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Einführung 

 

 

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Einige Jahre sind seit der Entdeckung der Urschrei- oder Primärtherapie vergangen und fast ebenso viele, seit ich anfing, das Buch »Der Urschrei« zu schreiben. In diesen vergangenen Jahren hat sich in bezug auf die Theorie, die Patienten und die Wissen­schaft der Primärtherapie selbst vieles ereignet. In dem vorliegenden Buch möchte ich diese Ereignisse ausführlich behandeln.

»Der Urschrei« rief unter Akademikern eine durchaus verständliche Skepsis hervor. Das Buch war keineswegs als wissen­schaftliches Dokument gedacht; es war vielmehr der Versuch, eine breite Öffentlichkeit an dem teilhaben zu lassen, was ich für eine bemerkenswerte Entdeckung hielt; eine Entdeckung, die für viele Menschen das Ende ihres Leidens bedeuten würde. »Die Anatomie der Neurose« ist dazu bestimmt, neue Ver­ständ­nis­zusammenhänge darzustellen, die sich seit dem »Urschrei« entwickelt haben. Dabei geht es darum:

  1. den neurophysiologischen Hintergrund für die Primärtheorie zu erläutern;

  2. die Primärtheorie in die Hauptgebiete dessen einzuordnen, was man vom Gehirn und seinen Funktionen weiß;

  3. fortgeschrittene Aspekte der Theorie darzulegen;

  4. über die Nachuntersuchung von Patienten zu berichten, die eine Primärtherapie hinter sich haben;

  5. zu klären, woher Symptome kommen und wie sie sich entwickeln, damit weitere Einsichten in das Gebiet der psychosomatischen Medizin gewonnen werden können;

  6. Forschungsdaten über primärtherapeutische Patienten zu ergänzen, die genaue Messungen hinsichtlich der Ergebnisse der Behandlungen beinhalten.

Man mag sich fragen, warum ein Sozialwissenschaftler eine wissenschaftliche Theorie zuerst der Öffent­lichkeit und erst dann den Wissenschaftlern vorstellt, da fast immer das umgekehrte Vorgehen Brauch ist. Es gibt neben meiner rein persönlichen Verdreht­heit einige folgerichtige Gründe für diese Entscheidung.

Psychotherapie ist nicht lediglich eine Wissenschaft (wenn wir zugestehen, daß es jemals eine wissenschaft­liche Psychotherapie gegeben hat); sie ist ein Berufsstand, der von einzelnen Menschen gebildet wird, die ihren Lebensunterhalt damit bestreiten. Und es ist unrealistisch, von jemandem, der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hat, einen Beruf zu erlernen, plötzlich zu erwarten, seine Tätigkeit von einem Moment zum anderen aufzugeben, nur weil ein anderer eine erheblich abweichende Vorstellung von der Ausübung dieser Tätigkeit hat. 

Die Geschichte »organisierter« Berufe ist voll von Versuchen, das Neue, Unkonventionelle und Unorthodoxe zu unterdrücken. Ich habe meine Erkenntnisse den Menschen übergeben, und sie sind darauf eingegangen. Gerade die starke Erwiderung seitens leidender Menschen aus allen Teilen der Welt hat die skeptischen Fachleute bewogen, ihre Blickrichtung zu ändern, aufgeschlossener zu sein und die Möglichkeiten, die in dieser neuen Therapieform liegen, anzuerkennen.

Dennoch müssen Primärtherapie und Primärtheorie sich der wissenschaftlichen Überprüfung stellen; und ich wende mich mit diesem Buch an die Wissenschaftler wie auch an die gut informierten Laien. Die Primärtherapie hat sich auf dem Gebiet der wissen­schaftlichen Forschung stark engagiert. Heute gibt es am primär­therapeutischen Institut in Los Angeles, wo die Forschungen an Patienten Tag und Nacht vorangetrieben werden, ein voll ausgerüstetes Forschungslaboratorium. Bei ausgewählten Patienten werden täglich Gehirn- und Körpermeßwerte erhoben, Träume mit Monitoren aufgezeichnet und Hirn­strom­bilder während des Schlafes wie auch unmittelbar vor und nach einer therapeutischen Sitzung ermittelt. Einige Ergebnisse dieser Forschung werde ich später noch darstellen. Was wir bis jetzt herausgefunden haben, bestätigt unseren anfänglichen Optimismus hinsichtlich der Wirksamkeit unserer Techniken.

Zweifellos ist es für mich faszinierend zu sehen, wie wir dauerhafte Veränderungen der Hirnströme erzielen — denn dies ist ja ein Hinweis dafür, daß das Wiedererleben einer Primärszene tatsächlich bedeutsame biologische Veränderungen bewirkt. Wenn nach einem Urerlebnis die Körpertemperatur abfällt, so finden wir darin wieder eine Bestätigung für die Gültigkeit der folgenden Auffassung, daß nämlich blockierter Schmerz eine anhaltende Spannung hervorruft, die jedoch dann erlischt, wenn er empfunden wird.

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Es laufen sorgfältig kontrollierte Untersuchungen, die darauf hinweisen, daß weder die körperliche Aktivität, noch die Suggestion, noch die Beziehung zum Therapeuten solche biologischen Veränderungen hervorrufen, sondern die Erfahrung des Urerlebnisses selbst. Primärtheorie und Primärtherapie sind offene Systeme. Die heutige Primärtherapie unterscheidet sich von der des vergangenen Jahres erheblich, und ich weiß, daß sie, wiederum ein Jahr weiter, sich nochmals sehr wandeln wird. Patienten von früher würden die heutige Therapie fast nicht wieder­erkennen, obgleich sich die Voraussetzungen und Hypothesen nur wenig verändert haben; sie wurden jedoch zu einer allgemeineren, umfassenderen Theorie ausgearbeitet und erweitert, aus der sich allgemeingültige Gesetze der menschlichen Entwicklung ableiten lassen.

Wir hatten die Gelegenheit, Patienten, die sich unserer Behandlung unterzogen, länger zu beobachten. Bei einigen sind seit der Therapie Jahre vergangen. Was sie über sich und die Behandlung sagen, ist als einleitende Untersuchung in diesem Buch zu finden. Kein einziger Patient, der durch eine Primärtherapie gegangen ist, würde jemals noch einmal eine andere Art der Behandlung in Betracht ziehen. Dies ist ein wichtiges subjektives Beweisstück für die Stärke und Wirksamkeit der Methode. 

Doch wir hatten auch Mißerfolge; und wir haben vor, sie so bald wie möglich zu untersuchen. Im großen und ganzen handelte es sich dabei um Personen, die vorzeitig die Behandlung abbrachen — für sie war der Schmerz zu groß, und sie zogen es vor, weiterhin mit der Neurose zu leben. Tatsächlich aber ist die Rate unserer Mißerfolge sehr gering. Auch bei unserem sogenannten Versagen sind bedeutsame biologische Veränderungen hinsichtlich der Frequenz des Herzschlags, des Blutdrucks und der Körper­kern­temperatur zustande gekommen. Es bleibt jedoch Tatsache, daß einige Patienten die Behandlung zu früh abbrechen. Für manche ist es nicht leicht, über Monate hinweg Schmerz zu empfinden; allerdings kehren Patienten nicht selten nach einer Unter­brechung in die Behandlung zurück.

Wenn man von mir eine Erklärung forderte, warum dieses Buch nach dem »Urschrei« erschienen ist, würde ich antworten, daß ich vor dem Verstand der Menschen ihr Herz erreichen wollte. Und das bedeutet, daß ich den Menschen helfen wollte zu verstehen, daß Gefühle etwas gelten — etwas richtig zu fühlen ist so etwas wie recht haben. Ich wollte, daß die Menschen ihren Gefühlen und sich selber vertrauen und nicht in den Hirngespinsten von Theoretikern nach Bestätigung suchen.

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Unter den Tausenden von Menschen, die jeden Monat Einlaß in unser Institut suchen, sind es nur die Akademiker, die zunächst einmal Fakten wissen wollen. Und ganz gleich wie viele Fakten wir vorbringen, sie wollen immer noch mehr wissen, da sie ja niemals genug wissen können, um zu ihren Gefühlen zu gelangen. Akademiker haben ein Recht darauf, mehr zu wissen — und dazu soll auch dieses Buch dienen —, aber wenn es ihnen nicht möglich ist zu fühlen, dann werden auch Tatsachen niemals ihre Ansicht und ihr klinisches Vorgehen ändern.

Teil dieses Problems war, daß die Psychologie als Geisteswissenschaft gilt; Psychologen verstehen sich gleichsam als Spezialisten für das Seelische, dabei sollten wir inzwischen wissen, daß die Seele nicht etwas ist, das man vom Leib abtrennen kann, um es zu zerlegen und zu analysieren, als wäre es eine getrennte Entität. Die Psychologie befaßt sich mit den Gefühlen — mit der ins einzelne gehenden Beziehung zwischen den seelischen Vorgängen einerseits und dem Gehirn und den körperlichen Abläufen andererseits wie auch mit der Beziehung zwischen den körperlichen Veränderungen und ihrem Einfluß auf das Seelische — die Psychologie befaßt sich, kürzer gesagt, mit dem ganzen Menschen. Wenn man fühlt, dann versteht man auch die Vorherr­schaft der Gefühle in den psychologischen Schemata.

Der Leser wird wieder Fallgeschichten finden, die die theoretischen Überlegungen begleiten. Ich glaube an die Einheit von Theorie und Praxis. Wenn eine Theorie plausibel und geschlossen, aber von geringem Nutzen für Humanität ist, dann schätze ich ihren Wert sehr gering ein. Die Richtigkeit einer psychologischen Theorie liegt nicht nur in ihren statistischen Daten, sondern in ihrer Eignung, den Menschen zu helfen. Wenn die Primärtheorie des Schlafs und der Träume zutreffend ist, dann muß sie uns erläutern können, warum manche von uns einen schlechten Schlaf haben, warum wir Alpträume haben, und was es braucht, um sich eines erholsamen Schlafes erfreuen zu können. Gerade eine gute Nachtruhe würde vielen Millionen Menschen höchst willkommen sein.

Es ist meine Überzeugung, daß die Primärtherapie mit dem »Jungbrunnen«, nach dem wir immer gesucht haben, verglichen werden kann — als eine Möglichkeit, das Leben zu verlängern. Die wesentlich niedrigere Körpertemperatur, das sehr viel weniger aktive Gehirn und das Fehlen neurotischer Spannung mitsamt den Leiden, die sie verursacht, müssen unser Leben um Jahrzehnte vermehren.* 

Je merklicher die dramatischen Veränderungen während der Primärtherapie sind, um so zufriedenstellender empfinden wir unsere Arbeit. Diejenigen, die diese Behandlung durchführen, meinen, daß es die faszinierendste Arbeit sei, die man sich vorstellen kann. Manchmal drohen uns der Schwarm von Anmeldungen und die Beanspruchungen durch unsere Patienten zu überwältigen. Wir wissen, daß wir nicht mehr als einem verschwindend geringen Bruchteil derer helfen können, die in Not sind, auch wenn wir bevorzugt Professionelle annehmen, um unseren eigenen Stab vergrößern zu können. 

Ein »organisiertes« gesellschaftliches Vorgehen ist vonnöten, getragen von staatlichen Stellen und von Professionellen entscheidend unterstützt. Diese Unterstützung kommt jetzt in Schwung: in einer Stadt der Vereinigten Staaten zum Beispiel stellt sich die gesamte Gemeinde zusammen mit dem Bürger­meister darauf ein, die Probleme von Verbrechen, Drogenabhängigkeit und anderen Neurosen mit einem gänzlich primär­therapeutischen Verfahren anzugehen.

Es wird angenommen, daß der Leser dieses Buches mit den Begriffen der Primärtheorie, so wie sie im »Urschrei« dargestellt wurden, vertraut ist. Dennoch habe ich für diejenigen, die ihre Kenntnisse von den Grundlagen der Primärtheorie auffrischen wollen, einen Grundriß der Theorie als Prolog aufgenommen. Was Sie in »Anatomie der Neurose« lesen werden, ist erst ein Anfang. Aber ich habe das Gefühl, es ist ein guter Beginn.

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* Professor Bernhard Strehler trug zu einer Bestätigung dieses Gesichtspunktes bei. Er führte 1971, auf der Tagung für Biologie in der Schweiz, aus, daß ein Abfall der Körpertemperatur um 3,6 Grad »das menschliche Leben fast sicher um eine Zeitspanne von zwanzig Jahren verlängern würde«.

 

 

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