufen nicht intensivere Empfindungen hervor; sie rufen reale Empfindungen hervor, die intensiver zu sein scheinen wegen des vorangegangenen Abstumpfungsprozesses (ebenso wie alles, was mehr als eine reale Empfindung ist, irreal sein muß). Spannung stumpft den sensorischen Apparat ab, so daß nicht nur unser Verhalten neurotisch ist, sondern auch unser Geschmacks- und Geruchssinn. So brauchen manche Neurotiker Gewürze an ihren Speisen, um überhaupt etwas schmecken zu können.

Ein Patient beschrieb die Empfindungsveränderung folgendermaßen: »Ich aß nie, weil ich Hunger hatte. Und ich habe auch nie etwas geschmeckt. Neulich abends aß ich ein auf Holzkohle gegrilltes Steak und stellte fest, daß ich den Holzkohle­geschmack nicht ausstehen kann. Jahrelang hatte ich diese Steaks gegessen und gar nicht gemerkt, wie sie schmecken.« Wenn die Lebensprozesse abgestumpft sind, ist das Leben langweilig.

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Als ich einen fortgeschrittenen Patienten fragte, welche Veränderungen er festgestellt habe, antwortete er: »Mir ist es völlig schnuppe, ob diese Minnesota Twins dieses Jahr den Wimpel gewinnen.« Das war keine schnodderige Bemerkung. Vor der Primärtherapie war er ein >Baseball-Spinner< gewesen, wie er es nannte. Er kannte die Namen von fast allen Ligaspielern, ihre Durchschnittsleistung, wer wohin verschachert wurde usw. Bei ihm war dieses Interesse symbolisches Ausagieren. Er war niemals an irgend etwas beteiligt gewesen, und weil er all die Namen und Erfolge kannte, konnte er das Gefühl haben, an etwas beteiligt zu sein. Außerdem >identifizierte< er sich mit den Twins, weil er unbewußt hoffte, durch sie Sieger zu werden — um die Tatsache zu verbergen, daß er sein Leben lang ein Verlierer gewesen war. Als er seine persönlichen Probleme auf reale Weise löste, brauchte er nicht mehr symbolisch auszuagieren. Es ist zweierlei, ob man sich für eine Mannschaft interessiert oder durch sie lebt.

Ein anderer Patient war auf Fußball versessen. Nach seinen Urerlebnissen kam ihm die phantastische Kampfsituation auf dem Spielfeld sehr deutlich zum Bewußtsein, und er war viel weniger daran interessiert, nachdem sein innerer Kampf aufgehört hatte.

Ein Patient, der Opern schätzte, wurde nach seinen Urerlebnissen ein Rock-and-Roll-Fan: »Das ist handfester, körperlicher«, sagte er. »Jetzt, da ich lebendig bin, kann ich mit diesem Opernkrampf nichts mehr anfangen. Rock ist für mich eine Zelebration des Lebens.«

 

Auch die Intelligenz ändert sich bei postprimären Patienten. Ein Patient drückte das folgendermaßen aus: »Wäre ich gescheit gewesen, als ich klein war, wäre ich gestorben, denn dann hätte ich gewußt, daß sie mich haßten. Ich mußte dumm sein, um zu überleben. Ich schaltete einfach einen Teil meines Gehirns ab. Mir ist aufgefallen, daß ganz kleine Kinder einen aufgeweckten, lebhaften Ausdruck haben, und dann geschieht etwas, das sie verändert. Was geschieht, ist vermutlich, daß sie die Botschaft des Urschmerzes erhalten und sich zwingen, sie nicht zu verstehen.«

Die Arbeit im College fällt diesen Patienten plötzlich leicht. Sie wissen, daß sie zum Teil ein Spiel ist, Pflichtübungen, die durchexerziert werden müssen, und sie tun das ohne Angst.

Sie können sich jetzt artikulieren, denn sie haben endlich ausgesprochen, was sie lange Zeit nicht zu sagen wagten. Sie sind auffassungsfähig — >supergerade< nennen sie es. Das Geradesein zeigt sich nicht nur geistig; sie gehen gerade und nicht mehr geduckt oder zusammengekrümmt.

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Kein Verhalten als solches kann als normal bezeichnet werden, wie sich aus den Bemerkungen mehrerer fortgeschrittener Patientinnen entnehmen läßt. Eine sagte: »Ich kann jetzt bei anderen Leuten Besuche machen, ohne Angst zu haben. Zum erstenmal seit Jahren bin ich gern in Gesellschaft.« Eine andere stellte das Gegenteil fest: »Ich kann jetzt zu Hause bleiben und lesen. Früher war ich immer auf den Beinen, konnte keine Minute stillsitzen. Jetzt bin ich gern allein.«

Der postprimäre Patient hat auch an den bescheidensten Tätigkeiten Spaß. Er genießt das, was er jetzt tut.

Wie steht es mit der Kreativität der postprimären Patienten? Verschwindet sie zugleich mit der Neurose?  

Nein. Niemand verliert die Fähigkeit, zu malen oder zu komponieren. Ändern tut sich nur der Inhalt der Kunst. Wir dürfen nicht vergessen, daß neurotische Phantasie die Symbolisierung dessen bedeutet, was unbewußt ist. So muß sich der Neurotiker auf abstrakte, indirekte Weise offenbaren. Der Inhalt seiner Kunst ist die besondere Art und Weise, wie sich seine Gefühle und Gedanken künstlerisch verbinden, nachdem sie den Urschmerz umgangen haben. Ohne das Hindernis des Urschmerzes wird sich der Inhalt natürlich ändern. Der kreative Akt des Neurotikers ist die Art und Weise, wie er verhindert, daß er um seine Gefühle weiß oder sie vielmehr empfindet. Die künstlerische Perspektive des postprimären Patienten ändert sich; er sieht und hört die Dinge anders. Neurose ist nicht eine Voraussetzung für Kunst.

Wie ist es mit den menschlichen Beziehungen?  

Nach Beendigung ihrer Therapie ging eine Frau mit ihrem Mann, der nicht in Behandlung gewesen war, zum Essen aus. Als er für sie bestellen wollte, ließ sie es nicht zu. Noch schlimmer war, daß sie den Wein ablehnte, den er bestellt hatte, und sich eine Sorte bestellte, die sie mochte. Er wurde wütend und verließ den Tisch. Es gab eine ziemliche Szene, bei der er ihr vorwarf, ihn zu >kastrieren<. Er sagte: »Du willst mich nicht mehr dein Mann sein lassen. Du versuchst, mir meine Männlichkeit zu nehmen.« Aber sie hatte sich nur aus dem Duckmäuser, den ihr Mann brauchte, um sich männlich zu fühlen, in eine Person aus eigenem Recht verwandelt.

Es ist aufschlußreich, daß Ehepaare, wenn beide Partner die Primärtherapie durchgemacht hatten, meistens zusammenblieben. Sie haben keine neurotischen Wünsche nach einem anderen Menschen, weil sie ihre wahren Bedürfnisse empfunden haben. Es gibt einfach keinen Grund, warum sie miteinander nicht auskommen sollten. Sie stellen keine irrealen Ansprüche aneinander, weil sie nicht irreal sind. Beide Partner werden lebensfähige Menschen, die es zufrieden sind, zu leben und leben zu lassen.

Mit irrealem Verhalten können sich postprimäre Patienten nicht abfinden, und deshalb gehen sie vielen alten Freunden aus dem Weg. Sie sind untereinander viel zusammen, und Eheschließungen innerhalb der Gruppe sind häufig. Die Freundschaften sind nicht tyrannisch; sie sind zwanglos.

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Diese Zwanglosigkeit zeigt sich auch in den Gesichtern. Es sind nicht mehr diese unnatürlichen Masken, um Gefühle zu verbergen, diese ängstlichen Augen, die verkniffenen Lippen. Die Patienten setzen nicht ein Gesicht für die Welt auf, und deshalb haben sie ein natürliches Aussehen. Sie stellen fest, daß sie nicht mehr so viel Geld brauchen wie früher. Sie essen weniger, gehen weniger aus, leben bescheidener. Leidenschaftliche Leser, besonders jene, die Romane verschlangen, schränken ihre Lektüre ein. Eine Patientin sagte, sie habe sich so viel mit Belletristik abgegeben, weil das für sie ein Ersatzleben gewesen sei, und jetzt habe sie nicht mehr das Bedürfnis danach.

Das Leben der postprimären Patienten ist jetzt viel weniger reglementiert. Sie essen, wenn sie Hunger haben, kaufen Kleider, wenn sie sie wirklich brauchen, haben Sex, wenn sie wirklich sexuell sind und nicht in Spannung. Das bedeutet weniger Sex, aber sehr viel erfreulicheren. Fast alle Patienten hören mehr Musik als früher. Als ich einige der fortgeschrittenen Patienten fragte, womit sie sich meistens beschäftigen, sagten sie: »Wir sitzen viel herum, spannen aus und hören Musik.« Viele von ihnen fügten hinzu, daß es eine immerhin recht bedeutende Leistung sei, herumsitzen zu können, ohne zu planen, wo man als nächstes hingehen will.

Ist ihr Leben langweilig? 

Nach neurotischen Maßstäben, ja. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß angeregt sein beim Neurotiker bedeutet, durch Spannung erregt zu sein. Das heißt, der Neurotiker ist ständig in einem inneren Reizzustand, und oft manipuliert er sein Leben, damit es diesem inneren Zustand entspreche. Er kann nicht stillsitzen, deshalb plant er so viele Unternehmungen, die anregend zu sein scheinen, aber oft nicht mehr sind als Auslaßventile für seine Spannung. Tatsächlich manövriert sich der Neurotiker oft in immer mehr Aktivitäten hinein, so daß er schließlich sogar fühlen kann. Vielleicht fliegt er, betreibt Sport­tauchen, reist, geht zu Parties und fühlt sich einen Augenblick >obenauf<. Wenn die Aktivitäten aufhören, ist er wieder voll Spannung. Die Aktivitäten sind anregend für ihn, weil sie einen Abzugskanal für Spannung bieten, und das hält der Neurotiker für einen höchst vergnüglichen Zustand.

In einer Beziehung ist der postprimäre Patient ein Mensch neuen Typs. Zum Beispiel ist er niemals mißgestimmt. Stimmungen sind Abstufungen von Spannung, von unbezeichneten, unbegriffenen Gefühlen. Der fortgeschrittene Patient ist weder himmelhoch jauchzend, noch zu Tode betrübt. Er fühlt einfach und weiß, was das Fühlen bedeutet. Diese Leute haben eine ganz deutliche Ausstrahlung: »Ich bin, was ich bin, und du darfst sein, was du bist.« Es ist schwierig, einer irrealen Person in die Augen zu sehen; man hat das Gefühl, es mit jemandem zu tun zu haben, der nicht da ist. Postprimäre Patienten hat man gern um sich, denn man hat das Gefühl, mit realen Menschen zu reden.

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Der postprimäre Patient empfindet das Alleinsein auf neue Weise. Einer, dessen Therapie zwei Jahre zurücklag, äußerte sich wie folgt: »Allein? Dauernd, aber das stört mich nicht mehr. Vor der Therapie war ich wirklich allein — nur ich und mein Phantom (Gott), und jetzt ist es fort. Aber nun habe ich mich. In diesem Sinne habe ich also Gesellschaft — reale Gesellschaft, und mehr, nehme ich an, hat keiner von uns. Frau und Freunde, gewiß, die sind irgendwo <da>, aber nie in dem Maße, wie ich für mich da bin.«

Der postprimäre Patient braucht keinen Alkohol, wenn er mit Menschen zusammen ist oder lachen möchte (wie so viele Neurotiker). Er ist eine bewußte Person und braucht nichts, um diese Bewußtheit abzutöten: Es ist gut so, wie es ist. Der postprimäre Patient ist sehr erleichtert, daß es für ihn keine Zwänge mehr gibt, und entzückt, daß er seine Allergien, Kopf- und Rückenschmerzen und anderen Symptome los ist. Er hat sein Leben wirklich in der Hand.

Über die berufliche Seite habe ich schon gesprochen. Es stimmt, daß viele postprimäre Patienten den Beruf wechseln. Ein Patient sagte: »Früher lebte ich für meinen Beruf; jetzt lebe ich für mich.« Im allgemeinen ist es ihre Einstellung, etwas zu finden, das sie gern tun möchten, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es eine lohnende Karriere ist. Einer fand es reizvoller, Flickschuster zu sein, statt sich in einer Versicherungs­gesellschaft hochzuarbeiten. Er hatte immer gern mit den Händen gearbeitet, aber da er den Ehrgeiz hatte, Angestellter zu sein (er stammte aus einer richtigen Mittelstandsfamilie), konnte er es nicht über sich bringen, körperliche Arbeit zu leisten. Als er auf Stellungssuche war, fand er es, wie er mir sagte, sehr erholsam, zum erstenmal in seinem Leben ohne Beschäftigung zu sein.

Ein Übermaß an Arbeit, unrealistische, intellektuelle Ambitionen sind nicht Sache des postprimären Patienten. Vielleicht ist das eine Reaktion auf eine Gesellschaft, in der Selbstaufopferung verherrlicht wird. Dennoch werden nicht alle Karrieren über Bord geworfen. Ein Student der Zahnmedizin wollte sein Studium fortsetzen, und einige Lehrerinnen blieben im Schuldienst, während andere den Beruf aufgaben. Es hängt alles davon ab, wie neurotisch die Motivation für die Berufswahl zuerst einmal gewesen war.

Dieser Mangel an Übereifer bei beruflichen Dingen ist noch auf einen anderen Umstand zurückzuführen. Jahrelang, vielleicht jahrzehntelang sind Leib und Seele des Neurotikers zermürbt worden. Er braucht Zeit, um sich wieder zu fangen. Er braucht eine Rekonvaleszenzzeit, nicht nur, um sich von der Neurose zu erholen, sondern auch von der Therapie, die kein Kinderspiel ist. Plötzlich nicht mehr neurotisch zu sein, nachdem man jahrelang in irrealer Verfassung auf Erden wandelte, ist ein ganz neues Erleben. Man braucht Zeit, es auszukosten.

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     Die Beziehung zu den Eltern     

 

Eine der eher voraussagbaren Veränderungen bei postprimären Patienten ist das Verhältnis zu ihren Eltern. 

Wenn Sohn oder Tochter, gleich welchen Alters, aufhören, um die Liebe der Eltern zu kämpfen, dann beginnen die Eltern ihrerseits, um die Liebe des Kindes zu kämpfen. Je normaler sich das Kind verhält, um so verzweifelter sind die Eltern. 

Wir dürfen nicht vergessen, daß das neurotische Kind der Abwehrmechanismus der Eltern ist. Es diente dazu, ihren Urschmerz zu unterdrücken. Es war ihre Folie, so daß sie sich umsorgt fühlen konnten. Es war der Sohn, den sie als einzigen schlechtmachen konnten, um sich überlegen zu fühlen. Es war die pflichtbewußte Tochter, die ihre Mutter pflegte. Wenn kein Kind sie anruft, ihnen schreibt, sie besucht, dann beginnen die Eltern ihren eigenen Urschmerz zu empfinden, ihr unerfülltes, leeres Leben. So nehmen sie den Kampf auf, um das Kind wieder zu dem zu machen, was es einst gewesen war. Denn in Wirklichkeit ist der neurotische Vater oder die neurotische Mutter das kleine Kind, das Rat und Trost braucht und all das, was es von seinen eigenen Eltern nicht erhalten hat.

Wie kommt es, daß Kinder die Symptome neurotischer Eltern werden? Warum lassen es die Eltern nicht an anderen aus? 

Weil ihre Kinder am abwehrlosesten sind und die Eltern ihnen gegenüber weniger Abwehr brauchen. Das bedeutet, daß ein Elternteil seine alten, verdrängten Gefühle an einem Kind auslassen wird, das machtlos ist und keinerlei Bedrohung darstellt. 

Ich glaube, wenn man herausfinden will, wie ein Mensch wirklich ist, dann sollte man dessen Verhältnis zu seinen Kindern unter die Lupe nehmen. Waren die Eltern als Kinder bei fast allem schlechtgemacht oder ins Unrecht gesetzt worden, dann werden sie vielleicht versuchen, Recht zu bekommen (indem die eigenen Kinder ins Unrecht gesetzt werden) oder sich tüchtig zu fühlen (indem die Kinder schlechtgemacht werden). Oder es wird ein anderer, aber ebenso verhängnisvoller Weg eingeschlagen: das Kind wird zu Leistungen angetrieben, damit sich die Eltern wichtig vorkommen können. 

Ob es nun durch harte Kritik oder durch freundliche, aber stetige Suggestion geschieht, das Ergebnis ist in jedem Fall, daß ein hilfloses Kind als Werkzeug dient, um alten elterlichen Verletzungen Genüge zu tun. Zuletzt erkennt das Kind seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr (spaltet sie ab), weil es so dringend wünscht, die Bedürfnisse seiner Eltern zu befriedigen.

Den Eltern von postprimären Patienten widerfahren dramatische Dinge. 

Meist sind sie deprimiert, verärgert oder werde krank. Die Mutter einer erwachsenen Frau wurde ernstlich krank und mußte mit Beschwerden, die nicht diagnostiziert werde konnten, ins Krankenhaus eingeliefert werden — bis ihre Tochter an ihr Bett eilte. Dann verschwanden die Beschwerden.

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Die Mutter eines effeminierten Mannes war wütend über seine Aggressivität und verwunderte sich laut, so daß er es hören konnte: »Was ist mit meinem süßen Jungen geschehen?« Eine andere Mutter verfiel in schwere Depression, weil ihre Tochter sie nicht mehr jede Woche besuchte und beschlossen hatte, in einer anderen Stadt zu studieren. Diese Mutter hatte ihr Leben durch ihre Tochter ausgelebt, und der Gedanke, nun allein zu sein, warf sie um.

Es wird äußerst schwierig für den postprimären Patienten, all die Irrealität der Eltern zu ertragen, und er hält sich lieber von ihnen fern, um dem unvermeid­lichen Konflikt aus dem Weg zu gehen. Neurotischen Eltern liegt nichts an ihren Kindern, so wie sie sind, denn sie formen sie zu dem, was sie brauchen, um ihren eigenen Schmerz zu ersticken. Ein Patient sagte: »Ich war ein Waisenkind mit Eltern. Sie waren Eltern für das erfundene, geheuchelte Ich, aber niemand kümmerte sich um mein reales Ich.«

Die Schwierigkeiten beginnen mit den Urerlebnissen, wenn der Patient zuerst herausfindet, was er will, und das ist leider oft nicht das, was die Eltern wollen. Es ist eine tragische und schwierige Zeit für Patienten und Eltern. Der Patient wird nicht absichtlich grausam. Er konfrontiert die Eltern nicht mit ihren Sünden. Das wäre nur wiederum die Hoffnung, daß sie ihr Unrecht einsehen und liebevolle Eltern werden, was nicht geschehen wird. Der Patient kann sie nur sein lassen, was sie sind. Er wird sein eigenes Leben führen, und das kann jeder von uns tun. 

Ich entsinne mich einer Frau, die ein ganzes Leben damit verbrachte, Vermittler zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater zu sein, die sich ständig stritten. Als sie die Last, Friedensstifterin zu sein, nicht mehr auf sich nahm, stellte sie fest, daß ihre Eltern zum erstenmal miteinander auskamen.

Manchmal werden Kinder für ihre Eltern wertvoller, wenn die Eltern um ihre Liebe kämpfen müssen. Solange Kinder als selbstverständlich angesehen werden konnten, waren sie nicht hochgeschätzt. Wenn der postprimäre Patient real und selbständig wird, stellt er fest, daß seine Eltern ihn öfter anrufen und besuchen. Läßt ihr Kind, das vielleicht ein vierzigjähriger Mann ist, die Eltern ihr eigenes Leben führen, sei es nun gut oder schlecht, dann begreifen sie nicht, daß das Kind ihnen tatsächlich reale Liebe entgegenbringt. Vor der Therapie war für die Eltern Quantität der Maßstab für >Liebe<: wie viele Einladungen, wie viele Telefonanrufe und wie teuer die Geschenke waren. Wenn sich das Kind nicht mehr mit Quantitäten abgibt, sondern die Qualität des Gefühls anbietet, dann wissen neurotische Eltern oft nicht, wie sie reagieren sollen, denn die Gefühle des Kindes haben nie für sie gezählt.

Der postprimäre Patient kann, wenn er will, Beziehungen zu seinen Eltern unterhalten, die nicht im Zeichen des Kampfes stehen. Sobald er sich selbst akzeptiert, kann er auch seine Eltern akzeptieren. Er erkennt, daß es einer lebenslänglichen Verurteilung gleichkommt, neurotisch agieren zu müssen, und daß niemand das freiwillig tut. Er hat volles Verständnis für das Leid seiner Eltern, weil er dergleichen selbst durchgemacht hat. 

Er weiß, daß auch sie Opfer waren.

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Es ist eine schwierige Aufgabe, Vater oder Mutter zu sein, denn es bedeutet, einen Menschen so zu formen, daß er selber wird und nicht das, was die Eltern brauchen. Unbefriedigte Bedürfnisse der Eltern werden bestimmen, wie weit sie kreative Eltern sein können. Es spielt keine Rolle, ob ein Vater Psychologe oder Psychiater ist; wenn die verschütteten Bedürfnisse noch da sind, wird das Kind leiden. Wieviel das Kind leiden wird, hängt davon ab, wieviel die Eltern bei sich auslöschen mußten, um mit ihren Eltern zurechtzukommen. Die Eltern werden in dem Kind ihre eigenen Bedürfnisse und die Hoffnung sehen, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Das Kind wird nicht als das gesehen, was es ist — und das beginnt schon mit der Namensgebung. Ein Kind das Parzival getauft wird, repräsentiert bereits gewisse Erwartungen, die die Eltern schon bei seiner Geburt hegten.

Nun kann ein Vater oder eine Mutter eine gute Seele sein und sich viel Mühe mit den Kindern geben, aber aufgrund alter Bedürfnisse ständig >quasseln< müssen. Eine Patientin hatte ein Urerlebnis über eine solche Mutter: »Hör auf zu reden! Gib meinem Verstand mal Ruhe, damit ich meine eigenen Gedanken denken kann!« Diese Mutter redete so viel, daß das Kind selbst gar nicht! zum Denken kam. Wenn mal einen Augenblick Stille eintrat und das Kind aussah, als ob es denke, wollte die Mutter fast immer sofort wissen, was das kleine Mädchen dachte.

Weil neurotische Eltern in ihrem Kind ihre eigenen Bedürfnisse sehen, leidet dasjenige Kind am stärksten, dessen Eltern die meisten Bedürfnisse haben. Der zerstörerische Elternteil ist nicht der verrückte Sonderling, sondern derjenige, der für sein Kind Ambitionen hat. Diese Ambitionen werden nicht zulassen, daß das Kind es selbst ist; es wird ständig versuchen müssen, die Bedürfnisse dieses Elternteils zu befriedigen. Der destruktive Elternteil ist, kurz gesagt, derjenige, mit dem das Kind >handeln< mußte: »Ich werde das tun, wenn du das tust.« Das ist ausbedungene Liebe, und die Bedingung für Liebe ist, daß das Kind neurotisch wird.

Auch der postprimäre Patient wird wieder Verletzungen erleiden, besonders durch die Gewalttätigkeit und das Leiden, die er ringsum sieht, aber er wird nicht wieder neurotisch werden. Was ihm widerfährt, wird sich auf ihn auswirken, aber er wird diese Erlebnisse nicht abspalten. Kurz gesagt, er wird mit Gefühl und nicht mit Spannung reagieren. Er ist ein verletzlicher Mensch, unmittelbar beeinflußt durch Stimuli auf der Welt, aber er kann nicht von ihnen erdrückt werden, denn er hat immer sich selbst.

Ich glaube, er wird sich eine neue Welt schaffen, um in ihr zu leben — eine reale Welt, die darauf angelegt ist, die realen Probleme ihrer Bewohner zu lösen.

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