20. Die Primärtheorie im Vergleich zu anderen therapeutischen Methoden
Arthur Janov 1970
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Die Theorie der Primärtherapie ist ein Begriffsgebäude, das formuliert wurde, um ein Ereignis in meinem Sprechzimmer zu erklären. Ich glaube, sie ist eine eigenständige Theorie und nicht einfach eine Erweiterung oder Modifizierung einer schon bestehenden. Indes finden sich einige Aspekte der Primärtherapie auch bei anderen Psychotherapien. Der Zweck dieses Kapitels ist, die Primärtherapie kurz mit einigen dieser anderen Techniken zu vergleichen. Ich will diese anderen Theorien nicht ausführlich darstellen, sondern nur gewisse theoretische Aspekte oder technische Verfahrensweisen besprechen, die weitgehend akzeptiert sind oder vielfach angewandt werden. Die Begriffe Einsicht und Übertragung werden besonders behandelt, weil sie bei einer Reihe von Therapien eine Rolle spielen.
Die an Freud orientierten psychoanalytischen Schulen
In mancher Hinsicht greift die Primärtherapie wieder auf den frühen Freud zurück. Freud war es, der die Bedeutung der frühen Kindheitserlebnisse für die Neurose hervorhob und den Zusammenhang zwischen verdrängten Gefühlen und abweichendem seelischen Verhalten erkannte. Freud war es, der sich systematisch auf die Introspektion konzentrierte und die Auswirkungen innerer Prozesse auf das gegenwärtige offene Verhalten betonte. Seine Erklärung der Abwehrsysteme stellt einen überragenden Beitrag zur Psychologie dar.
Leider haben die Verbesserungen, die die Neo-Freudianer an Freud vorgenommen haben, die Betonung von der frühen Kindheit auf die Hier-und-Jetzt-Funktionen des Ich verlagert. Was also von den Neo-Freudianern für progressiv gehalten wurde, würde im Sinne der Primärtherapie als retrogressiv angesehen.
Freud betonte in allen seinen Schriften, daß sich die Analyse mit Abkömmlingen des Unbewußten befasse — wozu freies Assoziieren und Traumanalyse gehören. Ich glaube, daß wir gleich mit dem Unbewußten anfangen können, ohne erst sekundäres Material untersuchen zu müssen. Tatsächlich würde die Untersuchung von sekundärem Material die Therapie unnötig verlängern. Gerade die Direktheit der Primärmethode ermöglicht uns, die Therapiezeit beträchtlich abzukürzen.
Wenn analytisch orientierte Psychologen den Patienten veranlassen, seine Träume oder Assoziationen zu analysieren, während er auf der Couch liegt, dann tun sie genau das, was den Patienten davon abhalten wird, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. Zum Beispiel könnte ein Traum anzeigen, daß ein Patient unbewußt seiner Mutter feindselig gesonnen ist oder Angst vor seinem Vater hat. Darauf weist der Therapeut hin. Was er meiner Ansicht nach nicht tut, ist, zuzulassen, daß der Patient von seiner Wut überwältigt wird und sie ungehemmt hinausschreit. Nach der Freudschen Auffassung würde das als desintegriertes Verhalten angesehen. Ich finde, daß es im Gegenteil integrierend ist — daß es die unbewußten Gefühle der Person wieder in sein bewußtes System einbezieht.
Ich glaube, daß keinerlei Analyse wirksam ist. »<Analysiert> zu werden«, erklärte ein Patient, »heißt, es wird einem etwas angetan.« Er fuhr fort: »Mein Leben lang ist mir etwas <angetan> worden; was ich brauche, ist das Erleben.«
Ich möchte ganz genau klarstellen, was ich mit der Freudschen Analyse von sekundärem Material meine. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Beispiel des Urerlebnisses. Da ist ein Bedürfnis oder Gefühl, das zu fühlen nicht vermocht oder gewagt wird. Es ist blockiert, und was auftaucht, ist etwas Symbolisches — ein Ersatzgedanke oder eine Ersatzhandlung.
Die Analyse von sekundärem Material ist eine Analyse dieses symbolischen Bereichs und wird unweigerlich abgeleitet in ein nicht enden wollendes Wirrsal von Symbolen wie Träume, Halluzinationen, falsche Wertvorstellungen, Selbsttäuschungen oder was auch immer. Graphisch dargestellt, würde es so aussehen:
Schmerzblockierung
Fühlen des Bedürfnisses |——————————— Selbsttäuschungen
|———————— falsche Wertvorstellungen und Lebensanschauungen
|————— Träume
|—— Halluzinationen* detopia: Man stelle sich noch eine senkrechte Linie durch | vor .
Stellen wir uns das in den einfachsten Begriffen vor. Wir haben nagenden Hunger, und das Symbol, das im Bewußtsein auftaucht, ist ein Gedanke an Essen — etwas, das dieses Bedürfnis befriedigt. Der Verstand präsentiert dem Körper automatisch korrekte Symbole, so daß Bedürfnisse befriedigt werden können und das Überleben gesichert ist. Aber angenommen, es wird verboten, »Essen« zu denken. Dann muß der Betreffende einen anderen Gedanken substituieren — einen symbolischen Gedanken. Er muß im Bewußtsein etwas Irreales substituieren, weil sein reales Bedürfnis noch da ist, aber blockiert wird.
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Ebenso ist es mit dem Bedürfnis nach Liebe. Das Kind hat das Bedürfnis, daß es in den Arm genommen und mit ihm geredet werde, aber es lernt bald, daß es nicht geliebt werden wird. Das Bedürfnis ist da und muß irgendwie befriedigt werden. Deshalb schafft sich das Kind Ersatz. Nun muß jeder Ersatz, da er nicht real ist, symbolisch sein. Das blockierte Bedürfnis wird in Träumen, Selbsttäuschungen, Wahnvorstellungen, Machtstreben usw. symbolisiert. Alle diese Symbole gehen von dem Fühlen des Bedürfnisses aus. Manchmal, wenn kein Weg zur Befriedigung mehr offen ist, wird der Betreffende vielleicht versuchen, das Fühlen mit Alkohol oder Drogen zu ersticken.
Der Konsum von Drogen und Alkohol ist indes immer noch ein symbolisches Tun, das sich aus dem Bedürfnis ergibt. Setzt man sich mit Trinken und Drogenkonsum getrennt von diesem Bedürfnis auseinander, ist es genau dasselbe, wie wenn man sich mit Träumen, abgelöst von körperlichen Bedürfhissen, auseinandersetzt. Ich halte es für nutzlos, sich mit irgendwelchen symbolischen Abkömmlingen zu befassen, und eben das hat die Psychoanalyse zu einer so qualvollen, langwierigen Angelegenheit gemacht. Es ist an der Zeit, durch die Symbole hindurchzustoßen, zum Bedürfnis zu gelangen, die Therapie möglicherweise um Jahre abzukürzen und die Menschen gesund zu machen.
Eine der zentralen Folgerungen aus dem oben Gesagten ist, daß projektive Tests (Rohrschach, Thematischer Apperzeptions-Test, Männchen-Zeichnen usw.) außer in seltenen Fällen unnötig sein sollten. Projektive Tests untersuchen symbolische Projektionen. Wie ein Psychologe entscheidet, auf was projiziert wird, hängt von seiner theoretischen Auffassung ab. Ist er Jungianer, wird er die eine Sache sehen; ein Freudianer wird etwas anderes sehen und ein Adlerianer wieder etwas anderes. Das alles ist bloße Raterei, gleichgültig, wie viele Jahre wir uns auch um die Stichhaltigkeit unserer Tests bemühen, denn wir ziehen Schlüsse aus dem Gefühl eines anderen Menschen; nur er (der Patient) weiß, was es ist.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Freudschen und der primärtherapeutischen Auffassung betrifft den Begriff Abwehrsystem. Die analytische Anschauung bezeichnet das Abwehrsystem als notwendig und gesund. Man würde daher kaum einen Freudschen Therapeuten finden, der eine Durchdringung und Zerstörung dieses Abwehrgebäudes erzwingt, um unbewußte Gefühle total zu befreien. Statt dessen würde das, was an Gefühlen aufsteigt, in ein Freudsches theoretisches System eingebaut und in diesem Rahmen erklärt und schließlich verstanden werden. Die Bedeutung des Gefühls würde auf diese Weise aus etwas völlig Persönlichem herausgeholt und in etwas Begriffliches abstrahiert. Darum gibt es in der Primärtherapie keine Interpretation. Das aufsteigende Gefühl enthält selbst seine Bedeutung.
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Nach Ansicht der Primärtherapie gibt es kein gesundes Abwehrsystem. Abwehrsysteme sind eben die Krankheit. Das soll nicht heißen, daß in der Psychoanalyse nicht nach Gefühlen geforscht wird. Aber diese Gefühle sind gewöhnlich nicht die Urgefühle, die den Patienten zutiefst erschüttern können. Stellt ein Patient in der Psychoanalyse diese Art »Hysterie« zur Schau, so würde das im allgemeinen als ein Zusammenbruch der Abwehr angesehen werden, und es würden sofort Schritte unternommen werden, um das System wiederherzustellen, statt den Betreffenden tiefer in seine »Hysterie« hineinzubringen.
Freudianer glauben, daß es in uns gewisse destruktive oder aggressive Triebe gibt, die in Schach gehalten und ausgeglichen werden müssen, damit die Person ein soziales Verhalten zeigt. Da er in diesem Rahmen arbeitet, wäre es undenkbar, daß ein Freudscher Therapeut diese »destruktiven« Kräfte entfesselt. Doch der Primärtherapeut ruft gerade diese Gefühle hervor, damit das unter Kontrolle gehaltene Abwehrsystem zerbricht. In dieser Hinsicht sind die Freudsche Theorie und die Primärtheorie antithetisch. Freudianer helfen dem Patienten, gewissermaßen Selbstbeherrschung zu bewahren, um das (irreale) abwehrende Selbst zu erhalten, während der Primärtherapeut dieses irreale Selbst vernichten will, um das reale, abwehrlose Selbst zu befreien.
Michaels faßt die psychoanalytische Anschauung wie folgt zusammen : »Die Medizin löst sich allmählich von dem Mythos der normalen Person ... wir alle sind relativ neurotisch. Die Grundlehrsätze der Psychoanalyse bestätigen, daß Konflikt ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist und Triebverzicht der Preis dafür ist, ein zivilisierter Mensch zu sein*.«
Michaels paraphrasiert dann Alexander Pope: »Neurotisch sein heißt menschlich sein.« Auch Levine glaubt das: »Normalität ...... gibt es nicht«, stellt er fest**. Die Primärtheorie vertritt die Ansicht, daß Normalität sehr wohl ihren Platz in der Lebenswirklichkeit hat und Abnormität eine Perversion und Verzerrung dieses natürlichen, spannungslosen, angstfreien Zustands ist. Das ist der Kernpunkt der Meinungsverschiedenheit. Die Psychoanalyse braucht ein Abwehrsystem, weil sie eine grundlegende Angst postuliert, gegen die man sich wehren muß. Weil es in der Primärtheorie keine grundlegende Angst (oder destruktive Emotionen, die aufgegeben werden müssen) gibt, sind Abwehrmechanismen nicht nötig.
* Joseph Michaels, <Character Structure and Character Disorders> in Silvano Arieti, Hg., American Handbook of Psychiatry, New York, 1959.
** Maurice Levine, Psychotherapy in Medical Practice, New York, 1942.
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Wilhelm Reich
1942 schrieb Reich: »Die Neurose ist nicht etwa nur der Ausdruck einer Störung des psychischen Gleichgewichts, sondern in einem weit berechtigteren und tieferen Sinne noch der Ausdruck einer chronischen Störung des vegetativen Gleichgewichts und der natürlichen Beweglichkeit.«*
Reich erklärt, daß muskuläre Verkrampfung nicht einfach eine Folge von Verdrängung sei, sondern den wesentlichen Teil des Verdrängungsprozesses darstelle: »Unsere Patienten berichten ausnahmslos, daß sie Perioden in der Kindheit durchmachten, in denen sie es durch bestimmte Übungen im vegetativen Verhalten (Atem, Bauchpresse etc.) lernen, ihre Haß-, Angst- und Liebesregungen zu unterdrücken.« Reich weist daraufhin, daß Neurose nicht allein ein psychischer Vorgang ist, sondern daß jeder seelische Vorgang zugleich auch ein körperlicher ist.
Wichtig an seiner Betrachtungsweise ist seine Überzeugung, daß diese psychophysische Struktur auf physische Weise angegangen werden kann: »...(Die muskulären Haltungen) bieten nämlich die Möglichkeit, den komplizierten Umweg über die psychischen Gebilde wenn nötig zu vermeiden und direkt von der körperlichen Haltung ins Gebiet der Triebaffekte durchzubrechen. Dabei erscheint der verdrängte Affekt vor der entsprechenden Erinnerung.« Daher bedienen sich viele der heutigen Reichschen Therapeuten vor allem gewisser Handgriffe, um die körperliche Spannung zu lockern. Und ein Patient, der bei einem Reichianer gewesen war, sagte, daß diese Übungen tatsächlich oft die Spannung erleichtern. Aber weil sie nicht von einer seelischen Verknüpfung begleitet waren, haben sie offenbar keine anhaltende Wirkung gehabt.
Dennoch hatte die Reichsche Theorie einiges Wichtige über die physischen Aspekte der Neurose zu sagen. Später verknüpfte Reich einen Großteil seiner Theorie mit einer bizarren sexuellen Konzeption, die ihn in den Augen eines Teils der wissenschaftlichen Welt diskreditierte. Aber wenn wir von diesem ausgeprägten sexuellen Aspekt einmal absehen, zeigt sich, daß Reich der primärtheoretischen Auffassung nahekommt:
»Wir denken dabei an das <Erkalten> der Kinder, die erste und wichtigste Erscheinung bei der endgültigen Sexualunterdrückung im 4. bis 5. Lebensjahr. Dieses Erkalten wird im Beginn immer als ein <Todwerden> oder <Eingepanzert->, <Eingemauertwerden> erlebt. Später mag in dem einen oder anderen Fall das Gefühl des <Gestorben-> oder <Tot-seins> durch überdeckende psychische Funktionen zum Teil kompensiert sein, etwa durch oberflächliche Heiterkeit oder kontaktlose Geselligkeit.«
Ich glaube, daß Reich von den Anfängen der Neurose spricht. Das »Totsein«, das Überdecken mit einer Abwehr usw. ist das, was ich der Primärszene zuschreibe. Selbst das Alter des Beginns ist ähnlich.
* Wilhelm Reich, Die Entdeckung des Orgons, Köln und Berlin, 1969, S. 258 ff
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In den Brennpunkt des Interesses rückte für Reich die Bauch-Spannung: »Es erscheint mir heute unbegreiflich, wie es möglich war, Neurosen auch nur einigermaßen zu lösen, ohne die Symptomatik des plexus solaris (Sonnengeflecht) zu kennen; so große Bedeutung gewinnt die Bauchspannung in unserer Arbeit.«
Er spricht dann darüber, wie die Bauchspannung zu flachem Atmen fuhrt und wie man im Zustand der Angst mit Hilfe der Bauchpresse den Atem anhält.
Reich glaubte, bei eingeschränkter Atmung werde dem Körper weniger Sauerstoff zugeführt. Wenn weniger Energie im Organismus erzeugt wird, dann wird, so folgerte er, weniger Spannung hervorgerufen. Zwar bin ich durchaus nicht sicher, ob dem so ist, finde aber, wir sollten nicht leugnen, daß Reich zu wichtigen Erkenntnissen über den Zusammenhang zwischen Atmung und Neurose gelangt ist. Ich stelle fest, daß ich immer automatisch herauszufinden versuche, wenn ich einen Patienten zum erstenmal sehe, wo seine Stimme herkommt und wie er atmet.
Ich habe Reich zitiert, weil ich mittlerweile glaube, daß bei der Psychotherapie die Tendenz bestand, den Körper und seinen Beitrag zur Neurose zu vernachlässigen. Weil die Neurose oft ein entkörperlichtes Phänomen (ein Abspalten vom Körper) ist, haben wir sie behandelt, als ob sie wirklich nur etwas Entkörperlichtes und Seelisches wäre. So finden wir bei den Konditionierungs- oder Verhaltenstherapien das Schwergewicht auf der Assoziation von Vorstellungen oder die Ersetzung von Vorstellungen bei der rationalen Therapie. Indes glaube ich, daß die modernen Reichianer in die entgegengesetzte Richtung geraten sind — das heißt, es besteht eine Tendenz, Denkprozesse zu vernachlässigen bei dem Bestreben, die physische Spannung zu lockern. Die Primärtheorie vertritt die Ansicht, daß der Organismus eine psychophysische Einheit ist. Jede Methode, die eine anhaltende und durchschlagende Wirkung haben soll, muß diese Einheit in Betracht ziehen.
Meine Bedenken gegen die verschiedenen Techniken wie Berührungstherapie, Körperbewegung oder Schwimmtherapie — Therapien, die den Körper »befreien« sollen — wären dieselben wie gegen die in der Reichschen Therapie angeführten. Ich möchte meinen, daß jedes physische Verfahren implizite den neurotischen Prozeß fortsetzt durch eine »entkörperlichte« Technik, bei der seelische Verknüpfungen vernachlässigt oder zumindest nicht betont werden und der Körper behandelt wird, als wäre er ein von der Seele getrenntes Gebilde. Ich glaube nicht, daß man den Körper wirklich befreien kann, es sei denn vorübergehend, solange tief verborgene Urschmerzen da sind, die ständig physische (und auch seelische) Spannung erzeugen. Ich meine, daß der physische Versuch es symbolisch tut. Ein Beispiel für das, was ich mit diesem Symbolismus meine, ist die an anderer Stelle erwähnte Gruppentherapie, bei der sich eine Person in einem Kreis von anderen, die sich untergehakt haben, aufstellen und »ausbrechen« muß.
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Ich meine, daß die Seele von schmerzlichen Erinnerungen, die das ganze System innervieren, nicht durch Übungen befreit werden kann, durch die der Körper beweglicher und integriert werden soll. Diese Erinnerungen wirken auf ein Niveau unterhalb des Bewußtseins und senden weiterhin Impulse an den übrigen Organismus, um vor Gefahr zu warnen; diese Gefahr wird meiner Ansicht nach weiterbestehen, bis sie gefühlt und aufgelöst wird. An diesem Punkt wird eine echte Entspannung einsetzen, und körperliche Übungen können hier wirklich nützlich sein. Ich hätte denselben Einwand gegen jene Methoden, die den Geist zu klären hoffen, indem sie die Person auf »gesunde« Gedanken hinlenken. Man mag Urerinnerungen ignorieren und durch »erfreuliche« Gedanken ersetzen, aber das löscht den Urschmerz nicht aus. Verknüpfung ist nicht nur wünschenswert, sondern wesentlich für das System der Primärtherapie.
Bei dem Thema Neurose dürfen wir die Ätiologie nicht außer acht lassen: Was bewirkt, daß jemand jahre- und jahrzehntelang ununterbrochen in Spannung ist? Gewohnheit? Eine konditionierte Reaktion auf die Welt? Vielleicht, aber ich glaube, es ist komplizierter als einfaches Lernen. Spannung ist ein Zeichen, daß ein System versucht, die Bedürfnisse des Körpers aufzuheben. Das System ist untauglich, gelinde gesagt, denn es versucht es immer wieder auf ungeeignete Weise und sieht nie ganz ein, daß es so niemals das, was gebraucht wird, erreichen wird. Mit diesem ineinandergreifenden Netzwerk müssen wir uns befassen, nicht nur mit Teilen davon, etwa mit Armen und Beinen bei der Tanztherapie, mit der Sprache bei der Gesprächstherapie oder mit einer verstopften Nase bei der allergischen Desensibilisierungsmethode. Wir müssen begreifen, daß zum Beispiel Benommenheit im Kopf der Druck des Körpers ist, der sich auf einen Bereich konzentriert. Mit dem Druck müssen wir uns befassen, sonst wird der Betreffende gezwungen sein, sein Leben lang die Benommenheit im Kopf durch Naseputzen zu lindern.
Behavioristische oder Konditionierungsschulen
Konditionierungstechniken werden unter Therapeuten immer beliebter, besonders in Nervenkliniken und an Universitäten. Ohne zu versuchen, die umfangreiche Literatur auf diesem Gebiet zu erforschen, will ich einige allgemeine Voraussetzungen der zugrunde liegenden Konditionierungsmethode besprechen. Die wichtigste ist, daß emotionale Probleme die Folge von ungünstigen Lernbedingungen seien. Die Neurose, so wird angenommen, entstehe durch falsche Erziehung. Aus Belohnungs- oder Bestrafungsgründen habe der Neurotiker gewisse fehlangepaßte oder unangemessene Reaktionen oder Gewohnheiten gelernt. Diese Gewohnheiten sind anhaltend und verstärken sich mit der Zeit.
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In seinem Buch Condition Reflex Therapy erklärt Andrew Salter: »Fehlanpassung ist schlechtes Konditionieren, und Psychotherapie ist Re-Konditionieren. Die Probleme des Individuums sind das Ergebnis seiner sozialen Erfahrungen, und wenn wir seine Methoden der sozialen Beziehungen ändern, ändern wir seine Persönlichkeit. Wir befassen uns nicht damit, dem Individuum eine mehrschichtige Kenntnis seiner Vergangenheit zu vermitteln — <Sondieren> genannt. Wir sind daran interessiert, ihm Reflex-Kenntnis seiner Zukunft zu vermitteln — <Gewohnheiten> genannt.«
Diese Formulierung von Salter scheint die allgemeine Auffassung einer Reihe von Konditionierungsschulen wiederzugeben, obwohl sie sich in vielen Punkten auch unterscheiden. Im wesentlichen scheint es darum zu gehen, daß man lernt, glücklich zu sein, indem man emotionale Gewohnheiten lernt, genau wie man gelernt hat, unglücklich zu sein. Hier beschäftigt man sich also damit, wie die Menschen im großen und ganzen »funktionieren«.
Wenn sie auf anpassungsfähige, wirkungsvolle und produktive Weise »funktionieren«, wäre das also ein Anzeichen für emotionale Gesundheit. Über das richtige Funktionieren habe ich an anderer Stelle gesprochen und möchte hier nur wiederholen, daß es wenig darüber aussagt, wie eine Person fühlt oder ob sie fühlt, während sie sich normal verhält. Patienten, die in bezug auf Stellung, Status und Einkommen recht gut funktioniert haben, sagten, sie fühlten sich »tot«, und alles, was sie taten, sei bedeutungslos gewesen, sei mechanisch geschehen. Während sie vielleicht schon früh im Leben »mechanisiert« wurden durch zwei sehr tüchtige Konditionierungsmaschinen (die Eltern), die neurotisches Verhalten belohnten und »gutes« Verhalten bestraften, kann, glaube ich, der dabei entstandene Urschmerz nicht durch eine Richtungsänderung des Symptoms oder des Oberflächenverhaltens ausgeräumt werden.
Es finden sich in der Literatur zahlreiche Beschreibungen von Konditionierungstherapien. So war in einer Nervenklinik folgende Methode bei Alkoholikern angewandt worden: Es wurde eine Bar aufgebaut, und jedesmal, wenn der Patient an einem alkoholischen Getränk nippt, bekommt er einen harmlosen, aber schmerzhaften Elektroschock. Die Strommenge wird erhöht, bis der Patient den Alkohol in eine Schale vor ihm ausspuckt, und dann wird der Strom abgeschaltet. Das wird operante Konditionierung genannt. Der Gedanke dabei ist, ein bestimmtes »schlechtes« Verhalten, das »auskonditioniert« werden soll, mit einem unangenehmen Reiz zu verbinden und die unerwünschte Gewohnheit dadurch zu vertreiben, daß dabei ein Unlustgefühl verspürt wird.
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Bei einer anderen Art von negativer Konditionierung wird einer Gruppe homosexueller Männer eine Reihe von Karten gezeigt. Auf einigen von ihnen sind Bilder nackter Männer. Jedesmal, wenn diese Karten aufgedeckt werden, erhält die Versuchsperson einen Elektroschock. Man hofft, daß der Anblick der nackten Männer so viel Schmerz und Unlust erregt, daß er den Betrachter von der Homosexualität abschreckt. Eine positive Konditionierungsmethode ist in England bei männlichen Homosexuellen angewandt worden. Sie wurden aufgefordert, bis zur Ejakulation zu masturbieren, dann wurde ein Knopf gedrückt und das Bild einer nackten Frau gezeigt. Hier sollte der sexuelle Genuß mit Frauen assoziiert und damit die bisherigen homosexuellen Neigungen ausgetrieben werden.
Diese Experimente beruhen auf der Annahme, daß man neue Gewohnheiten durch Assoziationen — lustvolle und unlustvolle — lerne. Während es recht vernünftig erscheint anzunehmen, daß die Menschen diejenigen Verhaltensweisen praktizieren werden, die belohnt werden, und die anderen aufgeben, die nicht belohnt werden, läßt diese Methode die Psychodynamik außer acht, die einer neurotischen Gewohnheit zugrunde liegt. Im Fall des Homosexuellen zum Beispiel wird die ungeheure Entbehrung an Liebe und das große Bedürfnis, im Arm gehalten und liebkost zu werden, ignoriert; statt dessen wird dem Patienten sein Bedürfnis mehr oder weniger mit Gewalt oder Strafe »ausgetrieben«. Das heißt, der Ausdruck seines Bedürfnisses wird abgewehrt, so daß es immer tiefer ins Verborgene getrieben wird und damit die Neurose verstärkt. Man kann ein Bedürfnis nicht auskonditionieren, denn es ist real. Das Bedürfnis wird, glaube ich, immer neue Auslaßventile finden, wenn die alten abgedichtet werden. Meiner Ansicht nach werden die Konditionierungstechniken eine Verstärkung der Spannung zur Folge haben und dafür sorgen, daß später andere, vielleicht ernstere Symptome auftreten.
Ich bin nicht der Meinung, daß man die Krankheit behandelt, wenn man sich mit den Symptomen befaßt; die Spannung als solche wird bei diesen Konditionierungstechniken gewöhnlich nicht behandelt.
Die Primärtherapie unterscheidet sich von den Konditionierungsmethoden wie von fast allen anderen. Statt die Ängste einer Person als etwas Eigenständiges anzusehen, glaubt die Primärtherapie, daß es die Person ist, die Angst hat.
Die Primärtherapie befaßt sich mit dem inneren Prozeß, während die Konditionierungsmethoden sich mit offenem Verhalten beschäftigen. So wird in der Primärtherapie eine gegenwärtige Angst nicht als solche behandelt, sondern wird als aus etwas Vergangenem hervorgegangen angesehen. Wenn es sich um eine Phobie handelt, würde die Primärtheorie also darauf hinweisen, daß das Gefühl (in diesem Fall Angst) immer real ist, aber der Kontext symbolisch. Die Person hat nicht wirklich Angst etwa vor Höhen, sondern vor etwas, das sie nicht versteht.
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Die Konditionierungstheorie würde sich wohl mit dem geschilderten Symptom befassen, der Angst vor Höhen, und versuchen, die Person dazu zu bringen, in solchen Situationen entspannter zu sein. Die Primärtherapie versucht, die richtige Verknüpfung zu der Angst herzustellen. Die Verknüpfung, glaube ich, eliminiert verallgemeinerte Angst und das Bedürfnis, sich auf Ersatz zu konzentrieren.
Bei einigen der Konditionierungsmethoden wird implizit vorausgesetzt, daß der Mensch mehr oder weniger eine Maschine sei, deren Verhalten durch äußere Manipulation geprägt oder ausgemerzt wird, ohne daß das Bewußtsein eingreift. Drillmethoden in der Erziehung oder beim Militär scheinen eine Erweiterung dieser Philosophie zu sein. Es wird angenommen, eine Neurose könne auf die Dauer verändert werden, obwohl der Patient keine Ahnung hat, was sein irrationales Verhalten veranlaßte oder unter welchen Umständen es endete.
Abgesehen davon, daß ich aus psychologischen Gründen anderer Meinung bin, mache ich mir darüber Sorgen, daß die heutigen Konditionierungstechniken sich so ausbreiten und akzeptiert werden. Diese Vorstellung von Menschen als Einheiten, die auf diese oder jene Weise manövriert werden können, ist ein Teil des allgegenwärtigen Zeitgeistes, ein Teil der Entmenschlichung des Menschen, wobei Gefühle, angestrebtes Ziel und Intellekt nur zweitrangige Erwägungen sind bei der Bemühung, Ergebnisse zu erzielen.
Ich glaube, die mechanistische Behandlung von Menschen ist ein Teil der jetzigen Krankheit und das, was ursprünglich dazu beitrug, die Neurose hervorzubringen. Ich fürchte, die Psychologie mag eingegliedert oder hinzugerechnet werden zu der allgemeinen sozialen Mechanisierung, bei der symptomatische Effekte, sowohl soziale (zum Beispiel Studentenproteste) als auch persönliche unterdrückt werden durch Strafmaßnahmen, ohne daß jemand die entscheidende Frage stellt: »Warum?«
Um Symptome zu verstehen, müssen wir die Ursachen untersuchen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Menschen eine Lebensgeschichte haben. Vielleicht besteht ein Teil des Problems darin, daß die Konditionierungsverfahren zunächst bei Tieren erprobt und dann auf Menschen angewandt wurden. Aber Menschen sind keine Tiere.
Ich glaube, die Konditionierungstheorie hat eine wichtige Funktion in der Geschichte der Erziehung und Psychologie erfüllt — nämlich auf dem Gebiet des Lernens und der Erziehung. Gewiß, es gibt besondere Umstände, die das Lernen fördern oder hindern, und eine Lerntheorie kann nützlich sein. Wie Menschen lernen, unter welchen Umständen, in welchem Alter, all das sind wichtige Forschungsgebiete. Aber ich glaube nicht, daß das Lern-Modell einer so komplizierten Angelegenheit wie dem neurotischen Prozeß gerecht werden kann.
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Bedürfnisse sind beides, körperlich und seelisch-geistig, und ich sehe nicht ein, wie jemand Bedürfnisse vernachlässigen und dennoch der Meinung sein kann, er tue etwas gegen die Neurose. Ich halte den neurotischen Prozeß für total psychophysisch, während der Lernprozeß in erster Linie geistig ist. Daher können Manipulationen des seelisch-geistigen Systems allein das psychophysische System qualitativ nicht ändern.
Die rationale Schule
Die rationale Methode ist die neueste Schöpfung von Albert Ellis. Diese Theorie wird oft nicht als behavioristische Methode eingestuft, einige ihrer Techniken sind ihr jedoch ähnlich. Zum Beispiel könnte ein rationaler Therapeut einen Homosexuellen dazu anregen, es mit heterosexuellem Verhalten zu versuchen, während er sich dabei derartige Sätze vorsagt wie: »Ich mag Frauen; ich habe keine Angst; ich mag Sex.« Auf das Verhalten kommt es an, und man hofft, daß durch die Verbindung von »wünschenswertem« Verhalten mit den richtigen seelischen Assoziationen die Gewohnheiten sich ändern werden. Im Grunde genommen glaubt die rationale Schule, daß sich der Neurotiker etwas Falsches vorsagt. Das heißt, unbewußt wiederholt er Sätze, die Fehlanpassung oder irrationales Verhalten hervorrufen. Wenn sich der Patient dieser Sätze bewußt wird und sie so verändert, daß sie rationaler sind, wird angenommen, daß sein Verhalten diesem Beispiel folgt. In einer 1968 erschienenen Broschüre sagte Albert Ellis dazu:
»Die Methode des (Rationalen) Instituts beruht auf der Überzeugung, daß Individuen lernen können, rational zu leben, indem sie bewußt sehen, daß ihre selbstzerstörerischen Emotionen und Verhaltensweisen aus ihrer unlogischen Lebensauffassung stammen. Sie erlangen diese Ideen auf biosozialem Wege, verinnerlichen sie dann und wiederholen sie ständig. Der Therapeut hilft dem Patienten, diese selbstschädigenden Überzeugungen in Frage zu stellen, wobei er Methoden der Verhaltensänderungen anwendet*.«
Meiner Ansicht nach leben Menschen nicht wegen unlogischer Lebensauffassungen irrational. Sie verhalten sich irrational, weil sie früh im Leben nicht rational und in Übereinstimmung mit ihren Gefühlen handeln durften. Ich sehe die Menschen als im wesentlichen rational an. Irrationale Lebensauffassungen entstehen meiner Meinung nach, um neurotisches Verhalten zu erklären oder zu »rationalisieren«. Wer seine eigene Wahrheit verleugnet, ist gezwungen, ein ganzes Netz von »Unwahrheiten« zu spinnen.
* Institute for Rational Therapy; Broschüre 1968.
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Sich nach den eigenen, wahren Gefühlen zu richten, scheint ein von Natur aus rationales Bestreben zu sein, und wenn postprimäre Patienten schließlich die Wahrheit fühlen, dann vermögen sie bei vielen Dingen im Leben rational zu werden ohne irgendwelche langwierige intellektuelle Diskussion. Warum haben sie sie vorher nicht verstanden? Weil die Verleugnung von Gefühlen auch deren Wahrnehmungen und Verstehen einschließt. Verleugnungen machen Ersatz- (und daher falsche) Überzeugungen notwendig.
Ellis erwähnt »selbstzerstörerische« Emotionen. Der Begriff selbstzerstörerische Emotionen findet sich in manchen Theorien. Ich glaube nicht, daß es Emotionen gibt, die das Selbst zerstören. Vielmehr ist es die Verleugnung, die diese Gefühle des Selbst zerstört. Gefühle können das Selbst nicht zerstören; sie gehören zum Selbst. Was oft als eine destruktive Emotion angesehen wird — Wut —, ist die Folge eines verletzten, verleugneten Selbst. Mangel an Gefühl zerstört das Selbst und ermöglicht auch die Beschädigung des Selbst anderer Menschen.
Wenn es stimmt, daß der Neurotiker irrational handelt, weil er sich die falschen Sätze sagt, warum können dann viele von uns das Richtige sagen und sich dennoch nicht ändern? Der Raucher kann sagen, daß 70 Prozent aller Raucher an Lungenkrebs sterben werden, und raucht immer noch sein Päckchen am Tag. Der Alkoholiker kann felsenfest überzeugt sein, daß Alkohol die Leber schädigt, und pichelt dennoch seinen Dreiviertelliter. Der Homosexuelle kann sich sagen, daß er in Wirklichkeit Frauen liebt, und dennoch hat er weiter Verkehr mit Männern. Wenn er Frauen haßt, haßt er sie. Sein Haß ist nichts Rationales. Er ist eine Generalisierung aus einem alten, vergrabenen Urgefühl heraus, das sich meiner Meinung nach nicht ändern kann, bis dieses Gefühl der Vergangenheit empfunden und aufgelöst ist. Der Haß eines Homosexuellen auf Frauen mag aus einer jahrelangen entsetzlichen Beziehung zur Mutter herrühren. In seinen richtigen Kontext gebracht, könnte Haß rational sein. Läßt man einen Homosexuellen mit einem grundlegenden Haß auf seine Mutter sich selbst sagen, er möge Frauen, dann würde das meiner Ansicht nach seiner Fiktion und damit seiner Neurose nur Vorschub leisten.
Eine primärtherapeutische Patientin, die eine rationale Therapie durchgemacht hatte, erklärte mir diese Behandlung: »Ich erinnere mich, daß ich einmal dem Arzt sagte, ich sei völlig durcheinander, weil mein Freund mich verlassen habe. Er sagte, mein Verhalten sei irrational, und ich müßte mir selbst sagen, daß ich wirklich ohne ihn leben könne und keine Liebe brauche, um zu überleben. Ich mußte also so tun, als sei mir so zumute, wie mir nicht zumute war. Ich konnte mich wirklich nicht davon überzeugen, daß ich ohne meinen Freund leben könnte. Jetzt verstehe ich, warum. Ich habe gefühlt, was ich aus diesem Freund herauszuholen versuchte — einen fürsorglichen Vater.«
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Ich glaube, der grundlegende Unterschied zwischen der primär-theoretischen und der rationalen Auffassung ist die Rolle, die die Lebensanschauung des Betreffenden bei der Neurose spielt. Ellis glaubt, die Menschen handeln in Übereinstimmung mit einer profunden, aber unbewußten Lebensauffassung, die bewußt gemacht werden muß. Nach Ansicht der Primärtheorie werden Lebensauffassungen entsprechend der Auseinandersetzung mit dem Urschmerz gebildet — das heißt, wer sich selbst gegenüber ehrlich ist, wird auch unverbogene Vorstellungen, Einstellungen und Lebensauffassung haben.
Realitätstherapie
Was ich bei jeder auf die Gegenwart gerichteten, sich nur mit dem Jetzt auseinandersetzenden Therapie ganz besonders falsch finde, ist, daß sie die Vorgeschichte des Patienten oder überhaupt die Tatsache, daß neurotisches Verhalten eine Vorgeschichte hat, vernachlässigt. Die Realitätstherapie wird heute aus zwei Gründen weitgehend akzeptiert. Erstens ist sie stark vereinfachend und daher für jene ansprechend, die sich nicht die Mühe machen wollen, in die Tiefe zu gehen.
Zweitens, und das ist wichtiger, paßt sie vortrefflich zum kulturellen Modetrend — eben dem kulturellen Zeitgeist, der meiner Ansicht nach Neurose erzeugt —, nämlich zu den Vorstellungen von Handeln und Verantwortlichkeit. Das ist eine Einstellung von: »Tun wir uns zusammen und schaffen was« — ganz gleich, wie einem dabei zumute ist.
»Verantwortlich« handeln wird stark betont. Diese Verantwortung scheint immer gegenüber einer anderen Person oder Sache zu bestehen, nicht gegenüber dem Selbst. Nach meiner Ansicht geht die Realitätstherapie gerade der Realität aus dem Weg — der Realität des Patienten. Sie möchte, daß der Patient einer Welt die Stirn bietet, in der er oft nicht lebt und nicht leben kann — bis er fühlt, was ihn dazu veranlaßt, sich so zu verhalten, wie er sich verhält.
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Der folgende Bericht einer Patientin zeigt deutlich die Unterschiede zwischen der Primär- und der Realitätstherapie:
»Vor dreieinhalb Jahren, dicht vor einem Nervenzusammenbruch, begann ich mit der Realitätstherapie. Ich hatte das Buch Reality Therapy gelesen und entnahm daraus, daß die Neurose beginnt, wenn menschliche Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden. Laut dem Autor sind diese Bedürfnisse: lieben und geliebt werden, und fühlen, daß wir für uns und andere etwas wert sind. Um etwas wert zu sein, heißt es, muß unser Verhalten gewissen Maßstäben entsprechen. Das erreichen wir, indem wir uns realistisch, verantwortlich und richtig verhalten. Diese Auffassung erschien mir angemessen und brauchbar, und ich glaubte, ich könne leicht gesund werden, denn mein ganzes Leben lang hatte ich mich von dem leiten lassen, was <realistisch, verantwortlich und richtig> ist.
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Mit zweiundzwanzig war ich Englischlehrerin an einer höheren Schule, und jedermann hätte mich als <sozial akzeptabel> erachtet. Aber was war schief gelaufen — warum ging ich kaputt? Die Realitätstherapie, glaubte ich, würde mir helfen, meine Fehler zu entdecken.
Während meiner Therapiesitzungen sprach ich von meinem betrüblichen Verhältnis zu meinem Freund und auch von meinen Eltern und meiner allgemeinen Enttäuschung vom Leben. Ich fand, daß mein Therapeut aufmerksam war, als er da hinter dem imposanten Schreibtisch auf einem gewaltigen Ledersessel saß und dauernd Zigaretten rauchte. Die Lösung meiner Probleme erschien ganz einfach: Ich mußte jemanden finden, der wirklich an mir interessiert war und mir das Gefühl eingeben würde, daß ich etwas wert sei. Die implizite Voraussetzung bei alledem war, daß ich Signale von außen brauchte und nicht von mir, um zu wissen, daß ich geschätzt war.
Kurz vor Schluß jeder Sitzung fragte mich der Therapeut: >Nun, welche Schritte wollen Sie ergreifen, um Ihre Lage zu bessern?< Demütig gab ich die Antworten, die ich für richtig hielt: Ich würde versuchen, meinen Freund nicht zu sehen; ich würde netter zu meinen Eltern sein; ich würde mich mehr in meine Arbeit knien. Rückblickend ist mir klar, daß ich eben die Schminke des >sozial akzeptabel< noch dicker auftrug, die ich mein Leben lang aufgelegt hatte, und unter dieser Maske ein sehr unglückliches Ich verbarg. Ich wußte, was ich sagen sollte, und ich spielte das Therapeut-Klient-Spiel, ohne mit der Wimper zu zucken und mit ausdruckslosem Gesicht. Ich war immer eine gute Schülerin gewesen, und die Therapie war nur eine weitere Sache, die gut zu machen ich >lernen< würde.
Trotz der guten Noten, die ich mir in der Therapie verdiente (da ich den Beifall des Therapeuten errang), stellte ich fest, daß der Entschluß, sich zu ändern, nicht so leicht in die Tat umgesetzt werden kann. Da ich meine allwöchentlich gefaßten guten Vorsätze nicht zu verwirklichen vermochte und daraus den Schluß zog, daß ich keine Fortschritte machte, beendete ich die Therapie. Zwei Monate später heiratete ich meinen Freund, und nach weiteren sechs Monaten und bitteren Enttäuschungen für uns beide trennten wir uns. Ich war wieder im Sprechzimmer des Therapeuten und glaubte, mein jetziges Unglück sei darauf zurückzuführen, daß ich von Anfang an seinen Rat nicht befolgt hatte. Jetzt beschlossen wir, daß ich meinen Mann für immer verlassen, eine neue Stellung suchen und ein neues Leben beginnen sollte, um jemanden zu finden, der mich wirklich liebt. Ich fand auch eine neue Stellung, und vorübergehend waren meine Gedanken von meinen Problemen abgelenkt. Doch dauerte es keine drei Wochen, da war ich wieder bei meinem Mann.
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Jetzt begann ich, ihn zur Therapie zu schleppen (eine >Bedingung< unserer Wiedervereinigung), und wir pflegten die Therapiestunde damit zu verbringen, uns anzuschreien. Dieser Versuch der gegenseitigen Spannungsminderung brachte den Therapeuten zu der Überzeugung, daß wir getrennt zur Behandlung kommen sollten. Wir folgten seinem Rat, und nach kurzer Zeit gelang es, eine Atmosphäre herzustellen, die der Ruhe vor oder nach einem Sturm ähnelte.
Was die Entfremdung von meinen Eltern betrifft, so überredete ich schließlich meine Mutter, mit mir zur Therapie zu kommen. Das war unsere einzige gemeinsame Sitzung; denn die ganze Stunde über schwadronierte und faselte sie davon, eine wie gleichgültige Tochter ich sei, was für ein braves kleines Mädchen ich früher gewesen und wie gekränkt sie sei und daß sie sich >abgelehnt< vorkomme. Der Therapeut schlug vor, die Vergangenheit zu vergessen und die Gegenwart zu verbessern. Obwohl meine Eltern weiterhin kein Verständnis für mich hatten, reserviert blieben und mich immer noch kritisierten, errichteten wir die >sozial akzeptable< Fassade der Eltern-Tochter-Beziehung. Ich sagte meinem Therapeuten, daß ich meine Eltern besuche: Auftrag erfüllt.
An diesem Punkt wurden im Rahmen der Realitätstherapie meine Grundbedürfnisse befriedigt. Ich redete mir ein, daß ich von meinem Mann und meinen Eltern geliebt werde, obwohl ich mich innerlich entsetzlich leer und unglücklich fühlte. Ich glaubte oder >wußte< vielmehr, daß ich etwas wert sei, weil ich einen Beruf und meinen Mann hatte, der jetzt eine wichtige Stellung innehatte. Wir verhielten uns beide >realistisch, verantwortlich und richtig<. Dennoch gab es kein wirkliches Glück, keine echte Zufriedenheit, keinen Frieden. Es war uns lediglich gelungen, den Aufruhr, der in uns beiden tobte, gleichsam einzusperren. Wir beendeten die Therapie und konnten >es mit dem Leben aufnehmen und >spuren<.
Ein Jahr später folgte ich meinem Mann und ging mit ihm zur Primärtherapie. Es war ein Jahr heftiger Streitereien, der Verbitterung und Verzweiflung gewesen, und ich hatte mehrmals Selbstmord in Erwägung gezogen. Die Realitätstherapie hatte mich nur >gelehrt<, mein Verhalten zu ändern, aber von der Quelle des Elends hatte ich mich keineswegs befreit. Ganz eindeutig hatte diese Therapie die unvermeidliche Konfrontation zwischen mir und meiner tiefsitzenden Krankheit einfach hinausgezögert. Heute empfinde ich meine alten Schmerzen und bin auf dem Weg zur Gesundheit, und nicht nur zu vorübergehender Linderung.
Die Unterschiede zwischen den beiden Therapien sind mir ganz klar. Während ich bei der Realitätstherapie eine Stunde lang alles verstandesmäßig ergründen und geschickt formulieren — kurz gesagt, daherschwätzen — mußte, verwende ich jetzt so viel Zeit, wie ich brauche, darauf, meinen Urschmerz zu fühlen. Je mehr Urschmerz ich fühle, um so weniger Urschmerz habe ich.
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Mir ist jetzt klar, daß ich nicht Rat von außen brauche, sondern daß das Fühlen meines Urschmerzes helfen wird. Rat von außen zwingt mich nur, einem mir auferlegten Verhaltensmaßstab zu entsprechen, ohne Rücksicht darauf, wer ich bin und wie ich fühle. Es ist die Norm der neurotischen Gesellschaft, und die Realitätstherapie sieht es leider als das Ziel an, der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen; kurz gesagt, sich >realistisch, verantwortlich und richtig< zu verhalten. Ironischerweise hat mich gerade die Realitätstherapie irreal bleiben lassen, weil ich dieses Verfahren unterstützte. Dagegen stoße ich in der Primärtherapie die Schichten meiner unwirklichen Person ab, die Fassade, die glatte Maske. Da wird nicht Reklame dafür gemacht, man müsse >kämpfen< oder >spuren< können; da wird einfach das, was an mir unwirklich ist, niedergerissen, bis ich ein vollständig fühlender Mensch werde.
Die Realitätstherapie behauptet, die Grundbedürfnisse des Menschen können durch irgend jemanden oder eine Reihe von Menschen befriedigt werden. Dabei wäre ich immer neurotisch geblieben, weil ich angespornt worden wäre, nach etwas zu suchen, was nicht gefunden werden kann, denn was ich brauchte, war die Liebe meiner Eltern. Die Primärtherapie dringt bis zum Kern der Sache vor: Nur meine Eltern hätten diese infantilen Bedürfnisse befriedigen können. Ich erwarte nicht mehr von meinem Mann, daß er die Lücke schließt, die mein Vater ließ. Wenn ich gesund bin, werde ich meinen Mann ihn selbst sein lassen können, ihn um seiner selbst willen lieben und nicht als Ersatzvater.
In der Realitätstherapie -wurde meine Neurose verstärkt, weil der Therapeut mein Ersatzvater wurde: Er war freundlich, sanft, aufmerksam und hörte mir so zu, wie mein Vater es nie getan hatte. Daher war ich nicht mehr von mir selber, sondern nur noch von dem Therapeuten abhängig. Auf diese Weise hätte die Therapie endlos gedauert, und Fortschritte wären unmöglich gewesen. Ich habe nicht gefunden, daß die Prämisse der Realitätstherapie stimmt, wonach der Patient, der glauben kann, daß er dem Therapeuten etwas wert sei, dieses Wertsein in anderen Beziehungen zu wiederholen vermag. In der Primärtherapie habe ich Distanz zu meinem Therapeuten. Ich fühle nur mich, meine Einsamkeit und die Wahrheit, daß nur ich allein mich um mich kümmern kann.
Die Primärtherapie konfrontiert mich mit dem, was mich krank machte, und gibt sich nicht damit ab, mir beizubringen, wie ich mein neurotisches Verhalten in neue Bahnen lenken kann. Die Realitätstherapie wollte, daß ich meine Vergangenheit als erledigt und die Gegenwart für belanglos ansehe. Aber die Primärtherapie erkennt, daß die Vergangenheit nicht gedanklich >vergessen< werden kann. Die Vergangenheit muß heraufbeschworen und erinnert werden, und das ist entscheidend und der Kernpunkt der Therapie, sie muß gefühlt werden, damit man frei ist, eine Gegenwart zu haben. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich die Hoffnung, daß die Leere in mir gefüllt und die schwere Last des Urschmerzes von mir genommen werden wird.«
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Transzendentale Meditation
Eine neuere Mode unter Studenten, Musikern und Künstlern, die transzendentale Meditation, wird von Jogis wie Maharishi Mahesh verbreitet. Zur Meditation gehört die Wiederholung eines Mantra (eines Sanskrit-Zauberspruchs) bei gleichzeitiger Konzentration auf das Bild Gottes, ohne sich innerlich oder äußerlich ablenken zu lassen. Atemübungen gehören dazu, so daß im allgemeinen kurz vor der Erreichung des Höhepunkts oder der »Transzendenz« der Atem kaum noch wahrnehmbar ist. All das geschieht inmitten von Blumen, wallenden Gewändern und Weihrauch. Das Ziel ist ein Einssein mit Gott, eine höchste Entspannung, die das Gefühl von Glückseligkeit erweckt. Bei der Meditation soll das irdische Ich transzendiert und das geistige Ich mit dem Ziel der Selbstverwirklichung erreicht werden. Der Gründer des Ramakrishna-Ordens, Vivekananda, beschreibt den Zweck der Meditation:
»Die größte Hilfe für das geistige Leben ist Meditation. Bei der Meditation entziehen wir uns allen materiellen Umständen und fühlen unsere göttliche Natur. Je weniger an den Körper gedacht wird, um so besser. Denn der Körper ist es, der uns herabzieht. Das Gebundensein, die Identifikation, macht uns unglücklich. Das ist das Geheimnis: >glauben, daß ich ein Geist bin und nicht der Körper, und daß das ganze Universum mit all seinen Beziehungen, mit all seinem Guten und all seinem Bösen nur eine Reihe von Gemälden ist, Szenen auf einer Leinwand, die ich betrachte.<«*
Die einzige Möglichkeit, die Meditation zu beschreiben, ist für mich, sie ein Anti-Urerlebnis zu nennen. Sie bedeutet Loslösung statt Verknüpfung, Verleugnung des Selbst, statt es zu fühlen, und sie hält es für nötig, den Geist vom Körper abzuspalten. Sie scheint ihrem Wesen nach solipsistisch zu sein, denn nichts existiert wirklich, es sei denn als Gemälde auf einer Leinwand.
Damit soll nicht gesagt sein, daß Meditation nicht der Entspannung dienen könne. Ein Patient, der viele Jahre ranghoher Vedanta-Mönch war, erklärt, er habe zwölf Jahre lang sein Mantra wiederholt und transzendentale Meditation praktiziert und sich oft in einem Zustand der Glückseligkeit befunden. Aber das Endergebnis all seiner Glückseligkeit war ein völliger Zusammenbruch und das Bedürfnis nach Therapie.
* Swami Vivekananda, Works (Advaita Ashrama 1946), Bd. 27 S. 37.
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Vielleicht muß das erklärt werden. Ich glaube, der Zustand der Glückseligkeit ist die Folge einer vollständigen Unterdrückung des Selbst, wobei man sich einem selbsterschaffenen Trugbild (Gottheit) hingibt, eine Verschmelzung mit diesem eigenen Phantasieprodukt eingeht und einen Realitätsverlust erleidet. Es ist ein Zustand totaler Irrealität, eine sozial institutionalisierte Psychose sozusagen. Wenn uns zum Beispiel ein Patient sagen würde, er sei mit Gott vereinigt, er und Gott seien eins, dann würden wir an seinem Verstand zweifeln. Aber wenn dieser Prozeß durch eine bestimmte Theologie sanktioniert ist, dann neigen wir dazu, über die inhärente Irrationalität hinwegzusehen.
Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß jemand täglich meditieren kann und sich sein Bedürfnis nach Meditation nicht mindert. Irgendwie taucht der Dämon Spannung jeden Tag von neuem auf und muß hinwegmeditiert werden. Die Rituale, Blumen und Gewänder scheinen ein ausgeklügeltes So-tun-als-ob zu sein, denn um sich zu entspannen, bedarf es keiner Rituale. Sie sind vielmehr oft ein Hinweis darauf, daß jemand aus der Entspannung einen Kampf gemacht hat, denn Entspannung bedeutet nicht mehr, als man selber zu sein. Ich glaube nicht, daß man so tun kann, als wäre man man selber. Man ist es einfach.
Existenzpsychologie
Eine weitere Richtung in der heutigen Psychologie ist die Existenzpsychologie. Diese Betrachtungsweise zielt darauf ab, etwas von dem Nachdruck zu mildern, den die Freudianer auf die Erfahrungen der frühen Kindheit legten, und bietet eine mehr dynamische Struktur als die Konditionierungstherapien. Die Existenzpsychologen betonen das Hier und Jetzt. Der Existentialismus befaßt sich mit dem Sein des Menschen. Man kann eigentlich nicht sagen, daß die Existenzpsychologie ein systematisches therapeutisches System darstelle, denn es sind wenige nachprüfbare Hypothesen vorgelegt und auch kein methodischer Versuch unternommen worden, eine systematische Verfahrensweise zu entwickeln. Vielmehr ist die Existenzpsychologie stark philosophisch und bezieht ihre Überzeugungskraft aus den Schriften von Sartre, Binswanger und Heidegger.
Ein heute führender Existenzpsychologe ist Abraham Maslow. Er und Carl Rogers hatten einen signifikanten Einfluß auf das gegenwärtige psychologische Denken*. Sie glauben, es gebe einen Trieb zur psychologischen Gesundheit, den sie Selbstverwirklichung nennen. Maslow meint, dieser Trieb sei nicht definierbar, auf ihn könne nur aus der Beobachtung von Menschen geschlossen werden.
* C. R. Rogers, A Therapist's View of Personal Gifts, Wallingford, Pa, 1960; On Becominga Person, Boston, 1961.
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Maslow sieht die Neurose als eine Defizitkrankheit an; dem Neurotiker mangele es an dem, was er braucht, um sich selbst zu verwirklichen:
»Jedes menschliche Wesen hat beide Arten von Kräften in sich. Die eine klammert sich aus Furcht an Sicherheit und Verteidigung, sie neigt zur Regression und hängt an der Vergangenheit, sie hat Angst ... vor der Unabhängigkeit, Freiheit und Getrenntheit. Die andere Art von Kräften drängt vorwärts zur Ganzheit des Selbst .... zum Vertrauen angesichts der äußeren Welt zur gleichen Zeit, da man sein tiefstes, wirkliches und unbewußtes Selbst akzeptieren kann*.«
Ich betrachte Ganzheit als etwas, mit dem wir geboren sind, und stimme Maslow durchaus bei, daß ein Bedürfnis besteht, real oder ganz zu sein — das heißt, zu sein, was wir sind. Jedoch glaube ich nicht, daß es so etwas wie eine grundlegend neurotische, regressive Kraft in uns gibt — sie ist nur die Folge, wenn wir nicht wir selbst sein dürfen. Ich glaube nicht, daß Angst, besonders die Furcht vor dem Wachsen, ein Grundzug des menschlichen Verhaltens ist.
Für Maslow ist Neurose der Grundkonflikt zwischen Abwehrkräften und Wachstumsbestrebungen. Die Wachstumsbestrebungen sieht er als »existentiell, verankert in der tiefsten Natur des menschlichen Wesens«. Wegen des Bedürfnisses, den Menschen immer nur unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zu sehen, postulieren viele Theorien, das Verhalten des Menschen sei eine ständige Dialektik zwischen etwas Negativem und etwas Positivem.
So sieht Maslow das Sicherheitsbedürfnis als ein »übermächtiges Bedürfnis, das primär noch notwendiger ist als Selbstverwirklichung«. Ehe jemand Risiken eingehen und sich äußern wird, muß er sein mächtigeres Sicherheitsbedürfnis überwinden oder befriedigen. Konflikt wird das grundlegende Paradigma für Wachstum. Ich würde Konflikt nicht als etwas Grundlegendes und Inneres ansehen, sondern glaube vielmehr, daß Neurose die Folge ist, wenn Druck gegen das natürliche Wachstum und die Entwicklungstendenzen des Organismus ausgeübt wird. Ich bin der Auffassung, es gibt keine echte Evidenz für dergleichen wie ein Sicherheitsbedürfnis oder eine Grundangst vor Selbständigkeit und Freiheit. Diese Begriffe scheinen ein Verhalten unter Neurotikern zu beschreiben, aber ich glaube, wir dürfen diesen Verhaltensweisen nicht vorschnell einen konstitutionellen oder genetischen Einfluß zuschreiben.
Was Maslow sagt, ähnelt in mancher Beziehung dem Freudschen Standpunkt — nämlich daß es eine Grundangst gibt, die überwunden werden muß. Maslow nennt das Bedürfnis, die Angst zu beschwichtigen, ein Sicherheitsbedürfnis. Aber durch Benennungen kommt er offenbar noch nicht von einer dämonologischen Auffassung vom Menschen los.
* Abraham Maslow, Psychologie des Seins, München, 1973, S. 60.
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Vielleicht liegt das daran, daß wir psychologische Theorien nach der Beobachtung von Neurotikern aufbauen, denen es gewöhnlich nicht an Dämonen mangelt, die umgebracht werden müssen.
Es sind nicht Defizitbedürfnisse, die uns unreif und neurotisch bleiben lassen. Das bewirkt vielmehr der Mangel an Befriedigung realer Bedürfnisse. Jedenfalls kann ich nicht einsehen, daß bestimmte Bedürfnisse nur einen Teil von uns in Anspruch nehmen sollen. Jedes Bedürfnis ist total. Wenn Bedürfnisse nicht befriedigt werden, fehlt uns etwas.
Maslows Selbstverwirklicher ist einer, der Gipfelerlebnisse zu haben vermag — jene Geschehnisse außerhalb der Zeit und des Raums, bei denen das Selbst transzendiert wird und der Betreffende einen fast Nirwana-ähnlichen Zustand erreicht. In der existenzpsychologischen Literatur wimmelt es von Erörterungen über Gipfelerlebnisse: Ein Gipfelerlebnis zu haben ist recht verlockend. Viele von uns würden gern das Elend und die Trostlosigkeit unseres tagtäglichen Lebens transzendieren. Aber wie man das eigentlich macht und was ein Gipfelerlebnis genau ist, wird von Maslow nicht verdeutlicht. Es ist wohl eher ein mystisches Geschehnis. Da in Maslows Werk keine präzisen Beispiele angegeben sind, stütze ich mich auf die Beschreibungen der Gipfelerlebnisse von zwei Patienten, die früher an der Existenz-Gruppentherapie teilgenommen haben. Der erste war ein Mann, der tagelang depressiv gewesen war. Nach einer Woche dieser Depression kam ein Freund zu ihm und schlug vor, zusammen im Gebirge zu klettern. Sie bestiegen einen steilen Berg, und der Depressive war sehr heiter gestimmt. Er nannte es — ohne ein Wortspiel machen zu wollen — ein Gipfelerlebnis. Was hatte er gemacht? Er hatte seine Depression abgeschüttelt. Er hatte einen Abwehrmechanismus in Gang gesetzt. Hat er die an der Depression beteiligten realen Gefühle transzendiert? Ich bezweifle es. Diese Gefühle waren nur eine Zeitlang beiseite gelegt.
Das zweite Gipfelerlebnis ereignete sich während eines Nackt-Marathons. Der Mann wurde von einem Gruppenmitglied zum nächsten weitergereicht. Alle tätschelten und streichelten ihn. Er fühlte sich mit einemmal ganz warm. Er nannte es »einen Augenblick des Einsseins mit der Menschheit«. Was war es in Wirklichkeit? Er bekam endlich, was er zu brauchen glaubte: etwas Wärme und menschliche Liebkosungen. Aber es war nur ein momentanes Erlebnis und stand nicht im Zusammenhang mit dem großen Urschmerz um das, was er sein ganzes Leben lang gebraucht hatte. Das Berühren in der Gruppe erstickte seine schmerzhafte Spannung und ermöglichte ihm daher, das, was real war, zu transzendieren. Sein Nirwana war irreal.
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Nach meiner Ansicht ist Transzendenz das, was alle Neurotiker dauernd tun — sie transzendieren ein reales, fühlendes Selbst. Welches Nirwana sie nach ihrer Vorstellung auch erreicht haben, es muß ein irrealer Zustand sein, denn was sie brauchen, ist ein in das reale Fühlen selbst deszendierendes Erlebnis.
Das Streben nach einem Gipfelerlebnis scheint oft nur ein weiterer Kampf zu sein, um in einem ansonsten langweiligen, eintönigen Dasein etwas Einzigartiges zu finden. Es ist Teil einer irrealen Hoffnung.
Wenn zugelassen wird, daß ein reales Selbst sich entwickelt und gedeihen kann, wenn es immer von den Eltern akzeptiert wurde, dann sehe ich keinen Grund, warum jemand den Wunsch haben sollte, es zu transzendieren. Patienten, die die Primärtherapie abgeschlossen haben, berichten nie von Gipfelerlebnissen, von denen Maslow spricht. Alle Gipfel sind abgeflacht worden, weil sie durch die Neurose weder zur Euphorie noch zu tiefster Verzweiflung getrieben wurden. Total man selbst zu sein ist ein aufregendes Gefühl.
Die Existenzpsychologen versuchen, von grundlegenden Angstantrieben und instinktiven Kräften auszugehen und sich auf die Prozesse der Selbstverwirklichung zu konzentrieren — jene Triebe, die uns zur Gesundheit fuhren. Rollo May und seine Mitarbeiter erklären teilweise den existenzpsychologischen Standpunkt: »Charakteristisch für den Neurotiker ist, daß seine Existenz verdüstert ..... vernebelt ist und sein Handeln nicht billigt. Es ist das Ziel der Existenzpsychologie, daß der Patient seine Existenz als real erlebt*.« Das ist dem Ziel der Primärtherapie ähnlich. Aber eben die Terminologie der Existenzpsychologie vernebelt die Realität, mit der wir zu tun haben. Was genau ist Existenz? Was bedeutet es, wenn die Existenz vernebelt ist?
Engagement ist ein wichtiger Faktor in der Existenzpsychologie. Das Ziel ist, dem Patienten zu helfen, sich aus der existentiellen Leere herauszureißen und sich für etwas Positives und Vorantreibendes zu engagieren. Die Existenzpsychologen meinen, daß man durch das Engagement ein Gefühl für das Selbst erlangt. Aber um das Selbst für etwas zu engagieren, muß ein Selbst da sein, das sich engagieren kann. Der Neurotiker hat die Mehrzahl seiner Handlungen abgespalten und kann sich daher der Definition nach gar nicht ganz für etwas engagieren. Ein Kaufmann, der sich total für sein Geschäft engagiert, versucht gewöhnlich, sein irreales Selbst dafür einzusetzen, und wenn er fühlen würde, was er tut, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht so total engagiert für sein Geschäft sein.
Klinisch gesprochen ist die existentielle Einstellung der rationalen Schule ähnlich. Ein Homosexueller würde durch Engagement für heterosexuelle Akte ein Gefühl für seine Heterosexualität erhalten.
* Rollo May, Ernest Angel und Henri Ellenberger, Existence, New York, 1960.
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Aber ich glaube, bei der Neurose handelt es sich nicht bloß darum, was man tut; sie besteht in dem, was man ist. Jemand kann Dutzende von heterosexuellen Akten erleben und doch homosexuell sein, weil das Fühlen und das Bedürfnis auf die Liebe eines Gleichgeschlechtlichen gerichtet sind. Ein Akt wird dieses Bedürfnis nicht wegspülen. Das ist die irrige Ansicht des »latenten« Homosexuellen, der durch einen heterosexuellen Akt nach dem anderen seine homosexuellen Neigungen auszutreiben (und sogar sein Bedürfnis nach elterlicher Liebe zu leugnen) versucht — alles vergeblich. (Vgl. den Abschnitt über Homosexualität.) Jemand wird vielleicht niemals Homosexualität praktizieren und sich dennoch homosexuell fühlen. Ein neuer Akt ist bei einem Neuro-tiker immer möglich, aber seine Neurose wird das kaum ändern.
Im großen und ganzen reden die Existenzpsychologen über Engagements des Patienten, sein Hier- und Jetzt-Verhalten und seine Lebensauffassung. Ich glaube nicht, daß sein »Sein« durch Reden geändert werden kann. Für mich bedeutet »Sein« Fühlen. Reden ist etwas, das (beim Neurotiker) oft das Fühlen überlagert. Es läßt ihn »geistig« bleiben, so daß er unmöglich sein wahres »Sein« fühlen kann.
In den Sozialwissenschaften wird mit »Rapprochement« der Versuch einiger Theorien bezeichnet, sich mit anderen Theorien zu vereinigen und damit ihre Position zu stärken. So finden wir, daß Freudsche Theoretiker ihre Begriffe in den Kontext einer Lerntheorie einbringen, um ihre Theorie lebensfähiger zu machen. Oder wir finden das Gegenteil; Lerntheoretiker versuchen, ihre Betrachtungsweise »dynamischer« zu machen, indem sie Freuds dynamischere Begriffe, in ein Lernmodell einfügen. Aber dieser Ausgleich von Unterschieden zwischen den verschiedenen Theorien ist oft mehr scheinbar als wirklich und führt zu eher »statistischen« als biologischen Wahrheiten. Das heißt, wenn Freud in einer anderen Ausdrucksweise oder die Lerntheorie in einer dynamischeren Ausdrucksweise erklärt werden, dann haben wir nur auf eine schmackhaftere Weise genau dasselbe gesagt wie früher. Ich glaube nicht, daß es nützlich ist, von der Kastrationsangst in der Ausdrucksweise des Annäherungs- und Vermeidungs-(approach-avoidance)-Konflikts zu sprechen, wenn es überhaupt keine Kastrationsangst gibt.
Wenn wir die Geschichte des psychologischen Denkens seit der Jahrhundertwende betrachten, rinden wir zuerst eine Betonung der frühen Kindheit und eine Konzentration auf die Introspektion. Um dem entgegenzuwirken, haben die Behavioristen oder Lerntheoretiker Introspektion und frühe Kindheit vermieden und sich auf das Verhalten konzentriert. Dann wurden von Neofreudianern Versuche unternommen, die Freudsche Therapie-Analyse durch die psychoanalytische Ich-Psychologie zu modernisieren — eine Konzentration auf die gegenwärtigen Abwehrmanöver des Patienten.
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Auch wenn man alle Modifizierungen von Freud berücksichtigt, die so progressiv erscheinen, kam der frühe Freud dadurch, daß er durch die Erforschung der frühen Kindheit vergangene und jetzige erhellende Probleme zusammenfaßte, dem Standpunkt der Primärtherapie am nächsten.
Die Primärtheorie weicht stark von behavioristischen Vorstellungen ab. Der Behaviorismus scheint das Symptom zu abstrahieren und zu versuchen, irreales Verhalten zu konditionieren oder zu dekonditionieren. Das klappt eher bei irrealen Symptomen als bei Ursachen und kann daher keine realen Veränderungen bewirken.
Die Primärtheorie behauptet, daß der Mensch weder eine Sammlung von Gewohnheitsmustern noch eine Masse von Abwehrmechanismen gegen Dämonen oder Triebe ist. Wenn eine Person ihre primären Wünsche und Bedürfnisse empfinden kann, ohne den Verlust von Liebe befürchten zu müssen, dann empfindet sie ihr »Sein«. Wenn sie es nicht kann, ist sie, um den existentialistischen Begriff zu gebrauchen, ein »Nichtwesen«. Ich glaube nicht, daß eine besondere Anstrengung, eine Sublimierung oder Kompensation irgendeiner Art ein neurotisches Nichtwesen in einen fühlenden Menschen verwandeln kann. Um zu sein, was er ist, muß der Neurotiker zu dem zurückkehren, was er war, ehe er zu »sein« aufhörte, und muß es fühlen. Ein Patient drückte es so aus: »Um zu sein, was man ist, muß man sein, was man nicht war.«
Zufriedenheit oder Glück, oft das Ziel der Psychotherapie, ist meiner Ansicht nach nicht das Ergebnis angesammelter Einsichten, auch nicht die Lieder, die gesungen, oder die Mantras, die wiederholt werden, auch wird es nicht aus der Erlangung »positiver« Gewohnheiten gewonnen. Ich glaube, wenn es ein therapeutisches Ziel ist, dem Patienten dazu zu verhelfen, daß er sich zufrieden fühlt, dann kann ein solches Gefühl nur erreicht werden, wenn der Patient schließlich sein reales Selbst freilegt. Durch das irreale Selbst erlangtes Glück wird genau das sein — irreal. Reales Glück bedeutet also, daß das alte Unglücklichsein aufgelöst und aus dem Weg geräumt ist.
Eine Reihe von Therapeuten hat mir gesagt, sie seien gelegentlich Zeuge eines Urerlebnisses gewesen, besonders bei der Marathon (die ganze Nacht dauernden) Gruppentherapie. Gewöhnlich ist es als Hysterie behandelt worden, die Leute stürzten hin, um zu trösten und um das Gefühl zu ersticken, statt zu helfen, daß es sich entwickele. Hätten sie sich von der Primärtheorie leiten lassen, hätten sich diese Hysterien vielleicht als signifikant herausgestellt. Das Ziel der Marathon-Therapien ist im allgemeinen konstruktiv, und seltsamerweise »vergessen« viele Therapeuten ihre Theorien, wenn sie an einem Marathon teilnehmen. Gewöhnlich versuchen sie, das Abwehrsystem der Patienten bei einem Marathon zu ermüden, und manchmal gelingt es ihnen. Aber
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wenn man keine Vorstellung von dem hat, was geschieht, wird ein Marathon oft eine Erschöpfungsübung, bei der die Patienten aus der Haut fahren, zusammenbrechen und weinen, sich nahe kommen und vertraut werden, aber doch nicht diese primären Schlüsselverknüpfungen herstellen, die aus dem Marathon ein anhaltendes Erlebnis machen könnten.
Eine rasch um sich greifende Variante der Marathontherapie ist das Nackt-Marathon. Berufsorganisationen ziehen heute oft einen in diesen Techniken erfahrenen Fachmann hinzu, wenn Seminare abgehalten werden. Das Nackt-Marathon ist eine reguläre Gruppentherapie in unbekleidetem Zustand. Es betont das Sinnliche und wird oft zeitweise in Swimming-pools abgehalten, wo eine Menge Streicheln und Liebkosen stattfindet, damit die Teilnehmer lernen, wie ein anderer Mensch sich »anfühlt«. Das allgemeine Ziel des Nackt-Marathons ist, den Leuten zu helfen, all das Gekünstelte abzustreifen, das sie trennt, das körperliche Schamgefühl abzulegen und die Menschen einander näher zu bringen. Dieses Verfahren ist ein Teil der allgemeinen Vorstellung, daß Menschen lernen können zu fühlen, sensibel und sinnlich zu werden und ihre Körper zu akzeptieren, indem sie gewisse Dinge durchexerzieren. Obwohl diese Dinge eine interessante Unterbrechung eines vielleicht langweiligen Lebens sein mögen, glaube ich nicht, daß sie jemanden dazu bringen, mehr zu fühlen. Die Tatsache, daß es ein sinnliches Erlebnis zu sein scheint, macht daraus noch keine Therapie.
Ich möchte noch einmal betonen, daß wir nicht lernen, wie ein anderer sich »anfühlt«. Zuerst lernen wir, uns selbst zu fühlen, und wenn wir uns selbst fühlen, können wir auch andere fühlen. Wenn jemand blockierte Gefühle hat, dann wäre es denkbar, daß er den ganzen Tag einen anderen Menschen berührt und befühlt und dennoch kein Gefühlserlebnis hat. Sinnlich zu sein bedeutet dann, dem eigenen Sensorium gegenüber aufgeschlossen zu sein. Wenn das nicht der Fall wäre, könnten frigide Frauen, die sexuelle Promiskuität ausagieren und ständig berühren und streicheln und fühlen, schließlich befriedigt sein. Aber allzu oft berichten sie von einem unaufhörlichem heftigen Verlangen nach Berührung und einer ständigen Unfähigkeit zu fühlen. Wir müssen einen deutlichen Unterschied machen zwischen dem So-tun-als-ob und einem inneren Erlebnis; denn damit Menschen einander näher gebracht werden, müssen sie zuerst einmal sich selbst, ihrem fühlenden Selbst näherkommen. Offenbar werden durch das Einreißen der inneren Gefühlsschranke auch die Schranken zwischen den Menschen beseitigt.
Es wird angenommen, daß Menschen weniger abwehrend gegen andere seien, wenn man sie entkleidet. Um es zu wiederholen: Eine Abwehrhaltung gegen andere ist in erster Linie eine Abwehr gegen das Selbst, so daß Kleider, ob man sie anhat oder nicht, wenig damit zu tun haben.
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Ich sehe nicht ein, wie lebensgeschichtlich entstandene innere Vorgänge geändert werden können durch eine äußere Änderung der Kleidung. Es scheint eine magische Idee zu sein, die einige vertreten, daß, wenn man sich seiner Hosen oder seines Kleides entledigt, innere Schranken fallen werden, die seit Jahren bestanden haben.
Ich habe das so ausführlich behandelt, um den Unterschied zwischen einem inneren und einem äußeren Erlebnis hervorzuheben. Wenn diese Unterscheidung nicht gemacht würde, könnte man sich vorstellen, daß Leute, die schreiend und um sich schlagend auf dem Fußboden liegen, zu dem Glauben verleitet werden, sie erlebten eine Primärszene. Wir dürfen nicht außer acht lassen, daß Aktivitäten, die grundlegende Veränderungen bei Individuen herbeiführen, aus ihren Gefühlen entspringen müssen. Es muß eine fließende Bewegung von innen nach außen sein. Sonst könnte es sein, daß man sich Aktivitäten aller Arten hingibt, mächtig kämpft, und doch die Gefühlsbasis um kein Jota ändert. Man kann den Körper zeigen und sich doch nicht entblößt fühlen, oder den Körper bekleiden und völlig entblößt sein. Sobald die Gefühlsschranke beseitigt ist, werden äußere Reize in das gesamte System eindringen. Dann werden solche Sensitivitätsübungen wie diejenige, daß man die Leute barfuß auf Gras laufen läßt, um ihre sinnliche Erfahrung zu erweitern, einen Sinn haben. Und zwar einen realen Sinn: daß es ein angenehmes Gefühl ist, barfuß auf Gras zu laufen — und nicht irgendeinen mystischen Supersinn.
Psychodrama
Eine in der Gruppentherapie von einer Vielzahl von Therapeuten angewandte Technik ist das Psychodrama. Ich würde es das »Als-ob«-Spiel nennen. Der Patient übernimmt eine vom Therapeuten bestimmte Rolle und agiert, »als ob« er ein anderer oder er selber in einer besonderen Rolle wäre, etwa wenn er seinem Chef freche Antworten gibt. Der Patient übernimmt vielleicht auch die Rolle seiner Mutter, seines Vaters, Bruders oder Lehrers. Aber natürlich ist er nicht einer dieser Leute, deshalb muß er Theater spielen und versuchen, sich wie ein anderer zu fühlen, wenn er sich oft nicht einmal wie er selbst fühlen kann.
Das Psychodrama hat einen begrenzten Wert, zum Beispiel um in einer konventionellen Therapie eine Gruppe aufzulockern, aber im wesentlichen scheint es einem Menschen nur eine weitere irreale Rolle zu bieten, nachdem er die eigene Rolle schon viele Jahre gespielt hat. Bei diesem Spiel übernimmt der Therapeut die Choreographie. Ich glaube, daß der Neurotiker allzu oft gezwungen war, in einem von seinen Eltern verfaßten, inszenierten und schlecht aufgeführten Horrorstück mitzuspielen und seine realen Gefühle zu unterdrücken.
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Es ist eine magische und irrige Auffassung vom Psychodrama, wenn man glaubt, daß jemand, der in einem solchen Stück einer Mutterfigur gegenüber kein Blatt vor den Mund nimmt, es auch im wirklichen Leben fertig bringen werde. Das Schauspielern werde weiterwirken, und der Patient werde vielleicht auf die Dauer aggressiver, ausdrucksfähiger usw. sein. Aber die Person, die eine Rolle übernimmt, ist selbst nicht real, und wie könnte sie so reale Veränderungen ihrer Persönlichkeit und in ihrem Leben bewirken? Sie kann lediglich lernen, noch neurotischer zu sein, indem sie ihr schauspielerisches Talent entwickelt, so daß sie sich nach Stichwörtern richtet, statt nach dem Gefühl.
Es kommt vor, daß ein Mensch in seiner Psychodrama-Rolle ganz aufgeht und wirklich beginnt, die Selbstbeherrschung zu verlieren. Oft wird das unterbrochen, so daß das Gefühlserlebnis abgewürgt wird. Ich habe nie gesehen, daß jemand in einem Psychodrama auf dem Boden lag und in seiner »Rolle« alle Selbstbeherrschung verlieren durfte. Gewöhnlich ist sich die Person dessen bewußt, daß sie eine Rolle ausagiert. Es ist immer noch das erwachsene »Als-ob«-Spiel. Primärpatienten schauspielern nicht. Sie sind die völlig unbeherrschten kleinen Kinder.
All das bedeutet, daß eine Person und ihre Neurose eins ist. Die Fassade zu manipulieren, die Symptome neu zu ordnen, symbolische körperliche und seelische Trips zu bieten, erdachte Rollen in erdachten Situationen spielen zu lassen, nichts von alldedem reicht an den Ursprung der Probleme heran. Die Umgruppierung der Abwehrmechanismen kann ewig weitergehen und wird erst aufhören, wenn der Patient sich selbst fühlen kann. Solange der Urschmerz nicht gefühlt ist, wird eins so wirkungslos sein wie das andere, — ob es nun Psychodrama, Traumanalyse, Sensitivitytraining, Meditation oder Psychoanalyse ist.
Es ist nicht möglich, alle anderen Schulen der Psychologie hier zu besprechen, und ebenso unmöglich ist es, alle Fragen zu beantworten, die die Primärtherapie aufwirft. Ist sie zum Beispiel eine Art Hypnose? Ganz im Gegenteil, obwohl einige der Umstände gleich sind. Neurosen entstehen, wenn Eltern von einem Kind verlangen, daß es sein fühlendes Selbst aufgibt und die Person wird, die die Eltern brauchen. Auch bei der Hypnose lockt eine starke und beruhigende Autorität das reale, fühlende Selbst hinweg und pflanzt dem Patienten eine andere »Identität« ein. Der Hypnotisierte liefert sein Selbst der Autorität aus, genau wie das neurotische Kind sein Selbst den Eltern ausliefert und das wird, was sie erwarten. Hypnose ist die Manipulation der irrealen Fassade. So kann eine nicht-fühlende Person, die im Leben die Rolle eines Professors spielt, zu einem Liberace* auf der Bühne gemacht werden.
* Wladziu Valentine Liberace, in den 1950er Jahren in den Vereinigten Staaten bekannter Stimmungspianist. Anm. d. Übers.
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Die Hypnose kann überhaupt nur herbeigeführt werden, weil bei der Versuchsperson schon eine Spaltung aufgetreten ist. Wenn eine Person nicht fühlt, kann sie zu fast allem gemacht werden. Umgekehrt glaube ich nicht, daß eine Person, die ganz sie selbst ist, zu etwas anderem gemacht werden kann; sie könnte keiner Gehirnwäsche unterzogen und nicht hypnotisiert werden.
Es ist kein Zufall, daß jemand, der in die tieferen Stadien der Hypnose eindringt, mit einer Nadel gestochen werden kann und nichts fühlt. Der Nadelstichtest ist oft ein Hinweis darauf, ob die Person hypnotisiert ist. Ich sehe darin eine Bestätigung der primärtheoretischen Ansicht, daß das reale, fühlende Selbst in der Neurose wie in der Hypnose narkotisiert oder abgestumpft ist. Neurose ist demnach eine längerdauernde, universale Form von Hypnose.
Wenn dem nicht so wäre, wie könnten wir dann die Tatsache erklären, daß der Neurotiker von Urschmerzen heimgesucht wird, deren er sich gar nicht bewußt ist? Es mag sein, daß Hypnose in manchen Fällen einen quasi psychotischen Zustand hervorruft. Wenn jemand Liberace wird, nicht einmal weiß, daß er Liberace ist und kein anderes Bewußtsein hat, worin unterscheidet er sich dann von demjenigen, der in einem Irrenhaus Napoleon geworden ist? Bei der Neurose, Psychose und Hypnose haben wir es mit der Abspaltung des Gefühls und der Aufdrängung irrealer Identitäten zu tun. Neurotische Eltern drängen unbewußt ihren Kindern diese Identitäten oder Rollen auf, während der Hypnotiseur es bewußt tut. Er kann es tun, weil manche Menschen bereit, ja sogar begierig sind, sich einem anderen auszuliefern, um ein braves Kind oder eine gute Versuchsperson zu sein.
Die Primärtherapie ist das Gegenteil von Hypnose, denn sie führt eine Person zu ihren eigenen Gefühlen und weg von dem, was sie nach den Erwartungen anderer sein soll. Wenn Sie total in der Gegenwart verwurzelt sind, ist es unwahrscheinlich, daß jemand einen Teil von Ihnen hinweglocken und mit dem Rest von Ihnen einen »Identitätstrip« unternehmen kann. Eine reale Person könnte weder Napoleon noch Liberace werden. Sie kann nur sie selbst sein.
Viele Neurotiker, die ihre Therapie beendet haben, erklären, daß ihr früheres Leben wie ein Trancezustand gewesen sei. Weil sie von der Vergangenheit beherrscht waren, merkten sie kaum, was in ihrem Leben vorging. Eine Patientin beschrieb es als eine ständige Benommenheit. Sie wollte so sein, wie sie glaubte, daß andere Leute sie haben wollten, bloß um mit ihnen auszukommen. Ist das nicht genau das, was der Hypnotisierte tut? »Ich will so sein, wie du mich haben willst (Pappi).«
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laura
Auf den Unterschied zwischen der Primärtherapie und anderen Therapien weist Laura hin, die viele von ihnen selbst erlebt hatte. Laura, deren Fall an einer anderen Stelle dieses Buches kurz erwähnt ist, hat eine ausgezeichnete, anschauliche Schilderung eines Urerlebnisses geschrieben und gezeigt, wie dabei das gesamte psychophysiologische System einbezogen wird.
Ich begann die Primärtherapie vier Wochen vor meinem dreißigsten Geburtstag und ich bin jetzt zehn Wochen dabei. Ich hege keinerlei Zweifel an ihrer Stichhaltigkeit.
Ich bin ein typisches Beispiel für das Versagen von Gesprächstherapien, denn nach sieben Jahren (mit Unterbrechungen) der grundlegenden Techniken und drei verschiedenen Therapeuten kam ich zur Primärtherapie, unfähig zu fühlen. Mit anderen Worten, sieben Jahre der Therapie hatten noch nicht einmal die erste Schranke vor dem »Gesundwerden« (d. h. real und fühlend zu werden) beseitigt. Es wäre eine Zeitverschwendung, hier langatmig über meinen Ärger über die Verschwendung von Zeit (die der Arzte und meine eigene) und von Geld in diesen sieben Jahren zu berichten. Im letzten Jahr und bei meinem letzten Therapeuten (einem Existenztherapeuten) kam ich zu der einzigen Schlußfolgerung in diesen sieben Therapiejahren, die etwas taugte: daß ich im Begriff stand, etwas Entscheidendes zu erleben, daß ich es aber nicht fühlen konnte. Ich glaubte, ich würde verrückt, und ich glaubte, ich würde etwas Schreckliches über mich herausfinden. Jetzt begreife ich, daß das, was ich im Begriff stand zu erleben, tatsächlich Fühlen war!
Ich kann nicht alle Unterschiede zwischen dieser und meiner früheren Therapie aufführen. Mit der Primärtherapie klappt es. Sie ist nicht in dem Sinne hilfreich, daß ich mich durch sie »besser fühle« oder besser »funktioniere«. Es ist sehr einfach, gut zu funktionieren, aber das Funktionieren ist nicht unbedingt ein Anzeichen von Fühlen oder Wohlbefinden. Ich bin mir klar, daß die meisten Menschen dieser Einschätzung nicht zustimmen. Von mir selbst und anderen, von denen ich weiß, daß sie prächtig funktionieren, kann ich ehrlich sagen, daß Funktionieren kein Zeichen von Gesundheit ist.
In meinem Fall zeigte es nur, daß ich
1. schon in jungen Jahren gelernt hatte, daß ich schauspielern müßte, um geliebt zu werden;
2. das auch glaubte (wenn ich nur richtig schauspielern könnte, würde ich geliebt werden);
3. diese Liebe so dringend brauchte, daß ich auch weiter schauspielern würde, obwohl ich davon erschöpft war und auch eigentlich gar nicht schauspielern wollte; und
4. eine gute Methode gelernt hatte, um mich selbst zu täuschen (und zwar: »wenn ich das gut mache, dann kann ich nicht sehr krank sein«). Vor ungefähr drei Jahren schluckte ich neunzig Schlaftabletten, um Selbstmord zu begehen.
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Ehe ich die Tabletten nahm, hatte ich mein Haus saubergemacht, die Bettwäsche gewechselt, geduscht und mein Haar gewaschen. Bis zu jenem Augenblick, dem Augenblick, in dem mein Verstand und meine Gefühle vollständig getrennt waren, hatte ich mich in meinem Beruf prächtig bewährt und war eine vorbildliche Hausfrau gewesen.
Noch etwas verwirrte mich und andere bei der heutigen Therapie, die einem dazu verhilft, sich besser zu fühlen und zu funktionieren. Wenn meine Eltern mich nicht liebten, was sie tatsächlich nicht taten; wenn ich in Wirklichkeit allein war, was ich tatsächlich bin; wenn in der Welt Hunger und Aufruhr herrschen, was offenkundig ist - warum sollte ich mich dann besser fühlen? Ich wollte es mit der rationalen Therapie versuchen. Einmal war ich bei Dr. K. (einem rationalen Therapeuten) zur Einzelstunde. Damals fand ich ihn sehr klug, hauptsächlich, weil er streng mit mir war.
Ich erinnere mich teilweise an das Gespräch. Ich sagte: »Ich kann es einfach nicht ertragen. Ich wünschte, mein Freund würde mich besuchen, und ich wünschte, ich müßte ihn nicht darum bitten.« Dr. K. sagte: »Nun, ist das nicht ein lächerliches und irrationales Gefühl? Wer sind Sie denn, daß Sie glauben, er müßte Sie anrufen? Wenn Sie ihn sehen wollen, warum rufen Sie ihn dann nicht an ?« Oberflächlich betrachtet war nichts unlogisch an dem, was er sagte. Dennoch ist Dr. K.'s Ansicht, daß die Änderung des Denkens die Gefühle ändern wird, ganz gewiß irreal.
In der Primärtherapie habe ich gelernt, und zwar nur über das Fühlen (und nicht durch Ausknobeln), daß hinter alledem mein unbefriedigtes Bedürfnis steckt, von meinen Eltern geliebt zu werden. Das ist ein Grundbedürfnis, das Bedürfnis nach Liebe. Hätten sie mich geliebt, dann hätten sie mich das sein lassen, was ich war, und hätten mir gegeben, was ich brauchte. Da sie beide kleine Kinder und selbst krank waren, konnten sie mir nur geben, was sie geben wollten, nicht was ich brauchte. Da sie außerdem selbst nicht vollständig, nicht ganz, waren, verlangten sie, daß ich für sie schauspielere - statt nur zu sein, was ich war. Mit etwa fünf Jahren hörte ich auf, eine reale, fühlende Person zu sein. Es wurde klar, daß ich nicht bekommen konnte, was ich brauchte — nämlich ich zu sein; deshalb hörte ich auf zu fühlen und begann zu schauspielern. Das war der Beginn meiner Krankheit. Alles, was ich seit dieser Zeit tat, war immer weiter entfernt von dem, was ich wirklich war und was ich wirklich brauchte. Je mehr ich mich von meinen realen Gefühlen trennte, um so kranker wurde ich. Ich lernte zu schauspielern, um zu überleben, um den Schmerz darüber nicht zu verspüren, daß ich nicht bekam, was ich brauchte — ihre Liebe.
Die Symptome oder Manifestationen dieses Bedürfnisses ändern heißt nicht, die Krankheit heilen. Dr. K. wollte, daß ich real handle und mich gut benehme, aber er scheint nicht zu verstehen, daß mich das weder real noch gesund macht.
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Indem er mir meine Gefühle des Augenblicks verweigerte, verweigerte er mir jede Chance, gesund zu werden. Dr. K. konnte damals gut fragen, wie ich mich von diesem »irrationalen« Wunsch, daß mein Freund mich anrufen sollte, befreien würde. Nachdem ich das wirkliche Bedürfnis empfunden hatte, verschwand das neurotische Verhalten - denn es war nur eine Verschleierung des wirklichen Bedürfnisses. Das mag wie ein Wunder klingen, und so kam es mir auch vor, aber es war sehr real. Je mehr ich fühle, um so weniger agiere ich aus. Je mehr ich zulasse, daß ich (in der Therapie) mich als das Baby mit dem sehr realen Bedürfnis nach der Liebe meiner Eltern fühle, um so freier bin ich von dem Bedürfnis — frei, erwachsen, allein, getrennt zu sein; frei, die Gesellschaft von anderen zu genießen und zu wissen, daß ich nie bekommen werde, was ich von meinen Eltern brauchte, und daß keiner diese Lücke für mich ausfüllen kann.
Es gibt noch weitere Unterschiede zwischen Primärtherapie und den meisten anderen heutigen Therapien.
Zunächst einmal sind natürlich die Techniken unterschiedlich. Ein weiterer wichtiger Unterschied, der offensichtlich auf mich sehr stark wirkte, ist im Therapeuten zu sehen. Die Übertragung, die wir von Mutter und/oder Vater auf den Therapeuten vornehmen, wird von selbst geschehen, ebenso wie im Leben, denn das Bedürfnis nach Mutter oder Vater ist niemals befriedigt worden. Daher braucht sich ein Therapeut nicht wie eine Mutter oder ein Vater zu verhalten, damit man diese Gefühle empfindet. Tatsächlich wird, wenn er sich wie ein guter oder schlechter Elternteil verhält (statt eine reale Person zu sein), dem Patienten dieselbe Heuchelei zugefügt, die ihm immer von seinen Eltern zuteil wurde. Daher muß ein Therapeut mit seinen Patienten real sein. Nur dann wird er Heuchelei und Lügen von seinem Patienten zurückweisen.
Meine erste Therapeutin war eine sehr nette, sehr verständnisvolle Dame. Sie versuchte mir dazu zu verhelfen, daß ich mein »schlechtes« Verhalten verstehe und einen Sinn in meinem sinnlosen Leben zu Hause sehe. Ich war damals sechzehn Jahre alt, schwänzte unentwegt Schule, meine Eltern waren geschieden, mein Vater versuchte mich dazu zu bringen, seine Ehe wieder zu flicken, meine Mutter lebte mit einer Frau zusammen, und meine Schwester und ich wohnten bei meiner Mutter. Das erschien mir nun einfach sinnlos, und ich freue mich heute sagen zu können, daß ich damit recht hatte.
Die größte Erleichterung ist, daß ich weiß, daß allein mein Kampf gegen die Verrücktheit ringsum mich geistig gesund erhielt (das einzige, was mich teilweise mit meinen realen Gefühlen in Verbindung bleiben ließ). Dennoch hätten mich diese Therapeuten zur Schlachtbank geführt wie ein Lamm, und genau wie meine Familie hat jeder von ihnen dazu beigetragen, daß ich kein Zutrauen zu meinen eigenen echten Gefühlen hatte (das einzige, was mich hätte retten können), und meine Verwirrung verstärkt.
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Ich spürte, daß rings um mich alles verrückt war, aber die Welt sagte, ich sei verrückt. Sie sagten, ich sei ein böses Mädchen, und da ich ein Kind war, sollte ich diese Heuchelei, die sie mir auftischten, gefälligst ohne Widerspruch hinnehmen, und das sollte meine Realität sein. Es war die tatsächliche Lage der Dinge, aber keine Realität. Zum Glück verschwand der Kern von Realität in mir, meine realen Gefühle und Bedürfnisse, nicht. Das kleine, noch nicht fünfjährige Mädchen (ein reales kleines Mädchen, das seine eigenen Wahrheiten kennt und sich nach Wahrheit und realen Gefühlen ringsum sehnt) war nicht umgebracht worden. Diese Therapeutin hatte keine Ahnung, daß sie, wenn sie auch nur einmal an dieses reale kleine Mädchen in mir herangekommen wäre, Erfolg gehabt hätte.
Mein zweiter Therapeut ließ mich mehr als zwei Jahre lang über meinen Mann reden. Er versuchte oft, mich zu veranlassen, über mich zu reden, aber es gelang nicht. Ich habe in Gegenwart von keinem meiner Therapeuten jemals richtig geweint. Ich kam oft zu spät zur Therapie. Alle drei Therapeuten wußten, daß ich auf diese Art und Weise etwas tiefer Sitzendes ausagierte, aber da sie sich als Ersatzeltern aufführten, die sie zu sein glaubten, haben sie mich nur gescholten und darüber diskutiert, und sieben Jahre lang kam ich regelmäßig zu spät zur Therapie. Zur Primärtherapie kam ich nur einmal zu spät. Art Janov erklärte mir, ich würde keine Therapie mehr erhalten, wenn ich je wieder zu spät käme. Damit war er kein guter Vater für mich, obwohl ich wünschte, mein Vater hätte dergleichen getan. Janov wandte nicht bloß eine gute Methode an (obwohl seine Methode gut war - denn es klappte damit), er war real zu mir. Vor allem gab er mir nicht, was ich begehrte (nämlich seine Anerkennung), er gab mir etwas viel Wichtigeres: Er gab mir, was ich brauchte.
Es ist eine Schande, daß keiner meiner früheren Therapeuten etwas von diesem Bedürfnis wußte. Statt dessen ließen sie mich in ihren Sprechzimmern weiterhin ausagieren, schauspielern und all das tun und sagen, was meine realen Bedürfhisse verschleierte. Sie gingen auf meine Wünsche ein. Sie ließen mich noch und noch über Nichtigkeiten drauflosreden, während ich gebraucht hätte, daß sie mich ruhig, real und ohne Schauspielerei hätten sein lassen. Sie waren mir behilflich, meine Gefühle zu verhüllen, meine Gefühle hinter meiner Schauspielerei für sie - meine Mütter und Väter - zu verbergen.
Ich spreche so ausführlich von dieser Therapie im Gegensatz zu anderen Therapien, weil mir das den meisten Eindruck gemacht hatte. Es ist für mich erstaunlich, daß nach so viel Verwirrung die Dinge in wenigen Wochen der Primärtherapie so einfach werden konnten. Heute scheinen sich mehr Therapeuten darüber klar zu sein, daß ihre Patienten nicht gesund werden, und es gibt eine Unmenge neuer Ideen und Methoden.
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Bei den neueren Therapien, wie der Existenztherapie, den Marathon-Gruppen, den Selbsterfahrungsgruppen, läßt man es zu und ermutigt sogar dazu, daß sich die Menschen viel freier äußern als je zuvor, und das gibt ihnen vorübergehend ein großes Gefühl der Erleichterung.
Die Patienten weinen in der Öffentlichkeit, vielleicht zum erstenmal. Sie bringen verborgene Gedanken zum erstenmal zum Ausdruck. Sie agieren Angst, Wut, Kränkungen, Schmerz, Freude usw. aus. Ich spreche hier aus persönlicher Erfahrung, denn ich nahm an einem ein ganzes Wochenende dauernden Marathon teil, zusammen mit etwa sechzehn Personen und zwei Therapeuten. Damals war ich bei meinem dritten Therapeuten, und in dieser Zeit wurde mir klar, daß mir etwas Entscheidendes bevorstand. Daher verspürte ich ein großes Gefühl der Erleichterung bei diesem Marathon und glaubte, es sei eine sehr lohnende Erfahrung. Aber es war niemand da, um uns auf das Bedürfnis hinzuweisen, aus dem all die Ängste, Wut, Schmerzen und Freude entspringen, die wir empfanden.
Noch eine andere große Gefahr ist mit diesen neuen Methoden verbunden, und das ist der Nachdruck, der auf Zuneigung unter den Gruppenmitgliedern, Interaktion, Interdependenz und das gegenseitige Trösten gelegt wird. All das Trösten, das vor sich geht, fordert nur die Verschleierung des realen Bedürfnisses, und solange man das reale Bedürfnis durch Trost von anderen ersetzen kann, wird man dieses Bedürfnis nicht empfinden. Diese Marathons sprechen oft Anerkennung aus für das flagranteste Ausagieren (in Ehen und Freundschaften, im Beruf und mit den Eltern usw.) statt Fühlen zu fordern. Nach meinem ersten Urerlebnis in der Primärtherapie wußte ich, daß das die Wahrheit war, daß ich allein war, und daß es nichts gab, was ich von einem anderen bekommen könnte und das dieses Grundbedürfnis befriedigen würde. Nachdem ich das reale Bedürfnis empfunden hatte, genügt kein Ersatz mehr.
Das Urerlebnis ist ein tiefes Fühlen und zum Ausdruckbringen unserer verborgensten Bedürfnisse. Ich habe vorher nie dergleichen gefühlt, außer vielleicht beim Orgasmus. Nach dem Orgasmus weinen viele Frauen. Ich tat es oft. Jetzt erkenne ich, daß es daran liegt, daß ich - zur Zeit des Orgasmus - dem Fühlen dieses realen Bedürfnisses am nächsten kam. Nach einem Urerlebnis (obwohl ich dabei keine Kontraktionen in der Vagina spüre) stelle ich eine starke Sekretion aus der Vagina fest. Tatsächlich sondert während meinen Urerlebnissen mein ganzer Körper Flüssigkeit ab. Es ist, als ob der ganze Schmerz aus mir herausliefe. Meine Augen tränen, die Nase läuft heftig, mein Mund ist offen und Speichel fließt heraus, aus den Poren tritt Schweiß und aus der Vagina Fluor aus. Manche Urerlebnisse sind freier als andere. Mein Körper scheint zu wissen, wieviel ich ertragen kann, und läßt nur ein bißchen auf einmal heraus.
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Wenn ich nicht zum Fühlen bereit bin, wehre ich mich gegen das Fühlen, und es kommt nur wenig heraus. Aber die größte Erleichterung verspüre ich, wenn ich die Selbstbeherrschung ganz verliere, in einem solchen Augenblick habe ich keine Gedanken. Es ist immer noch erstaunlich für mich, wie es geschieht, denn ich tue nichts dazu. Und nachher kann ich mir nicht zusammenreimen, wie es geschah, aber ich bin immer froh, daß es geschah. Ich verspüre keinerlei Kampf mehr; das ist die größte Erleichterung, die ich je empfunden habe; Wörter und Schluchzen und Laute stürzen aus mir heraus - und sie sind überhaupt nicht mehr gelenkt. Dabei gibt es kein Denken, nur Fühlen. Was immer herauskommt, ist eine Überraschung für mich, insofern als daß ich keinerlei Einfluß daraufhabe, welche Richtung das Urerlebnis einschlägt, und dennoch ist es keine Überraschung insofern, als daß ich das Gefühl habe, daß es die Wahrheit ist, das reale Bedürfnis, die reale Lösung all der Verworrenheit, mit der ich das Bedürfnis zugedeckt hatte.
Es ist traurig, daß ich einen so großen Teil meines Lebens damit verbracht habe, mich gegen das Fühlen zu wehren, denn der Kampf ist die Qual, und das Fühlen ist Erleichterung. Es ist auch schmerzhaft. Es ist eine Erleichterung, den Kampf aufzugeben - fünfundzwanzig Jahre Kampf. Es ist schmerzhaft, zu fühlen, zu wissen, daß das Bedürfnis nie befriedigt - nur gefühlt werden kann. Der Kampf hat mich davon abgehalten, diesen Schmerz zu fühlen, den Schmerz, daß ich allein bin und meine Eltern nicht real machen oder dazu bringen kann, mich zu lieben — ich kann nur mein Bedürfnis empfinden.
Meine Urerlebnisse waren wie gesagt von unterschiedlicher Intensität. Die freiesten waren alle sehr einfach und ganz direkt. Das erste hatte ich in der ersten Woche der dreiwöchigen Einzeltherapie. Es fing damit an, daß mir kalt war. Ich habe immer sehr gefroren, Hände und Füße waren immer eiskalt, und ich konnte mich nie warmhalten, während andere in meiner Umgebung immer ganz zufrieden zu sein schienen. Als ich auf der Couch lag, fror ich, meine Zähne klapperten, und ich hatte die Arme fest um mich gelegt. Art sagte, ich solle die Kälte in mir wirklich fühlen, und ehe ich wußte, was geschah, lag ich zusammengerollt auf der Seite wie ein Baby und schluchzte: »Ich will meine Mammi.«
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte. Ich hatte es nicht in der Hand. Einen Großteil meines Lebens habe ich mit Weinen verbracht, aber das verschaffte mir niemals Erleichterung. Dieses Schluchzen wurde von einer mir neuen Stimme ausgestoßen, es kam mir realer vor als alles, was ich je erfahren hatte. Der Schmerz war der süßeste Schmerz, den ich je empfunden hatte. Immer habe ich das kleine Mädchen gespielt; mein rechter Fuß war immer einwärts gedreht (wie bei einem kleinen Mädchen), als ob er mich beschützte.
Kaum hatte ich begonnen, mich als ein kleines Baby zu fühlen, da richtete sich mein rechter Fuß auf. Art sah es gleich, als es geschah, und nachher blickte ich hinunter auf meine Füße und sah, daß sie beide ganz gerade nach oben zeigten. Nach dem Urerlebnis blieb ich eine Weile liegen. Es ist immer recht anstrengend, und ich konnte eine Zeitlang nichts tun oder sagen. Meine Hände waren zum erstenmal warm und sind seitdem fast immer warm.
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