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Die Primärtheorie 

 

 

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Antonin Artaud war ein französischer Schauspieler und Regisseur. Er wurde 1896 geboren und erreichte ein Alter von 52 Jahren; neun davon hat er in Irrenanstalten verbracht. Für ihn hatte das Theater eine revolutionäre Aufgabe; ein Stück sollte die Welt erneuern, nicht unterhalten. 

"Der Zuschauer sollte das Theater nicht gähnend oder lächelnd verlassen, er muß betroffen und verängstigt sein, wie jemand, der zugesehen hat, wie seiner Frau bei einer Operation das Herz geöffnet wird oder wie jemand, der Zeuge des Völkermordes in Biafra war. Artaud bestand darauf, man solle so ins Theater gehen, wie man zu einem Chirurgen gehen würde — feierlich und ernst, weil man weiß, daß man nicht unversehrt zurückkommen wird«.1) 

Er stellte sich ein Theater mit unbequemen Sitzen vor, die zusammenbrechen sollten, wenn der Zuschauer einschläft. Und er kündigte an, daß faulige Gerüche während der Vorstellung die Sitzreihen durchwehen sollten. 

»1933 fand eine der seltsamsten Vorlesungen statt, die es jemals an der Sorbonne gegeben hat; Artaud diskutierte <Das Theater und die Pest>. Er saß an einem Tisch, hinter ihm eine schwarze Tafel, die sein hageres Gesicht gleichsam einrahmte. Seine Mundwinkel waren vom Opium schwarz gefärbt, und wenn er sprach, flatterten seine langfingrigen Hände wie die Flügel eines Vogels, und das Haar fiel ihm in die kräftige Stirn. Das Theater müsse, so begann Artaud, gleich der Pest wie eine Epidemie um sich greifen. 

Die Pest rufe einen Ausnahme­zustand hervor, in dem die soziale Ordnung aufgehoben sei und die Mitglieder einer Gesellschaft auf tiefe unbewußte Antriebe antworteten; der Geizhals werfe das Gold aus den Fenstern und der ehrwürdige Bourgeois werde von einem erotischen Fieber gepackt. Auch das Theater müsse eine Krise sein, die sich entweder durch Tod oder Heilung löse, es müsse die Menschen darauf stoßen, sich so zu sehen, wie sie sind. Es müsse die Masken herunterreißen, Lügen, Niederträchtigkeiten und Heucheleien bloßlegen und der Gesellschaft ihre eigenen dunklen Kräfte und ihre verborgene Macht offenbaren«.2) 

1)  Sanche de Gramont, A Vocation for Madness, Horizons, Vol. XII, No. 2, 1970, S.49-55.
2)  Ibid.


Gegenüber einer Zuhörerschaft von Intellektuellen an der Sorbonne verlor Artaud die Kontrolle über das, was er sagte, und wurde selber Opfer der Pest. 

»Er ließ den Faden, dem wir folgten, fallen und begann den Tod durch Pest vorzuspielen... Sein Gesicht war qualvoll verzerrt, und man konnte sehen, wie der Schweiß sein Haar anfeuchtete. Seine Augen weiteten sich, seine Muskeln verkrampften sich und seine Finger mühten sich verzweifelt, ihre Biegsamkeit zurückzugewinnen. Er ließ uns die ausgetrocknete und brennende Kehle spüren, die Schmerzen, das Fieber und das Feuer in den Gedärmen«.3) 

Die Zuhörerschaft lachte über die improvisierte Vorstellung, und viele gingen weg. Artaud berichtete Anais Nin: 

»Sie wollten eine objektive Vorlesung über <Das Theater und die Pest> hören, ich wollte ihnen das Erlebnis selbst vermitteln, ... so sollten sie geängstigt werden und zu sich kommen«.4) 

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Wir alle werden mit bestimmten Grundbedürfnissen geboren — wir wollen gefüttert werden, wenn wir Hunger haben, wir brauchen Wärme, wir wollen Ruhe haben, angeregt und gehalten werden, und uns in Übereinstimmung mit unseren natürlichen Fähigkeiten entwickeln dürfen. Diese unabdingbaren Bedürfnisse nenne ich Urbedürfnisse. Sie stellen essentielle menschliche Forderungen dar. Wenn irgendeines dieser Bedürfnisse nicht erfüllt wird, wenn ein Kind nicht genügend aufgenommen wird oder nach einem Zeitplan gefüttert wird statt eben dann, wenn es hungrig ist, dann bedeutet dies, daß ein Urbedürfnis geleugnet und Schmerz hervorgerufen wird. Ich bezeichne den Schmerz, der durch die Versagung eines Urbedürfnisses entsteht, als Urschmerz.  

Urschmerzen entstehen auf vielerlei Weise, und zwar immer dann, wenn es dem Kind nicht erlaubt ist, so zu sein, wie es ist. Sie entstehen, wenn man ein Kind zu früh zum Laufen zwingt oder wenn man es zum Sprechen anspornt, bevor es dazu bereit ist. Oder später, wenn es die Fähigkeit sich zu artikulieren, entwickelt und man ihm nicht erlaubt, Gedanken und Gefühle auszu­sprechen.

3)  Die Tagebücher der Andis Nin, 1931-1934, Hamburg, Verlag Christian Wegner, 1968.
4)  Ibid.

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Diese unterdrückten Gefühle werden zu Bedürfnissen von ähnlicher Dringlichkeit wie die biologischen, bis sie gefühlt, ausgedrückt und aufgelöst werden. Jedes frühe Bedürfnis, das unerfüllt bleibt, erzeugt eine im Körper zurückbleibende Spannung, die ihn antreibt, Befriedigung und letztlich, Ruhe oder Entspannung zu suchen. Wenn das Bedürfnis oder das Gefühl, ein Bedürfnis zu haben, nicht befriedigt oder aufgelöst werden kann — wenn das Kind zum Beispiel nicht schreien darf —, dann bleibt es als Spannung bestehen. 

Man kann sich über ungestillte Bedürfnisse ebenso wenig hinwegsetzen wie über die Schmerzen, die bei der Versagung von Bedürfnissen entstehen. Diese Schmerzen bleiben abgekapselt im Menschen bestehen und rufen Schichten von Spannung hervor (die dem entsprechen, wie der Schmerz erlebt wurde), die sich fortschreitend aufeinander lagern und sich auf die eine oder andere Weise Luft schaffen. Aber die Entladung von Spannung bedeutet nicht auch ihre Vernichtung — egal wie viel man trinkt oder wie oft man masturbiert, der Urschmerz wird sich dadurch nicht auflösen.

Frühe Urbedürfnisse werden nicht ununterbrochen empfunden, falls sie unbeachtet bleiben. Eher wird ein Punkt erreicht, an dem durch den Schmerz der chronischen Unbefriedigtheit gerade die Empfindung des Bedürfnisses oder Gefühls in dem jungen und zerbrechlichen Organismus stillgelegt wird. 

Wenn das Ausdrücken von Gefühlen Bestrafung oder Gleichgültigkeit nach sich zieht, dann wird diese Ausdrucksweise früher oder später unterdrückt werden. Jahre solcher Unterdrückung können einen Zustand erzeugen, in dem die Gefühle nicht mehr erkannt werden. Wenn sie sich trotzdem bemerkbar machen, dann werden sie so tief vergraben, daß sie durch keinen Akt von Willensanstrengung mehr empfunden werden können.

Wir sehen also, daß der junge Organismus exzessiven Schmerz beseitigt, indem er automatisch alles, was unerträglich geworden ist und den Weiterbestand des Systems bedroht, aus dem Bereich bewußten Wahrnehmens heraus und weg vom unmittelbaren körperlichen Erleben schafft. Da der Schmerz sich in dem Maße steigert, wie es verboten wird, etwas zu untersuchen, zu sagen und zu tun, muß das Kind sich selber von seinen Bedürfnissen abspalten oder trennen. Dies bedeutet, daß es zu einer gespaltenen Persönlichkeit wird — gespalten in sein reales Selbst und die Fassade, die es vor seinen Eltern aufrecht­erhalten muß, indem es zum Beispiel freundlich und respektvoll ist.

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Der Spaltungsvorgang entwickelt sich, falls nicht frühzeitig einige katastrophale Ereignisse stattfinden, langsam und macht das Kind zunehmend unzugänglich und irreal. Und eines Tages, wenn etwas geschieht, was an und für sich nicht notwendigerweise traumatisch ist, vollzieht sich eine Wandlung: aus einem Kind mit gewissen Hemmungen wird eines, das einen großen Teil seiner selbst wirkungsvoll ausgeschaltet hat. So ereignet sich der Sprung vom unterdrückten zum neurotischen Kind. In diesem Zustand hat sich das Gleichgewicht derart verlagert, daß das irreale Selbst vorherrscht und das Kind sein reales Selbst nicht mehr zurückholen und erleben kann.

Das Ereignis, das den Sprung in die Neurose hervorruft, ist gewöhnlich nur ein Schlußpunkt, eine Kulmination — der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Dies kann der Fall sein, wenn ein Kind zum hundertsten Mal mit einem Babysitter allein gelassen wird, oder wenn die Mutter wieder einmal sagt: »Wenn du das noch einmal sagst, werde ich dich fortschicken!« Ich nenne dieses kritische Ereignis die große Primärszene. Damit ereignet sich etwas, worin das Kind beginnt, eine Bedeutung für die ersten fünf oder sechs Jahre seines Lebens zu sehen; zu einer Zeit, in der es lernt, die vergangenen Erlebnisse zu verallgemeinern und einzuordnen. Es sieht in einem raschen, flüchtigen Augenblick, daß es nicht so sein kann, wie es ist, daß es nicht erwarten kann, von seinen Eltern geliebt zu werden.

 

Abwehrlose Kinder stellen sich ohne weiteres der Wahrheit, aber wenn ihnen etwas zum Bewußtsein kommt, was für sie katastrophal ist, dann muß diese Erkenntnis zusammen mit einer klaren Wahrnehmung der Realität augenblicklich verleugnet werden. Das ist für gewöhnlich kein bewußter Vorgang; der Organismus reagiert vielmehr automatisch, um seine Unversehrtheit zu bewahren. So schlüpft das Kind in die Neurose, ohne im geringsten zu ahnen, was ihm widerfahren ist. Es wird so, wie es sein muß, damit es mit seinen Eltern überleben kann. Es wird aufhören, das zu sagen, was ihm in den Sinn kommt — und dies ohne bewußte Anstrengung. 

Hierin liegt der Unterschied zwischen einer Neurose und einem gewissen Unterdrücktsein. Ein junges Kind, das unterdrückt ist, weiß eigentlich, was es fühlt, was es sagt oder ob es ärgerlich ist — es hält diese Regungen mit einer Anstrengung zurück. Es gerät wegen der Prügel, die darauf folgen würde, nicht mehr aus der Fassung. Wenn sein Verhalten aber neurotisch wird, dann braucht es keine bewußte Anstrengung mehr, um sich zurückzuhalten. Gegenüber dem realen Selbst ist eine Sperre errichtet worden, die ihre Aufgabe anstreng­ungs­los verrichtet.

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Wenn Urbedürfnisse unbeachtet bleiben, werden sie schmerzlich erlebt. Und indem der Organismus den Schmerz beseitigt, läßt er auch das Bedürfnis verschwinden. Die Gefühle und Bedürfnisse werden dann im Erinnerungssystem gespeichert und senden ihre Impulse in den Körper, den sie damit in chronischer Spannung halten. Solche Schmerzen bleiben für ein Leben lang so ursprünglich, lebhaft und verletzend wie an jenem Tag, an dem sie entstanden.

Spannung ist der innere Druck jener Schmerzen, die vom Bewußtsein abgetrennt sind. Wenn die Beziehung wiederhergestellt wird, dann werden Schmerz und Gefühl als das identifiziert, was sie sind und die Spannung verschwindet. Man kann den Schmerz und ihn als Spannung zu empfinden weder durch ein bestimmtes Verhalten, durch Meditation oder Yoga, noch durch Tabletten, Zigaretten oder Alkohol und nicht einmal durch Psychotherapie ungeschehen machen. Man kann die Schmerzen nur beseitigen, wenn man sie voll und ganz zu menschlichen Erfahrungen macht; das geschieht, wenn sie, einer nach dem anderen, wiedererlebt werden, bis sie sich lösen und das System verlassen. 

Vielleicht ist es genauer, wenn ich sage, daß diese Erfahrungen gelebt werden müssen und nicht wiedererlebt, da sie schon das erste Mal nicht völlig erlebt wurden; und das ist auch der Grund, weshalb sie bestehen bleiben. Diese Schmerzen auszuleben bedeutet, daß man sein Selbst mehr und mehr erlebt, bis man schließlich ganz einfach das wird, was man ist — ein vollständig erlebendes menschliches Wesen, das im Jetzt seines Lebens steht, anstatt sich daran zu versuchen, die Vergangenheit auf einer Unzahl von Wegen zu analysieren.

Solange ein Bedürfnis nicht mit dem dazugehörigen Schmerz gefühlt werden kann, ist der Organismus gezwungen, in irrealer und symbolischer Weise zu agieren. Das gleicht jemandem, der seinen Motor auf Lebenszeit angelassen hat; nichts, was er tut, kann diesen Motor abstellen. Wenn man beispielsweise als Kind nicht auf den Arm genommen und liebkost wurde, dann entsteht das Bedürfnis, in den Arm genommen zu werden. Dieses kann symbolisch in zwanghaftem Sex ausagiert werden. Und dieses Verhalten mag sehr wohl ohne jegliche genaue Erinnerung daran auftauchen, daß man eben früher im Leben nicht auf den Arm genommen wurde. Dieses Bedürfnis kann auf beliebige Weise in den ersten Lebensmonaten oder -jahren ausagiert werden; wenn wir das Bett einnässen, uns selbst beschmieren, am Daumen lutschen, unaufhörlich schreien oder uns andauernd auf den Boden werfen.

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Wenn man die Ergebnisse, das heißt die Symptome des Bedürfnisses behandelt, erreicht man nichts, außer daß man das Kind zwingt, neue Entlastungswege zu finden. Versucht ein Kind, ersatzweise Befriedigung zu finden, indem es sich mit Essen vollstopft (weil es reale Befriedigungen nicht gab), dann ist dieses Verhalten symbolisch. Das heißt, ein reales, obgleich unbewußtes Bedürfnis wird symbolisch befriedigt. So sieht ein nichtendender neurotischer Verhaltenszwang aus, denn es gibt hier lediglich symbolische Befriedigung; behandelt man das Überessen, so entgeht einem die verursachende Kraft, die dahintersteckt.

Es hilft dem Neurotiker nicht, wenn man seine Bedürfnisse »herausknobelt« oder seine Gefühle analysiert und erkennt. Bedürfnisse verschwinden nicht, weil sie verstanden werden. Sie verschwinden, wenn sie gefühlt werden; und sie können nur gefühlt werden, wenn der Betroffene sie gefahrlos erleben kann, das heißt, wenn er nicht länger von den Eltern lebensabhängig ist. Wovon ich jetzt rede, ist, daß Bedürfnisse nicht so etwas wie eine Enklave im Gehirn sind, deren man sich bewußt werden kann — das Unbewußte bewußt machend — und sie damit vertrieben hat. Bedürfnisse sind totale Zustände des biologischen Systems. Wenn wir als Kinder nicht auf den Arm genommen wurden, dann bezieht sich diese Entbehrung nicht bloß auf unsere Erinnerung; es ist eine Deprivation, die sich auf unser gesamtes Sein erstreckt. Und so — nämlich total — muß sie auch erlebt werden.

Die einzige Art von Wahrheit ist diejenige, die man erlebt; und die menschliche Wahrheit ist etwas Eigen­tümliches. Für jeden von uns gibt es eine einfache Reihe von Verletzungen, die für ihn spezifisch ist. Niemand braucht zu interpretieren, was diese Verletzungen für uns bedeuten, zumal eine Interpretation bloß die Realitätsversion eines anderen ist, die sich als falsch erweisen und mißverstanden werden kann. Den Schmerz zu fühlen ist die einzige Voraussetzung für die Beantwortung der Frage, warum jemand so oder so gehandelt hat. Daher besteht die Aufgabe der Therapie nicht im Interpretieren, sondern darin, daß man jemandem erleben hilft — daß man seine Geschichte mit seinem Verhalten verknüpft. Was ist demnach eine Neurose? Eine Neurose ist die symbolische Darstellung des Urschmerzes. Sich gegen den Schmerz zu verteidigen ist, nach unserer Definition, symbolisches Handeln, denn den Schmerz zu fühlen, heißt real sein — seine eigenen Bedürfnisse zu fühlen und zu versuchen, sie auf realen Wegen zu befriedigen.

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Ich meine, das Sichabschließen gegen Schmerz ist eine Reflexhandlung und die Neurose ein genetisches Erbe, welches das Überleben der menschlichen Art unterstützt. Ohne das Schutzmittel der Neurose würde ein Kind, das in eine katastrophale Wirklichkeit blickt (»So lange ich lebe, wird mich niemand lieb haben«), entweder verrückt werden oder unfähig zum Weiterleben.

Unglücklicherweise verschwindet eine Neurose nicht einfach, wenn ihr Nutzen vorüber ist. Unser Schmerz bleibt auch dann noch unbewußt, wenn wir dem Wissen, von unseren Eltern nicht geliebt worden zu sein, standhalten könnten. Die Neurose macht keine Unterschiede; sie ist wie ein Gast, der für immer bleibt, weitaus länger, als er willkommen ist. Der einzige Weg, auf dem wir sie dazu bringen können, uns zu verlassen, besteht darin, daß wir fühlen, was sich unter ihrem schützenden Schild befindet. Und wir müssen uns daran erinnern, daß sie sich langsam entwickelt, mittels tagtäglicher Beleidigungen, Angriffe, Demütigungen, Erniedrigungen, Unterdrückungen und Gleichgültigkeiten — eine Verletzung nach der anderen. Die Neurose wird in umgekehrter Reihenfolge wieder aufgehoben; die Verletzungen werden empfunden, indem man mit den erträglichsten beginnt und zu den unerträglichsten fortschreitet.

Zum Glück müssen wir nicht jede einzelne Verletzung noch einmal durchleben. Es gibt Schlüsselszenen, in denen diejenigen Gefühle vertreten sind, die in vielen ähnlichen Ereignissen enthalten sind. Diese Szenen sind uns als Primärszenen bekannt. Nehmen wir zum Beispiel die Erinnerung an eine der väterlichen Tiraden und das Gefühl von schrecklicher Angst vor seiner Gereiztheit. Wenn man diese Szene noch einmal erlebt, dann werden automatisch andere, ähnlich entsetzliche Ängste vor dem Vater heraufbeschworen. Das Wiedererleben dieser Primärszene wird ein grausames Gefühl von Wertlosigkeit, ja vielleicht sogar Krämpfe hervorrufen, weil es eben alles an frühem Entsetzen entfesselt. Es ist welterschütternd, dieses aufgetürmte Entsetzen zu erleben; meiner Meinung nach ist es zugleich heilsam, da gerade die Unterdrückung von Furcht das neurotische Verhalten geschaffen hatte — die Furcht vor allen Männern, das zurückhaltende, stammelnde und zögernde Benehmen, die Entwicklung irrationaler Vorstellungen etc. (In ähnlicher Weise kann eine ständig laufende Nase oder die Verstopfung der Nasennebenhöhlen dadurch hervorgerufen sein, daß über einen Zeitraum von Jahren das Herausschreien der Antwort unterbunden war.

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Wenn jemand den Urschrei ausstößt — und dieser Schrei wird vom Kopf bis zu den Füßen verspürt und mag Stunden anhalten —, kann es geschehen, daß die symbolische Verstopfung der Nebenhöhlen auf Dauer verschwindet.) Während eines Urerlebnisses, das im Wiedererleben des Urschmerzes besteht, ist es möglich, daß jemand, unter anhaltender Erschütterung durch Weinkrämpfe, ein Erlebnis nach dem anderen berichtet, seitdem er das Bedürfnis hatte zu schreien, es aber nicht konnte. Das Herausschreien der Antwort bedeutet, daß alle alten Erinnerungen und Szenen freigesetzt werden. Deshalb wird auch das Schreien für Stunden anhalten. Stunden, die zwei Jahrzehnte der Unterdrückung umfassen können und diese Unterdrückungen für immer freisetzen.

Ein Urgefühl zu unterdrücken, bedeutet den Versuch, eine Erklärung für dieses Gefühl in der Gegenwart zu finden und sich vorzustellen, daß dieses Gefühl von irgendetwas herrührt, was gegenwärtig geschieht. So wird vielleicht die Angst, die ein junges Mädchen vor ihrem Vater hatte, sie später dazu treiben, einen Mann zu heiraten, der auch aufbrausend ist. Sie wird dann denken, daß sie Angst vor ihrem Ehemann hat und sich ständig damit abmühen, ihn zu besänftigen; jedenfalls versucht sie, symbolisch über ihren Ehemann, ihren Vater zu unaufdringlichem, freundlichem Verhalten zu bekehren. Sie möchte Gefühle von früher beherrschen, indem sie die Gegenwart manipuliert. Dieser Vater hatte sie mit ihrem Schrecken, der in irgendeiner Weise wieder gelöst werden mußte, allein gelassen. Deshalb hat sie nicht von vornherein einen freundlichen Menschein heiraten und auch später nicht ihren groben Ehemann verlassen können. Sie bedurfte dieses Kampfes, um symbolisch zu einem besseren Ausgang zu kommen.

Der Kampf ist ein wichtiger Begriff in der Primärtheorie, denn ich behaupte, daß der Neurotiker sich mit solchen Menschen einläßt, die seinen Kampf ins Endlose weiterführen helfen — daß er mit ihnen die Umstände und den Kampf seines frühen Lebens neu erschaffen kann, um symbolisch einen anderen Schluß herbeizuführen. Somit heiratet er einen kühlen Menschen und versucht Wärme aus ihm herauszuziehen. Oder sie mag einen kritischen Menschen heiraten und versuchen, ihn zustimmend zu machen. Das sind sehr einleuchtende Beispiele; der symbolische Kampf kann selbstverständlich wesentlich komplexer und gewundener sein. Die sexuelle Perversion ist ein Beispiel dafür, wie ein Mensch sich allerhand verfeinerte schmerzhafte Rituale auferlegen muß (indem er vielleicht an einen Stuhl gebunden und mit Ketten geschlagen wird), um die Gefühle seines Körpers zu erleben.

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Es ist wichtig, daran zu erinnern, daß keine Veränderung oder Befriedigung des symbolischen Verhaltens das neurotische Verhaltens­muster ändert. Jemand, der das Bedürfnis hat, daß seine Eltern, die zu fahrig und beziehungsweise oder mit anderem beschäftigt sind, ihm geduldig zuhören, wird später vielleicht Tausenden, die vor ihm sitzen und aufmerksam zuhören, eine Vorlesung halten; und noch immer wird dieses Bedürfnis, man möge ihm zuhören, sich um kein Jota verändert haben. Es wird sich nur ändern, wenn die Gefühlsrealität, daß er der Aufmerksamkeit seiner Eltern bedurfte, zusammen erlebt wird mit dem Schmerz darüber, wie wenig Beachtung ihm durch sie widerfuhr.

Warum haben Bedürfnisse und Gefühle der Vergangenheit die Eigenschaft, sich in der Gegenwart zu verallgemeinern? Weil sie situations- oder personen­bezogen nicht völlig zutreffend gefühlt wurden. Nehmen wir an, ein kleines Kind hätte fühlen können: »Niemals wird meine Mutter mich lieb haben«, so hätte es diese Zurücksetzung nicht zu bemänteln brauchen und unbewußt versuchen müssen, beispielsweise von seinen Lehrern die Mutterliebe zu bekommen. Dieses Kind hätte das Gefühl einer ganz bestimmten Entbehrung, einer Barriere zwischen sich und seiner Mutter. Da ein Kind jedoch nicht ertragen und fühlen kann, daß es ungeliebt oder unbeliebt ist, tut es, was es kann, um dieses Bedürfnis stellvertretend zu befriedigen. Das Bedürfnis treibt es dazu, Liebe zu erhalten, wo es kann; deshalb verallgemeinert sich sein Verhalten zu anderen. Oder falls sein Zorn gehemmt war, wird es diesen an anderen auf dem einen oder anderen Weg austragen.

Diese anderen Entlastungswege sind neurotisch, denn sie stehen symbolisch für die ursprüngliche Situation. Der Lehrer ist eben keine Mutter. Den Chef muß man nicht fürchten, als sei er ein tyrannischer Vater. Wenn man versucht, die Neurose zu unterdrücken, ähnlich wie zwanghaftes Reden, entwickelt sich Spannung. Das Bedürfnis ist die Grundsubstanz, die sich in jeder Begebenheit verkörpert; wenn etwa eine Frau sagt: »Was haben Sie für ein schönes Kleid an« und gleich darauf hinzusetzt: »Ich muß auch so eines haben« oder »Das kannst du mir glauben, von Kleidern versteh ich was«, so haben wir hier den konstanten Hinweis auf ein bedürfendes Selbst.

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Für mich ist die Neurose ganz klar eine Krankheit des Gefühls. Und umgekehrt bedeutet volles Fühlen, daß man in der »Primären Matrix« gesund ist. Fühlen bedeutet, daß man nicht von chronischer Spannung gequält und nicht zur Suche nach Erleichterung getrieben wird.

Das Erleben des Neurotikers kann ihn nichts lehren noch ihn verändern, da er, seit er gespalten ist, nicht voll erlebt. Er erlebt gerade die Dinge nicht, die ihn befreien und ändern können — nämlich seine Schmerzen. Wenn er einmal gespalten ist, können wir uns nur an seine unwirkliche Fassade richten. Wir können diese Fassade umwandeln (vom Verbrecher zum Hirnchirurgen, von fett zu mager), ohne an der realen innerlichen Erkrankung, die dahinter liegt, etwas zu verändern.

Dem Neurotiker nutzt meines Erachtens weder die Begegnung mit einem Gott noch die mit irgendeinem anderen liebenden oder verstehenden menschlichen Wesen. Ich denke nicht, daß wir eine Neurose beseitigen können, indem wir lieben, strafen oder besänftigen. Der Neurotiker braucht wieder die Verbindung zu sich selbst — nicht in dem Sinne, daß er mit diesem Selbst fertig wird, sondern daß er zusammenhängende und verknüpfende Erlebnisse hat, die die Trennung des Denkens vom Fühlen, des Seelischen vom Körper, aufheben. Denn das ist etwas Reales — die Beziehung zu sich selber. Ist diese Beziehung einmal zustande gebracht, und können wir mit dem, was wirklich in uns ist, verschmelzen, dann können wir diese Menschlichkeit auch auf andere beziehen. Oder kürzer ausgedrückt: der Heilungsvorgang arbeitet sich von innen nach außen und nicht umgekehrt.

Ich rufe zur Revolution auf. Wenn man daran geht, ein bestimmtes System zu stürzen — und die Neurose ist ein krankes System —, dann läßt man sich mit diesem System auf keinen Dialog ein. Jeder Dialog, wie auch Einsicht und besondere Vorstellungen, werden von dieser Krankheit aufgenommen, ohne sie auch nur für einen Moment zu ändern. Wir müssen dieses System mit Kraft und Gewalt vernichten — mit der Kraft geballter Bedürfnisse und Gefühle, die möglicherweise Jahrzehnte im Verborgenen waren, und mit der Gewalt, derer es bedarf, um sie, und damit sich selber, aus einem unwirklichen System herauszureißen.

Damit sich eine Revolution durchsetzen kann, muß sie auf einer zuverlässigen Theorie beruhen. Fortschritt­liche Revolutionen entwickeln sich aus einer Theorie heraus. Theorie meiden, führt nicht zu Freiheit, sondern lediglich zu Anarchie; Theorie muß bewußt gestaltet werden.

Ist man theoretisch auf festem Boden, dann ist man zugleich frei zu extrapolieren und den Bereich zu erforschen. Je spezifischer die Primärtheorie mit neurophysiologischen Vorgängen verknüpft ist, desto weiter reichen ihre Verzweigungen. Wir werden uns jetzt dem ziemlich abschreckenden Gebiet der Neurophysiologie zuwenden, um zu sehen, was wir über das Wesen des Schmerzes herausfinden können, wo er verarbeitet wird, wie er blockiert wird und was geschieht, wenn er verdrängt wird. 

Wir werden erörtern, was Verdrängung auf Gehirn und Körper bezogen wirklich bedeutet, welche Hirn­strukturen am Verdrängungs­vorgang beteiligt sind, und was es erfordert, bei jemandem eine Verdrängung aufzuheben. Im wesentlichen weist das Kapitel über Neurophysiologie darauf hin, daß bestimmte Hirnstrukturen an der Bildung und Speicherung von Gefühlen beteiligt sind, andere Hirnsysteme bei der Verdrängung dieser Gefühle aktiv sind und wieder andere Hirnareale mit der Symbolisierung dieser Gefühle verbunden sind. Wir werden sehen, daß Gefühle meist eine Sache nüchterner Entfernungen von Empfindungsorten im Gehirn sind — je weiter voneinander entfernt, desto symbolischer. 

Weiterhin werden wir sehen, wie der Schmerz Gefühle aus ihrer ordnungsgemäßen geistigen Verknüpfung heraus in symbolische Schaltungen treibt und wie das Fühlen von Schmerz eine zutreffende Verbindung einer Hirnstruktur mit einer anderen herstellt. Schließlich werden wir erwähnen, wie die Herstellung von Verbindungen im Gehirn endlich die historische Geißel des Menschen — psychische Störungen — zum Verschwinden bringt.

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