15 Das Wesen der Liebe
Arthur Janov 1970
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Der Begriff Liebe ist nicht gerade neu; es mag nützlich sein, ihn unter dem Gesichtspunkt der Primärtherapie zu betrachten. Im Grunde bedeutet Liebe, für das Fühlen aufgeschlossen und frei zu sein und anderen diese Freiheit auch zuzugestehen. Sie bedeutet, daß die anderen natürlich heranwachsen und sich natürlich artikulieren dürfen. Man selbst zu sein und andere natürlich sein zu lassen, ist wesentlich.
Die Primärtheorie definiert Liebe folgendermaßen: alle sein lassen, was sie sind. Das kann nur geschehen, wenn alle Bedürfnisse befriedigt werden.
Miteinbegriffen in der Definition von Liebe ist das Vorhandensein einer realen Beziehung zwischen sich liebenden Menschen. Schließlich kann man jemanden auch er selbst sein lassen, indem man ihn ignoriert, aber die Reaktion auf einen anderen ist ein wesentlicher Bestandteil der Liebe. Wir dürfen nicht vergessen, daß jemanden wirklich er selbst sein zu lassen bedeutet, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist die Aufgabe liebevoller Eltern. Später werden wenige Bedürfnisse zu befriedigen sein, und Liebe kann dann ein echtes gegenseitiges Geben sein.
Für den Neurotiker bedeutet Liebe leider, daß seine irrealen Bedürfnisse (in Form von Wünschen) befriedigt werden. Sie bedeutet Geschenke oder viele Telefonanrufe oder andere <Beweise> unvergänglicher Zuneigung. Der Neurotiker fühlt sich ungeliebt, wenn seine kranken Bedürfnisse unberücksichtigt bleiben. Welches bessere Beispiel dafür gäbe es als das Leiden eines homosexuellen Mannes, den sein Geliebter verlassen hat?
Liebe ist Fühlen. Sie ist da, wenn zwei Menschen sich unterhalten, miteinander Kaffee trinken oder ins Bett gehen. Wenn kein Gefühl da ist (das heißt, wenn das Fühlen blockiert oder verborgen wird), können Neurotiker sich all diesen Aktivitäten hingeben ohne einen Funken Liebe. Statt dessen wird >ausgesaugt< (wie es meine Patienten ausdrücken), um von irgend jemandem irgend etwas zu bekommen, das die innere Leere füllt.
Liebe früh im Leben bedeutet, daß die primären Bedürfnisse befriedigt werden. In den ersten Monaten und Jahren bedeutet sie, daß das Kind viel auf den Arm genommen und gestreichelt wird. Das Kind weiß nicht, daß man das <Liebe> nennt, aber es leidet, wenn sie fehlt. Körperlicher Kontakt ist unerläßlich für Kinder.
Ohne körperlichen Kontakt läßt sich Liebe nicht zeigen.
Es reicht nicht, wenn ein Kind <weiß>, daß es von Eltern, die nicht aus sich herausgehen können, irgendwie geliebt wird; es muß es fühlen. Wird dieses Bedürfnis nicht erfüllt, dann ist keine Liebe da, wieviel verbale Liebesbeteuerung auch abgegeben wird. Der Vater, der so schwer arbeitet, daß er seine Kinder kaum je sieht, wird es zwar damit begründen, er arbeite für sie, aber wenn er keinen Kontakt mit ihnen hat, wenn er sich ihnen entzieht, dann müssen wir annehmen, daß er zu seiner eigenen Entlastung arbeitet. Wenn ein Kind Vater oder Mutter braucht und diese meistens nicht da sind, weil sie arbeiten, dann werden die Bedürfnisse des Kindes nicht befriedigt.
In Heimen aufwachsende Säuglinge, wo ihnen wenig Liebe oder persönliche Aufmerksamkeit zuteil wird, entwickeln sich zu verflachten und abgestumpften Persönlichkeiten. Sie haben etwas Apathisches oder Lebloses an sich, das sie auch als Erwachsene behalten. Diese Kinder tun automatisch das, was sie vor dem Liebesmangel schützt — sie betäuben sich gegen weiteren Schmerz. Sie ziehen sich in sich selbst zurück und schließen sich ab.
Experimente mit Hunden, die isoliert und ohne physischen Kontakt mit anderen Hunden oder Menschen aufgezogen wurden, haben gezeigt, daß diese Hunde auf die Dauer labil und unreif waren. Sie wurden, als sie ausgewachsen waren, <kalt> und <hart>, waren weitgehend asexuell und konnten es nicht lernen, auf Freundlichkeit zu reagieren. Wieviel Freundlichkeit ihnen später auch zuteil wurde, ihr Zustand schien sich nicht zu ändern. Zu denselben Schlußfolgerungen gelangte man bei Affen, die isoliert aufwuchsen.
Bei den mittlerweile berühmt gewordenen Experimenten von Harlow wurden Affen in drei Gruppen eingeteilt; eine Gruppe wurde in völliger Isolierung aufgezogen, eine zweite Gruppe bekam Stoffpuppen-Mutter, und die dritte Gruppe hatte <Mütter>, die aus Draht und langen Nägeln hergestellt wurden*. Harlow stellte fest, daß die isolierten Affen am stärksten litten. Sie schienen unfähig, Liebe zu geben oder zu empfangen. Diejenigen mit den Stoffpuppen-Müttern schienen nicht schlechter dran zu sein als Affen mit richtigen Müttern. Sie fraßen ebenso viel, zeigten ebenso wenig Ängste, waren geselliger und bereiter, eine fremde Umgebung zu erforschen. Harlow betonte die Bedeutung des körperlichen Kontakts. Wenn ein Affe eine Stoffmutter in den Arm nehmen und sich an ihr festhalten konnte, waren die Bande der Liebe zwischen ihnen ebenso stark wie zwischen einem kleinen Affen und seiner richtigen Mutter.
Wir könnten aus diesen Experimenten den Schluß ziehen, daß das, was in den ersten Lebensmonaten Liebe genannt wird, sich auf Berühren und warmen, körperlichen Kontakt konzentriert. Ein <ungeliebter> Säugling mag derjenige sein, der nicht genug berührt wird.
* Harry F. Harlow, »Love in Infant Monkeys«, Scientific American, Bd. 200, Nr. 6 (Juni 1959), S. 68-74.
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Frühes Liebkosen ist wichtig, insbesondere wenn wir bedenken, daß viele unserer Kinder seit Jahrzehnten nach <Büchern> großgezogen wurden. Die Eltern haben auf ihre Kinder nach einer Vorschriftentabelle reagiert, statt sich nach ihren Gefühlen zu richten. Sie haben die Säuglinge nach der Uhr gefüttert und nicht dann, wenn das Kind vor Hunger schrie, und sie haben es nicht in den Arm genommen, wenn es weinte, weil sie Angst hatten, es zu <verwöhnen>.
Ratgeber für Kindererziehung waren in den letzten Jahrzehnten beeinflußt durch die Schriften der frühen behavioristischen Psychologen, die offenbar der Meinung waren, daß ein Kind, um es auf eine rauhe, harte Welt vorzubereiten, nicht verzärtelt und jedesmal <geliebt> werden sollte, wenn es weint. Jetzt erkennen wir, daß Eltern ihren Kindern für das Leben nichts Besseres mitgeben können, als sie in den Arm zu nehmen, zu berühren und zu streicheln.
Aber dabei kommt es nicht nur auf das Tun an; auch das Fühlen ist wichtig. Wenn ein Elternteil in Spannung und nervös ist und das Kind unsanft und schroff behandelt, wird das Kind leiden; aber wenn man sich überhaupt mit ihm beschäftigt, dann wird selbst bei <schlechter Behandlung> der Schaden für das Kind nicht unwiderruflich und total sein.
Ein kleines Kind weiß, wenn es naß, hungrig oder müde ist — und wenn es Schmerzen hat. Wenn man es ihm behaglich macht, könnten wir sagen, es erlebt Liebe. Liebe ist das, was den Schmerz beseitigt. Wenn das Kind herumtasten, am Daumen lutschen, nach Mutter grapschen darf, dann können wir das Liebe nennen. Wenn ihm all das verwehrt wird, wenn es nicht in den Arm genommen und nicht mit ihm gesprochen wird, dann wird sich das Kind unbehaglich fühlen und in Spannung sein. Man könnte sagen, daß Liebe und Urschmerz polare Gegensätze sind. Liebe stärkt das Selbst; Urschmerz unterdrückt es.
Berühren und In-den-Arm-Nehmen sind nicht die ganze Liebe. Wenn es einem Kind verweigert wird, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wenn es einen Teil von sich versperren muß, dann wird es trotz aller Liebkosungen seiner Eltern immer noch sich ungeliebt fühlen. Ich kann die Wichtigkeit der ungehinderten Gefühlsäußerung nicht genug betonen, denn sie mag das Schicksal des Kindes für den Rest seines Lebens bestimmen. Ein paar Umarmungen oder <Du weißt, wie sehr wir dich lieben> können diese Verweigerung nicht wettmachen.
Weil das Fühlen ein Ganzes ist, halte ich es nicht für möglich, manche Gefühle zu unterbinden und zu erwarten, daß andere total zum Ausdruck kommen; was immer das neurotische Kind später fühlt, wird unscharf und gedämpft sein. Verweigert man einem Kind Zorn, wird sich das unweigerlich darauf auswirken, wie glücklich oder geliebt es sich fühlen kann.
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Kein späterer Einfluß — eine neue Stellung, unzählige <liebevolle> Menschen — werden, glaube ich, die frühe Deprivation aufheben — es sei denn, sie wird mit dem ursprünglichen Gefühl, das verleugnet worden war, wiedererlebt.
Der Neurotiker verbringt einen gut Teil seines Lebens als Erwachsener damit, seinen Urschmerz mit neuen Freundinnen, Liebschaften und Flirts zu verdecken. Je mehr Freundinnen und Affären er hat, um so unwahrscheinlicher ist es paradoxerweise, daß er fühlen kann; die Jagd erscheint endlos, denn damit er sich geliebt fühlen kann, muß zuerst der alte Urschmerz des Nicht-Geliebt-Seins in aller Intensität empfunden werden.
Weil Liebe bedeutet, das Selbst zu fühlen, können wir sie nicht auf jemand anderen übertragen. Wenn jemand sagt: »Du hast mich dazu gebracht, daß ich mich als Frau fühle«, oder »Bei dir fühle ich mich geliebt«, dann bedeutet das gewöhnlich, daß der Betreffende nicht fühlen kann und Akte und Symbole von außerhalb braucht, um sich selbst zu überzeugen, daß er <geliebt> wird. Liebe ist nicht etwas, das man jemandem gibt, damit sein Tankanzeiger auf <voll> steht. Auch können wir ebensowenig liebeleer wie gefühlsleer werden. Liebe ist nicht etwas, das stückchenweise aufgeteilt werden kann, und läßt sich nicht nach besonderen Merkmalen wie <reife Liebe> oder <unreife Liebe> aufgliedern.
Der ältere Neurotiker wird vielleicht seine unvergängliche Liebe verbal bekunden, aber wenn das Gefühl verklemmt ist, sind Liebesbeteuerungen meist bedeutungslos. Außerdem sind diese verbalen Liebesbeteuerungen gewöhnlich umgemodelte Bitten um Befriedigung dringender Bedürfnisse. Fühlende Menschen brauchen selten verbale Zusicherungen. Nichtfühlende Menschen scheinen sie dauernd zu brauchen.
Was der Neurotiker in der Liebe sucht, ist das Selbst, das nie sein durfte. Er will jemand besonderen, der ihn zum Fühlen bringen kann. Unter Liebe wird er immer das verstehen, was er entbehrt hat und was ihn daran hindert, ein Ganzes zu sein. Manchmal ist es körperliches Berühren, das er braucht, und er wird vielleicht versuchen, aus Sex Liebe zu fabrizieren — <Liebe zu machen>, wie es auf englisch und französisch heißt. Manchmal ist die Suche ein Streben nach Schutz; in anderen Fällen das Bedürfnis, verstanden und angesprochen zu werden.
Das Dilemma des Neurotikers ist, daß Liebe zwar nicht mehr ist als die ungehinderte Gefühlsäußerung des Selbst, daß er aber sein fühlendes Selbst aufgeben mußte, um sich als Kind von seinen Eltern geliebt zu fühlen. Der Definition nach muß der Neurotiker glauben, daß er entweder geliebt wird oder geliebt werden wird; sonst würde er den neurotischen Kampf nicht fortsetzen. Kurz, ebenso wie Harlows dritte Affengruppe hält das neurotische Kind durch seinen Kampf die Illusion der Liebe aufrecht, damit es nicht zu sehen braucht, daß nur Draht und Nägel da sind.
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Wenn ein Kind mit sechs Jahren der Wahrheit und der Hoffnungslosigkeit ins Auge sehen müßte, ist es fraglich, ob es kämpfen würde. Die Verheißung der Liebe, implizit und explizit, läßt das Kind offenbar lieber weiter hoffen, statt der Realität seines jungen Lebens ins Auge zu sehen. Es wird vielleicht ein Leben lang erwartungsvoll dem entgegensehen, was nicht nur nicht existiert, sondern niemals existiert hat - der Liebe seiner Eltern. Vielleicht wird es sich als Komiker aufspielen, um seine Eltern zu unterhalten, als Gelehrter, um ihnen Eindruck zu machen, oder als Invalide, um etwas Fürsorglichkeit hervorzurufen. Eben dieses Schauspielern verhindert Liebe, denn das Kind verdeckt damit, wie es eigentlich handeln und fühlen würde.
Nach meinen Beobachtungen erschafft der Neurotiker seine frühe liebeleere Situation später im Leben von neuem, um dasselbe Drama mit einem hoffentlich von Liebe erfüllten Ausgang zu Ende zu spielen. Er heiratet nicht einfach deshalb eine Mutterfigur, weil er seine Mutter will. Er will eine liebevolle Mutter, aber er begreift seine Liebe nicht gleich. Zuerst muß er sein Ritual erfüllen. Vielleicht findet er eine gefühlskalte Frau wie seine Mutter und wird versuchen, etwas Warmherzigkeit aus ihr herauszuholen. Oder eine Neurotikerin findet jemanden, der so grob und ungehobelt ist wie Vater, und versucht, ihn gütig und freundlich zu machen. Das ist symbolisches Ausagieren. Wenn jemand dieser Art mit einem wirklich liebevollen Menschen zu tun hätte, müßte er ihn aufgeben, denn da wäre immer noch dieses alte nagende Gefühl im Inneren, nicht geliebt zu werden. Kurz, wenn er einen warmherzigen Menschen findet, dann würde das den symbolischen Kampf, um endlich die alten Gefühle aufzulösen, verhindern. In diesem Sinne bedeutet jetzige Liebe und Warmherzigkeit, daß der Urschmerz darüber, daß man die alte Liebe nicht bekommt, empfunden wird.
Selbst in seinen Träumen erschafft der Neurotiker den Kampf. Oft ist der Weg zu einem geliebten Menschen mit Hindernissen übersät. Der Träumer wird vielleicht Berge erklimmen oder durch einen Irrgarten gehen, und dennoch erreicht er das <Land der Liebe> nie ganz.
Weil ihm seine eigenen Gefühle nie erlaubt waren, glaubt der Neurotiker oft, daß Liebe irgendwoanders bei jemand anderem zu finden sei. Er kann selten verstehen, daß sie in ihm selbst zu suchen ist. Ich glaube, seine hektische Suche ist ein Versuch, zu sich selbst zu kommen. Die Schwierigkeit ist gewöhnlich, daß er nicht weiß, wie. Er hat keine Möglichkeit, an seine Gefühle heranzukommen. In diesem Sinne ist also das Streben nach Liebe nicht mehr als das Streben zu >sein<, zu fühlen. Die Verzweiflung, die Verfolgung, die Reise zu neuen Orten sind oft der Versuch, diesen bestimmten Jemand zu finden, der ihn dazu bringen wird, etwas zu fühlen. Leider vermag das nur der Urschmerz. Und so sieht man, unendlich oft wiederholt, dasselbe traurige Drama — ein drittklassiges Stück mit einem monotonen Text, unzulänglichen Schauspielern und ohne Happy End.
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Ich glaube, der Kampf wird geführt, damit der Betreffende schließlich, und sei es auch nur ersatzweise, die kleine Jungen- oder kleine Mädchenliebe bekommen kann, die er vor Jahren brauchte und nicht bekam. Was er nicht will, ist Erwachsenenliebe in der Gegenwart. Selbst wenn sie angeboten wird, wird sie offenbar mit Rücksicht auf den Kampf vermieden. In der Primärtheorie konzentriert sich also der Begriff Liebe auf die Tatsache, daß es die Suche nach etwas ist, das möglicherweise schon vor Jahrzehnten fehlte. Der Neurotiker wird dazu neigen, alles als Liebe zu definieren, was dieses Bedürfnis befriedigt. Vielleicht ist das der Grund, warum es so viele unterschiedliche Definitionen für Liebe gibt — es gibt so viele Arten von Bedürfnissen.
Leider würde sich nichts ändern, auch wenn die Eltern des Neurotikers sich plötzlich in liebevolle, verständnisvolle Menschen verwandelten. Der Neurotiker kann diese Liebe später im Leben nicht brauchen, denn auch sie würde nur ein Ersatz für das sein, was vor Jahren zwischen dem Kind und lieblosen Eltern geschah. Das Gefühl, ungeliebt zu sein, hat Priorität.
Das kleine unglückliche Kind versucht mit seinem neurotischen Verhalten, mit seiner Aggression, seinen Krankheiten und seinen Mißerfolgen seinen Eltern zu sagen: »Liebt mich, dann brauche ich nicht ein Leben der Lüge zu führen.« Wie wir gesehen haben, ist die Lüge ein unbewußter Pakt zwischen seinen Eltern und ihm, wobei das Kind eingewilligt hat, sich selbst gegenüber unaufrichtig zu sein, um das zu sein, was die Eltern erwarten. Es hat eingewilligt, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, wenn sie später die seinen befriedigen und es der Notwendigkeit, zu lügen, entheben.
Doch solange es die Lüge, die Höflichkeit, die Hilflosigkeit, die Hilfsbereitschaft, die Selbständigkeit usw. aufrechterhält, sind sowohl das Kind als auch die Eltern überzeugt, daß sie sich gegenseitig lieben. Das Kind beendet die Lüge nicht, weil es fürchtet, dann >ungeliebt< zu sein. Später im Leben, wenn etwas geschieht, das die Lüge in Frage stellt, fühlt sich der Betreffende seltsamerweise ungeliebt. Der Primärtherapeut jedoch weigert sich, vielleicht im Gegensatz zu einigen anderen Therapeuten, bei der Lüge mitzumachen. Er duldet keine Lüge, so daß dem Patienten nichts anderes übrig bleibt, als sich ungeliebt zu fühlen.
Der Neurotiker sieht in der Regel nicht klar. Er ist zu der Überzeugung gelangt, daß Liebe das ist, was seine lieblosen Eltern ihm gaben. Wenn sie sich immer für ihn >interessiert< haben, dann wird er vielleicht durch Krankheit oder Versagen das Interesse provozieren. Dadurch, daß er Reaktionen provoziert, die dem Verhalten seiner Eltern entsprechen, gelingt es dem Neurotiker, den Mythos von Liebe aufrechtzuerhalten. Oft ist er so in den Kampf verstrickt, den Mythos zu erhalten, daß er sein Unglück gar nicht empfindet. Zum Beispiel kann er zur Therapie kommen und sagen: »Meine Eltern waren nicht vollkommen. Das ist keiner. Aber sie liebten mich auf ihre besondere Weise.«
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Ich glaube, diese <besondere Weise> machte das Kind zu etwas Besonderem, nämlich neurotisch. Er fährt vielleicht fort: »Vater war ein strenger Zuchtmeister, hatte nicht viel für Zärtlichkeit übrig, aber wir wußten, daß er uns Kinder liebte.« Übersetzt könnte das bedeuten: »Vater erwartet Vollkommenheit, sagt nie ein lobendes Wort, zeigt keine wirkliche Warmherzigkeit, aber solange wir seinen Befehlen nachkamen, konnten wir uns sagen, wir werden geliebt.« Aber es scheint nicht darauf anzukommen, was wir dem Selbst sagen. Das reale Selbst, das ungeliebt ist, spürt es. Wenn jemand, der so argumentiert, in der Therapie gezwungen wird, nach seinem Vater zu rufen, er möge ihn in den Arm nehmen und streicheln, dann spürt er den Schmerz. Alles, was er für wahr hielt, scheint sich vor dem Urschmerz in Nichts aufzulösen.
Eine junge Dame sagte: »Mutter war eben ein bißchen altmodisch, was Manieren und Umgangsformen betrifft, aber sie liebte uns trotzdem.« Als sie nach Freiheit schrie, spürte sie, daß sie immer gelitten, aber es nie empfunden hatte. Wir ziehen daher den Schluß, daß Menschen nur dann, wenn sie ihre wirklichen Bedürfnisse empfinden, vielleicht zum erstenmal begreifen, was Liebe ist und was sie nicht ist.
Eine Patientin beharrte darauf, sie sei von ihren Eltern geliebt worden, die beide aus ihren Gefühlen kein Hehl machten. Sie behauptete, die Ursache ihres Problems sei ihr Mann. In ihrer zweiten Therapiewoche empfand sie es: sie kehrte in die Vergangenheit zurück und erlebte eine Szene von neuem, bei der sie ihrer Schwester gegenüber als brav und artig hingestellt wurde. Ihr Leben lang kam sie sich nie ungeliebt vor, weil sie die brave Tochter wurde. Ihre Eltern überschütteten sie mit Unterstützung, Geschenken und Zuneigung: sie brauchte nichts zu tun, als >brav< zu sein. Weil sie brav und nicht sie selber war, fühlte sie sich nie ungeliebt. Dennoch litt sie unter dem Urschmerz. Dieser Urschmerz konnte erst an die Oberfläche kommen, als ich ihr nicht erlaubte, das reizende Geschöpf zu sein, das sie immer gewesen war. Dies ist wiederum ein Beispiel für die in der Primärtheorie angewandte Definition der Liebe: alle sein lassen, was sie sind. Dieses Mädchen hatte offenbar alles — nur nicht sich selbst. Sie war ungeliebt.
Noch ein Beispiel, um diesen Punkt klarzustellen: Eine junge Frau hatte eine Mutter, die ständig mit ihr zusammen war, mit ihr spielte, sie in den Arm nahm und nie schlug. Doch war diese Mutter ein kleines Kind und nicht stark genug, ihre Tochter das kleine Mädchen sein zu lassen. Die Tochter mußte erwachsen und stark sein und ihre schwache Mutter beschützen. Trotz allem, was diese Mutter für ihre Tochter tat, liebte sie sie nicht, denn sie konnte die Tochter nicht sein lassen, was sie war — schwach und klein.
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Kinder unterwerfen und opfern sich, um das Gefühl, nicht geliebt zu werden, zu verbergen. Eltern tun unter Umständen dasselbe, um die Tatsache zu verhüllen, daß sie für ihre Kinder nichts empfinden. Obwohl diese Eltern Liebesbeweise erbringen können — »Schau, was ich alles für dich tat« —, bedeutet es gewöhnlich: »Warum tust du nicht etwas für mich?« Unterwerfung des Selbst scheint ein Teil der jüdisch-christlichen Ethik zu sein, nach der wir uns im Namen der Liebe einer Gottheit unterwerfen. (Ein Patient drückte es so aus: »Ich gab mich selbst auf, um die Liebe meiner Mutter zu erhalten; als das nicht klappte, versuchte ich es mit meinem Vater; und als das fehlschlug, versuchte ich es mit Gott.«) Der Neurotiker scheint diesen Prozeß weiterzuführen, so daß er vielleicht damit beginnt, Liebe danach zu bemessen, wieviel andere für ihn aufgeben.
Es ist kein Zufall, daß ein Kind, das geliebt wird, sich selten für Liebe interessiert. Es hat es gewöhnlich nicht nötig, etwas als >Liebe< zu bezeichnen, und zieht auch die Liebe seiner Eltern nicht in Zweifel. Es bedarf der Worte nicht, denn es hat das Gefühl. Ich meine damit, daß diejenigen, die es nötig haben, etwas als >Liebe< zu kennzeichnen, nicht geliebt werden. Es scheint nicht genug Versicherungen, Beweise oder Worte zu geben, um die Kindheitsleere auszufüllen.
Wenn Eltern den neurotischen Kampf ihrer Kinder um Liebe verhindern wollen, dann sollten sie, meine ich, ihre eigenen Gefühle voll zum Ausdruck bringen, Tränen, Ärger und Freude, und sie sollten ihren Kindern zugestehen zu sagen, was sie sagen wollen, und auf eben die Weise, wie sie es sagen wollen. Das heißt, sie sollten ihnen erlauben, sich zu beklagen, laut und übermütig zu sein, zu kritisieren und auch freche Antworten zu geben. Kurz, man sollte Kindern dieselben Rechte zugestehen wie anderen Menschen. Kinder sollten sich frei ausdrücken dürfen, denn die Gefühle gehören ihnen; sie dürfen nicht Möbel ruinieren und Geschirr zerschlagen, denn die gehören der Familie. Aber es ist nicht wahrscheinlich, daß ein Kind einen Zerstörungsdrang haben wird, wenn es sich verbal Luft machen kann.
Wenn wir bestimmen, was ein Kind fühlen darf, und verlangen, daß es seine Gefühle genau überprüft, dann haben wir sein Empfindungsvermögen bereits geschädigt. Wenn dem Kind totale Spontaneität im gesamten Fühlen zugestanden wird, besteht Aussicht, daß es ein Kind wird, das spontan angelaufen kommt und seine Eltern küßt und umarmt. Auf diese Weise werden die Eltern auch geliebt. Allzu viele von uns haben sich angewöhnt, in Kindern nur Befehlsempfänger zu sehen, und erwarten von ihnen gar nicht mehr, daß sie spontan zärtlich sind. In neurotischen Familien neigt man dazu, Liebe zu einem Ritual zu machen. Da ist Zärtlichkeit eine Pflicht, der obligate Gutenmorgen- und Gutenachtkuß ohne spontanes Gefühl, der Tadel, wenn das Kind seine Pflicht versäumt. Daher bekommt der Neurotiker gewöhnlich von seinem Kind einen Akt bar jeden Gefühls, obwohl das Kind viel mehr geben könnte, wenn es dürfte.
Warum ist das Streben nach Liebe so allgemein?
Weil es das Streben nach dem Selbst ist, das nie sein durfte. Genauer gesagt, die Suche nach dem bestimmten Jemand, der einen sein läßt, was man ist. Da die Gefühle von so vielen von uns ignoriert oder unterdrückt wurden, tun wir zu guter Letzt etwas, das wir nicht fühlen. Die frühen Ehen und kurzlebigen Liebesaffären sind, glaube ich, eine Folge der inneren Frustration und Verzweiflung, wenn man durch andere fühlt. Die Suche scheint endlos zu sein, weil wenige Menschen wirklich wissen, was sie eigentlich suchen.
Selten wird der Verlust eines Geliebten in der Gegenwart so katastrophale Folgen wie einen Selbstmordversuch haben, es sei denn, der Verlust spiegelt einen tieferen, älteren Verlust aus der Jugend wieder. Wenn sich der Neurotiker schließlich ungeliebt fühlt, dann bereitet er den Weg dafür, sich geliebt zu fühlen. Den Urschmerz zu empfinden heißt, die Realität des Körpers und seiner Gefühle zu entdecken — und Liebe ohne Fühlen kann es nicht geben.
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