Teil 1:
Die Neurophysiologie
von Neurose und Psychose 

 

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"Mikroskopische Formen von Herzinfarkt sind in unseren Tagen sehr häufig geworden. Nicht immer gehen sie schlecht aus; manche Menschen kommen darüber hinweg. Es handelt sich dabei um eine typisch moderne Erkrankung. Ich meine, ihre Ursachen sind moralischer Art. Der Mehrheit von uns wird eine Lebensweise konstanter, systematischer Doppel­züngig­keit abverlangt. Unsere Gesundheit wird notgedrungen angegriffen, wenn wir Tag für Tag das Gegenteil von dem sagen, was wir empfinden, wenn wir uns dem fügen, was wir verabscheuen und uns erfreut zeigen über Dinge, die nichts als Unglück bringen. Unser Nervensystem ist nicht einfach eine Erfindung, sondern ein Teil unseres Körpers; unsere Seele existiert nämlich, sie ist in uns, wie die Zähne in unserem Mund. Sie kann nicht ungestraft ständig vergewaltigt werden. Es war schmerzlich für mich, Dir, Innozenz, zuzuhören, als Du uns davon erzähltest, wie Du im Gefängnis umerzogen wurdest und zur Reife gelangtest. Es war, als höre man ein Zirkuspferd erzählen, wie es sich selbst abgerichtet hat." 

Boris Pasternak in <Doktor Schiwago>  

 

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Psychologische Theorien der Vergangenheit haben es versäumt, sich der Grundlagenwissenschaft Neuro­physio­logie einzuordnen; infolgedessen haben sie sich vom körperlichen Substrat des Seelischen und seiner Pathologie — der Neurose — losgelöst. 

Die Tatsache, daß wir psychophysiologische Wesen sind, macht eine Theorie erforderlich, die ein denkendes und fühlendes Wesen im Ganzen umgreift. Nur eine holistische Theorie kann uns über nachträgliches Rationalisieren hinaus zu einer wissenschaftlichen und vorhersage­fähigen Psychologie weiterbringen.

Die Bedeutung biologischer Abläufe für eine psychologische Theorie wird uns klar, wenn wir eine Feststellung wie die folgende machen: »Er verdrängte seine Gefühle«. Sie impliziert einen spezifischen Teil des Gehirns, der mit Gefühlen zu tun hat, und einen anderen Teil, der sich mit der Verdrängung beschäftigt, und postuliert zwischen beiden eine Wechselwirkung, die konkret körperlich ist. Demzufolge ist jede psychologische Feststellung letztlich eine neurologische Feststellung. Und daher ist es wichtig, daß wir das Gehirn im Zustand der Neurose verstehen.

Das Prinzip der Dialektik besteht in der Interpretation von Gegensätzen. Das bedeutet, daß man in jedem Einzelfall das Allgemeine, und im Allgemeinen das Spezifische feststellen kann. Deshalb wird man, wenn man ein Gehirn durchschaut, Gehirne im allgemeinen verstehen, und wenn man die Funktionsweise von Gehirnen versteht, wissen, wie ein einzelnes Gehirn arbeitet. Wenn die Neurose eine Funktionsstörung des Gehirns ist, dann bedeutet das Verstehen einer einzelnen Neurose, daß man die Struktur aller Neurosen versteht. Einfach nur etwas über neurotische Reaktionen zu wissen, heißt noch nicht, daß man die grundlegende Struktur der Neurose kennt. Obgleich die Reaktionsformen vielfältig sind, glaube ich, daß die Neurose einem einheitlichen pathologischen Vorgang entspricht; und wenn dies so ist, dann kann auch die Behandlung der Neurose schlechthin, ganz gleich in welcher Form sie vorliegt, einheitlich und eben doch spezifisch sein.

Das, was einer psychologischen Theorie Geschlossenheit, Vorhersagemöglichkeit und schließlich therapeut­ischen Wert verleiht, besteht im Zusammenschluß psychologischer und physiologischer Pendants. Ich habe die Absicht, diese Verknüpfung in der folgenden Darstellung zustande zu bringen.

  

1. Grundlagen der Neurose  

 

Unerfüllte Bedürfnisse  

Während der Evolution des Menschen hat es gleichbleibende äußere Gefahren gegeben. In vielerlei Hinsicht ist er mit diesen Bedrohungen auf dieselbe Weise umgegangen, wie seine reptilienhaften Vorfahren, nämlich mit Kampf oder Flucht. Jetzt braucht der Mensch nicht mehr vor wilden Tieren zu fliehen; dennoch ist seine Umgebung nicht weniger feindselig. Er muß vor sich selber fliehen. 

Er wird in eine Situation hineingeboren, in der seine Bedürfnisse nicht befriedigt werden können, in der er seinen Gefühlen keinen spontanen Ausdruck geben kann und in der es ihm nicht erlaubt wird, seinem natürlichen Tempo gemäß heranzureifen.

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Selten kann er ganz so sein, wie er ist. Um in seinem allernächsten Milieu, seiner Familie, zurecht zu kommen, muß er oft auf die eine oder andere Weise unnatürlich sein. Seine tiefsten Bedürfnisse und Gefühle muß er zurückhalten, weil sie eine Gefahr darstellen — die Gefahr nämlich, das Umsorgtwerden, die Liebe und den Schutz der allmächtigen Eltern zu verlieren. Er hat ruhig und freundlich zu sein, ehrerbietig oder wie auch sonst immer seine Eltern ihn haben müssen, damit sie ihm ihre Unterstützung zukommen lassen. 

Ihre Bedürfnisse werden für ihn zu absoluten Forderungen. Und die Gefahr besteht darin, daß er, wenn er sich so verhält, wie er ist, möglicherweise gerade diejenigen verlieren wird, die er zum Überleben braucht. Diese Gefahr tritt im frühen Lebensalter deutlich hervor, wenn das Kind gleichsam in einem Moment von Offenbarung empfindet, daß real sein, so sein, wie man wirklich ist, bedeutet, daß die Bedürfnisse, die man hat, niemals befriedigt werden. Und daß es niemals um seiner selbst willen — seines offenen, spontanen, freiempfindenden und handelnden Selbst willen — geliebt werden kann. Es muß gegen sich selbst, gegen sein empfindendes Selbst, eine Barriere aufrichten und es zurückweisen. Dabei findet es sich in einem Konfliktgeschehen wieder.

 

Der Konflikt  

Der Konflikt entwickelt sich, wenn man es in Kürze (und vereinfacht) darstellt, auf folgende Weise: das motivierende Bedürfnis stammt meistens aus dem Zwischenhirn — vielleicht aus dem Hungerareal des Hypothalamus. Bleibt dieses Bedürfnis unbefriedigt (aus einer beliebigen Reihe von Gründen), dann wird der Schmerz, der von dem ungestillten Bedürfnis herkommt, im Schläfenhirn gespeichert. Das Stirnhirn greift ständig ein, um zu verhindern, daß dieses unbewußte Material bewußt wird; das Schlachtfeld für diesen Konflikt stellt das Limbische System dar.

Demzufolge wird die Empfindung der Gefahr im Limbischen System bearbeitet, während die Erkenntnis, das katastrophal wirksame Erfassen der Gefahr, an anderer Stelle festgelegt wird — nämlich im Stirnhirn. Dieses Auseinanderrücken der Verarbeitung wird in der Sprache der Primärtheorie »Spaltung« oder »Trennung« genannt.

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Oder anders ausgedrückt: wir können unser Bewußtsein von unseren Gefühlen abtrennen, so daß wir gelegentlich nicht wissen, was uns verletzt oder daß wir überhaupt verletzt sind. Wir sind uns der Gefahr nicht länger bewußt — des Gefühls oder der Handlung, die eine Gefahr bilden —, gerade weil diese Gefahr unter dem Niveau der Aufmerksamkeit verarbeitet wird. Gaunt hat Ratten in einem Experiment unter Streß gesetzt (auf ein Brett geschnallt), und ihnen dann Tranquilizer gegeben. Die mit Beruhigungsmitteln gedämpften Ratten erschienen ihrer Lage gegenüber gleichgültig, aber ihr Körper produzierte weiterhin einen deutlichen Anstieg in der Ausschüttung eines Streß-Hormons (ACTH).1

In ähnlichen Experimenten mit hypnotisierten Personen wurden den Versuchspersonen Nadelstiche und andere schmerzhafte Reize zugefügt. Obgleich sie keine bewußten Schmerzempfindungen angaben, zeigten elektro­enzephalo­graphische Aufzeichnungen, daß ihre Hirnsysteme unter Streß standen. Weder Drogen noch Techniken, mit denen das Bewußtsein unterdrückt wird, können den Körper zum Lügen bringen. Das weist darauf hin, daß Streß in körperlichen Systemen ohne eine Spur des zugehörigen Bewußtseins fortbestehen kann.

Der Primärtheorie zufolge kann der menschliche Organismus Schmerzen bewußt nur bis zu bestimmten Stärkegraden tolerieren. Bei gewissen kritischen Stufen schaltet das System automatisch ab und macht uns dem Schmerz gegenüber unbewußt. Eine genaue Übertragung davon ist der Ohnmachtsanfall, bei dem extremer körperlicher Schmerz die Bewußtlosigkeit herbeiführt. Der Schmerz behält jedoch seinen Einfluß und treibt den Organismus in eine Situation der Überlastung, aus der heraus die Spannung abgebaut werden muß. Eine der besten Entlastungsmöglichkeiten besteht darin, zu schreien und zu brüllen. Wenn das Schreien jedoch Schmach bedeutet und noch mehr Schmerz mit sich bringt (mehr Rückzugsdrohungen und Mangel an Liebe), dann wird es unterdrückt werden.2

R. Gaunt et al., Brain Mechanisms und Drug Aclion, hrsg. von William S. Fields, Springfield, IIL, Charles Thomas Co., 1957.
Arthur Janov, Der Urschrei, Frankfurt/Main, S. Fischer, 1973 (Fischer Taschenbuch, Bd.6286).

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Der Schmerz eines Kindes beginnt mit dem Moment, in dem es in eine neurotische Familie hineingeboren wird. Meistens fängt er bei der Geburt an, mit den langen und anstrengenden Wehen einer (oft unter Drogen gesetzten) neurotischen Mutter. Er wird durch den Mangel an ausreichender Brustfütterung fortgesetzt, schreitet durch eine übertriebene schnelle Rein­lich­keits­erziehung fort, durch die Unterdrückung natürlicher Neugier und der Produktion von Geräuschen und schließlich auch durch die Unterdrückung von Worten und Gefühlen, die nicht mit dem moralischen Wertsystem der Eltern übereinstimmen.

Hinzu kommen oft noch die Schmerzen eines operativen Eingriffs oder anderer katastrophaler Leiden. Der Körper macht zwischen seinen Schmerzen keine Unterschiede; und der physiologische Ablauf des Schmerzes bleibt der gleiche, ob sein Ursprung nun seelischer oder körperlicher Art ist (wie im Fall einer Operation). Wir verteidigen uns gegen jeden überwältigenden Schmerz, aber der übrigbleibende Schmerz besteht unverwandelt im Organismus fort. Dieser Rest nimmt psychologisch und physiologisch, in Abhängigkeit von der Intensität des erlebten Schmerzes, zu. Bei bestimmten kritischen Schwellen wird das Kind, weil der Schmerz überwältigend ist, von seinem empfindenden Selbst abgetrennt, weil fühlen bedeutet, dem gesamten Schmerz das Tor zu öffnen und von ihm überwältigt zu werden.

 

  Neurose und die Vermeidung von Schmerz  

 

Die Neurose ist das Ergebnis der Spaltung. Sie ist diejenige Verhaltensform, durch die das Kind, und später der Erwachsene, die Überlastung aus- (oder ein-)agiert. Das eine Kind schlägt sich vielleicht ständig seinen Kopf an, ein anderes lutscht an seinem Daumen und wieder ein anderes prügelt sich ständig mit seinen Altersgenossen. So besehen besteht die Neurose darin, daß die Energie des Gefühls auf Abfuhrwegen umgeleitet wird.

Die Spaltung ist ein aktiver Vorgang. Die Gefühle und der dazugehörige Schmerz werden mit einem ständigen Aufwand an Aktivität gehemmt. Man nennt diesen Vorgang Verdrängung; er läuft automatisch und unbewußt ab. Es gibt bestimmte Hirnareale, die die Verdrängung vermitteln und unser Bewußtsein von uns selbst und unserem Schmerz fernhalten.

Wir sehen also, daß die Neurose genaugenommen eine Störung der Hirnfunktion ist, eine Zertrennung der neurologischen Einheit. Lord Russel Brain führt folgendes aus:

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»Der ständig wechselnde Inhalt des arbeitenden Gehirns, besonders der Hirnrinde, muß gleichermaßen veränderlich sein. Wenn es Kerngebiete gibt, dann müssen sie sicherlich zum Zwischenhirn gehören, da schon seit langer Zeit der Hirnstamm und das Zwischenhirn die nervliche Basis darstellen, an der Aufmerksamkeit, Emotion und Erinnerung am engsten miteinander verknüpft sind... Hirnrinde und Zwischenhirn sollten als eine integrative Einheit und nicht als Hierarchie betrachtet werden.«3) 

 

Die Vermeidung von Schmerz ist allen Arten von Organismen gemeinsam. Die einzellige Amöbe zieht sich zurück, wenn sie gereizt wird; sie kann zwischen Dingen, die sie braucht, nämlich Nahrung, und solchen, die nachteilig sind, wie schädliche Chemikalien, unterscheiden. Fische lernen schnell, Gewässer, deren Temperatur für sie nicht geeignet ist, zu meiden; Menschen in leichtem Dämmerzustand können ihre Hände reflexartig erheben, um einen schmerzvollen Reiz abzuwehren. Die letztere Bemerkung weist darauf hin, daß wir selbst auf unbewußtem Niveau Schmerz empfinden und auch auf ihn reagieren können und daß die Vermeidung von Schmerz auch beim Menschen ein Reflexgeschehen ist, das dem Überleben dient. 

Die Lösung der Verbindung zwischen einem Hirnareal und einem anderen (Verdrängung) ist nicht mehr als die Erweiterung des Überlebens­mechanismus, der mit der Empfindlichkeit für Schmerz oder Reizung bei der einzelligen Amöbe beginnt. In der Tat besteht die neurotische Funktionsstörung des Gehirns in einem Zellzusammenschluß, der in komplexer Weise funktioniert. Was für eine einzelne Zelle zutreffend ist, kann auch für einen Zellverband richtig sein. Die Amöbe zieht sich von äußeren Reizen zurück, wohingegen das Gehirn die Fähigkeit besitzt, sich von inneren Reizen zurückzuziehen. In diesem Sinne ist die Fähigkeit zu verdrängen und neurotisch zu werden ein genetisches Erbe, das dem Menschen ermöglicht, seinen Kampf in der äußeren Umgebung fortzusetzen, obgleich im Innern seines Körpers Verwüstung herrscht.

Kontraktion (der Muskeln) gegen Schmerz und Entspannung, wenn Schmerz nicht vorhanden ist, scheinen Bestandteile eines grundlegenden Vorganges zu sein, den man bei allen Organismen finden kann. E. H. Hess untersuchte die Pupillenreaktionen und fand heraus, daß die Pupille sich erweitert, wenn der Reiz angenehm ist, und daß sie sich verengt, wenn er unangenehm ist.4

3)  Russell Brain, Some Reflections on Brain und Mind, Brain, Vol. 86, Teil 3, 1963, S.399. 
4)  E.H. Hess und J.M. Polt, »Pupil Size in Relation to Interest Value of Visual Stimuli«, Science, Vol. 132, I960, S. 347-350. Es soll noch hinzugefügt werden, Baß sich in einer Gefahrensituation die Pupillen infolge einer Kontraktion des Ziliarmuskels erweitern. Hierbei dient die Erweiterung der Überlebensabsicht. Sie öffnet den Organismus gegenüber der Umgebung mit dem Ziel, daß er mehr Information aufnehmen kann und sich dadurch besser schützen kann. In den Hess'schcn Experimenten handelte es sich um ein Übermaß an Reizung, das in die Reaktion nicht geschmeidig und ohne Verengung einbezogen werden konnte. 

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Als man den Versuchspersonen der Hesschen Experimente Bilder von Folterszenen zeigte, fand eine automatische und unwillkürliche Verengung der Pupille bei ihnen statt. Demzufolge speichert das Gehirn die Schmerzerinnerung und der Körper reagiert, wenn die Erinnerung erweckt wird, als ob er Schmerz, empfände. Wir sehen also, daß wir uns nicht nur von Schmerzen, die von außen kommen, sondern auch von innerlich gewecktem Schmerz zurückziehen. Die Erinnerung kann den Rückzug und den Kontraktionsvorgang gegen Schmerz in derselben Weise hervorbringen, als ob der Schmerz von außen zugefügt würde.

Die Pupillenverengung bei den Versuchspersonen konnte durch Erinnern zustande gebracht werden — durch die Erinnerung an Gefühle, die offenbar zu schmerzhaft waren, um angenommen und in Beziehung gesetzt werden zu können. Daraus ersehen wir, daß Gefühle unbewußt auf einem physiologischen Weg beantwortet werden und daß sie nicht nur eine Pupillenverengung, sondern auch eine Engerstellung der Blutgefäße hervorrufen können; schließlich vermögen sie das Bewußtsein einzuschränken und von der Schmerzquelle abzulenken.

Ich glaube, daß Urschmerzen, überwältigende Gefühle aus der Kindheit, die nicht integriert werden konnten — »So wie ich bin, mag man mich nicht« —, im Organismus bestehen bleiben und einen ständigen Rückzug des Bewußtseins und eine verfestigte Neurose hervorrufen. Wenn das Gehirn (und der Körper) sich von schmerzhaften Gefühlen zurückzieht, dann ist allein eine unbeschriebene nervöse Aktivität in uns, die als gestaltlose Spannung empfunden wird, und die den Organismus ständig zu der einen oder anderen Handlung antreibt. Diese Spannung ist der (vom Bewußtsein) abgespaltene Anteil des Gefühls — sozusagen die Energiequelle, die umgelenkte Verhaltensweisen bewirkt, Verhalten, das ich als neurotisch bezeichne, weil es von verdrängten Gefühlen gesteuert wird.

Die Existenz einer solchen Energiequelle ist von Neurophysiologen erwiesen worden. W. H. Gantt bemerkt bei der Beschreibung von Reaktionsweisen des Organismus im Sinne grundlegender Reflexe:

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»Die emotionale Basis für eine Handlung bleibt bestehen, nachdem die äußerlichen und oberflächlichen Anpassungsbewegungen verschwunden sind... Der Organismus wird dann von emotionalen Erinnerungen aus der Vergangenheit angestoßen, die ihn auf eine Handlung vorbereiten, die nicht mehr erforderlich ist«.5

Weil wir von frühen, unaufgelösten Erinnerungen, die ich als primäre oder Urerinnerungen bezeichne, angestoßen werden, müssen wir sie ständig abwehren, damit sie nicht bewußt werden und uns überwältigen.

Urschmerzen halten das menschliche System zur Aktivität an. Auch Albe-Fessard weist darauf hin: »Schmerz hat gegenüber jeder anderen Form von peripheren Reizen den größten Erregungseffekt.«6 Das ist notwendig, da Wachsamkeit gegenüber Schmerz lebensnotwendig ist. Sie hilft uns am Leben zu bleiben — wohlverteidigt und neurotisch. »Unlust« hat eine schützende Funktion. Ich zitiere Gellhorn:

»Alle anerkannten Emotionen können vom Standpunkt der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Art betrachtet werden. Emotionen, die in bezug auf Bedrohungen der Selbsterhaltung etwas mitteilen... sind bezeichnenderweise von unlustvoller Art. Auf der anderen Seite durchdringen uns lustvolle Emotionen, wenn Bedrohungen beseitigt sind, wenn Bedürfnisse aktiv zufrieden gestellt werden und gegenwärtig ein Zustand innerer und beziehungsweise oder äußerer Homöostase erreicht wird.«7) 

 

 Zusammenfassung  

Verdrängung ist das natürliche Beruhigungsmittel des Organismus. Früh im Leben, wenn wir hilflos und völlig abhängig sind, schützt sie uns; sie wird pathologisch, wenn wir uns nicht mehr in einer solchen Situation befinden. Der umfassende Ausdruck von Gefühlen bezieht das ganze Gehirn ein, sowohl die höheren wie die niederen Zentren. Wenn der Ausdruck eines Gefühls (der in Übereinstimmung mit Gellhorn für gewöhnlich schützend wirken würde) selbst zur Bedrohung wird — wie die wütende Widerrede gegenüber einem Elternteil —, dann müssen solche Gefühle vom Bewußtsein abgesondert werden; der Konflikt entwickelt sich, und wir werden »gespalten«.

Wie es in E. Gellhorn, Biological Foundations of Emotion, Chicago, III., Scott, Foresman Co., 1968, S.86, vorgetragen wird.
D. Bowsher und K. Albe-Fessard, »Patterns of Somatosensory Organization within the Central Nervous System», in C. A. Keele, Assessment of Pain in Man and Animals, Edinburgh, Livingstone, 1961, S. 11.
7  Gellhorn, op. dt., S. 75.

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Mit anderen Worten: ein Kind, das verletzt wird oder dessen Bedürfnisse frustriert werden, reagiert mit Zorn; man lädt ihm eine doppelte Last auf, wenn man diese zornige Reaktion als Ungezogenheit oder Schande hinstellt. Es kann keine angemessene Überlebensreaktion zustande bringen, weil die Reaktion selber lebensbedrohlich wird — indem sie den Verlust der elterlichen Liebe bedeutet.

Wir haben gesehen, daß die Vermeidung von Schmerz allen Arten organischen Lebens, von der einzelligen Amöbe bis zum Menschen, gemeinsam ist. Der Mensch hat von allen das umfassendste und komplizierteste System entwickelt, und seine große Hirnrinde hält die Neurose, diesen, komplexen neuronalen Reflex gegen Verletzung, aufrecht. Wir wollen diesen Vorgang nun mehr in den Einzelheiten der beteiligten Strukturen untersuchen.

 

  

2.  Struktur der Neurose  

 

 Das retikuläre Aktivierungssystem  

Das retikuläre Aktivierungssystem ist ein Teil der Formatio reticularis, einer vielgestaltigen Struktur, die sich vom tieferen Hirnstamm ins Mittelhirn ausdehnt, um am Thalamus und der Hirnrinde zu enden. Über ihre gesamte Länge hinweg wird sie mit Kollateralen versorgt, die von Nervenfasern stammen, die zur sensorischen Hirnrinde ziehen. Man kann mit Sicherheit sagen, daß alles, was an sensorischen Eingaben aus der äußeren Umgebung kommt, wie das Riechen, Tasten, Schmecken, Sehen und Hören, hier als Information übertragen wird [Relaisstation], bevor es zu verschiedenen Teilen des Neokortex weitergegeben wird, wo dann die feinere, unterscheidende Bearbeitung stattfindet. Aber, und das ist eigentlich noch wichtiger, auch die »inneren« Sinneswahrnehmungen, die Empfindungen des übrigen Körpers, werden hier empfangen; dabei handelt es sich um den arteriellen und den venösen Blutdruck, die Lungendehnung, die Konzentration der Blutgase und vieles andere mehr.

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Zugleich sind in der Formatio reticularis Zentren lokalisiert, die Blutdruck, Atmung, Schlagfrequenz des Herzens und andere automatische Funktionen kontrollieren. Die unabhängige Arbeitsweise dieser Zentren ist offensichtlich; davon überzeugt uns das bewußtlose Opfer eines Autounfalls, das, obgleich seine Hirnrinde »tot« sein kann, weiterhin die vegetativen Funktionen der Atmung und die Kontrolle der Blutzirkulation vollbringt.

Das retikuläre System enthält Areale, die andere Zentren erregen oder hemmen. Es handelt in einem allgemeinen Sinne, indem es das restliche Gehirn »weckt« [Weckfunktion der F.ret.]. Hinsichtlich der Bedeutung des Reizes macht es keine Unterschiede. Bei einem normalen Menschen wird diese Weckfunktion eine bestimmte Gefühlsempfindung lediglich intensivieren. Bei Neurotikern kann die Erregung des retikulären Systems zur Hemmung eines bestimmten Gefühls führen und damit zur Auslöschung von Sinnesmodalitäten. 

Während einer panikartigen Situation wie bei einem Feuer fühlen wir unsere Verletzungen meistens nicht, weil unser nervöses System von der äußeren Situation — und nicht der inneren — gleichsam elektrisch angezogen wird. Das retikuläre System empfängt ungeheure Informationsbeträge. Vermittels Schaltwegen zu höher gelegenen Hirnzentren wird es vom Rest des Gehirns verändert, und zugleich beeinflußt es diesen auch. Es kontrolliert vegetative Funktionen, hilft bei der Einstellung der endokrinen Sekretion, begrenzt die sensorischen Informationseingänge und affiziert die Lernvorgänge und das Bewußtsein. Selber wird es auf einem unspezifischen Weg von allen sensorischen Systemen des Körpers angeregt. Gerade wegen seiner weckenden Funktionen ist es die Hauptquelle nervöser Aktivität.

 

Der Hypothalamus  

Der Thalamus arbeitet als Schaltstation für die sensorischen Afferenzen der Hirnrinde. Der Hypothalamus liegt, wie der Name sagt, unter dem Thalamus. Im Gegensatz zum Thalamus besitzt er viele Aufgaben und enthält die Zentren, die Nahrungsaufnahme, Sattheit, Durst und Sex steuern; dazu kommt noch die Steuerung der endokrinen Sekretion des Körpers, die von der Hirn­anhangs­drüse [Hypophyse] ausgeht [und deren Hinterlappen funktioneil ebenfalls zum Hypothalamus gehört].

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Hauptsächlich durch diesen Hypothalamus gelangt die Energie aus den limbischen Schaltkreisen in den Körper, wo sie psychosomatische Störungen hervorruft. Funktionsstörungen des Hypothalamus wirken sich nahezu auf alles aus, von der Milchmenge, die eine werdende Mutter für das Stillen zur Verfügung haben wird bis zu ihrem Körperwachstum.

Es ist wichtig, auf die relative Unabhängigkeit des Hypothalamus vom Neokortex hinzuweisen — es spricht wenig dafür, zwischen beiden irgendeine direkte Verbindung anzunehmen. Der Vermittler zwischen diesen beiden Strukturen — der sich anatomisch auch in der entsprechenden Lage befindet — ist der Komplex des »alten Kortex«, auch Limbisches System genannt. Die geringe Zahl neuraler Verbindungen zwischen Hypothalamus und Neokortex ist von enormer Bedeutung, denn diese Tatsache weist darauf hin, daß es im Körper endokrine Aktivität ohne eine Art bewußter (kortikaler) Steuerung geben kann. Und umgekehrt kann es kortikale Aktivität geben — Vorstellungen, Meinungen und Selbsttäuschungen —, die keine unmittelbare Verbindung zu den Gefühlen hat, die ihr Entstehen veranlaßten. Das Limbische System hält sie voneinander fern.

 

Das Limbische System  

Das Limbische System besteht in einem Randstreifen von Hirnrindengewebe, der an der Unterfläche jeder (neokortikalen) Großhirnhälfte liegt und sich über die oben beschriebenen Strukturen legt. Es ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Anteil der menschlichen Hirnrinde, und es hat sich während der menschlichen Evolution kaum verändert. Es zeigt bei allen Säugetieren einen ähnlichen Entwicklungsgrad; der einzige Unterschied besteht in der Hirnrindenmenge, die an seinem obersten Ende aufgelagert ist. Limbische Funktionen und Strukturen sind vielfältig und von großer Ausdehnung; sie erfassen weite Areale des Gehirns und haben hauptsächlich mit Emotionen und Erinnerungen zu tun. Das Limbische System ist nach primärtheoretischer Ansicht der Vermittler für seelische Störungen, da es die Schlüsselstruktur für Vorgänge ist, durch die Gefühle gehemmt werden.

Je mächtiger die Überlastung durch angesammelten Schmerz, desto ernster ist die seelische Erkrankung. Oder anders ausgedrückt: je größer die Menge schmerzvoller Impulse ist, die durch Hemmung hervorgerufen werden, desto stärker ist der Druck, der auf das Bewußtsein einwirkt. Die Menge des zugrunde liegenden Urschmerzes hängt aber von dem »Belastungswert« jedes einzelnen Schmerzes ab (die dann alle zusammenaddiert werden).

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Die Vergewaltigung durch den eigenen Vater erzeugt einen zerstörenden und überwältigenden Schmerz, der eine Persönlichkeit in tiefe Symbolisierungen treibt (Psychose). Wenn man gezwungen wird, in die Kirche zu gehen, dann bedeutet dies einen geringeren Schmerz. Jedoch wird der Schmerz, ungeachtet seiner Valenz, aktiv durch Gedächtnisvorgänge in der limbischen (temporalen) Hirnrinde gespeichert.

Smythies unterstreicht die Bedeutung des Limbischen Systems für den Vorgang der Schmerzspeicherung: »Die ausgedehnten limbischen Schaltkreise bilden die Wege, auf denen Empfindungen bewertet und integriert werden, und wo auch letztlich das niedergelegt wird, was für einen bleibenden Gedächtnisspeicher wichtig ist. Der Mandelkern [eine Schlüsselstruktur des Limbischen Systems] scheint hauptsächlich die emotionalen und motivierenden Aspekte dieses Steuerungssystems zu vertreten und der Hippocampus mehr das Einlagern von Erinnerung.«8

Die ontologische Funktion der limbischen Struktur hat, ob sie nun zu Katze, Wolf oder Mensch gehört, die Bedeutung des Schutzes. Betrachtet man sie in dieser teleologischen Weise, dann wird ihre Vielfältigkeit für unser Verständnis durchsichtiger. Sie bewahrt den Menschen vor Schmerz, zugleich aber bewahrt sie ihn auch im Zustand der Neurose.

Auch die Rhythmen von Schlaf, Körpertemperatur, Ausscheidung und sexuellem Verhalten unterstehen der Steuerung durch das Limbische System. Es verwundert uns nicht, wenn das Verhalten, das dem Auftreten einer Spaltung zwischen Hirnrinde und einem frühen Urgefühl folgt, von sexueller Art ist. So etwas kann zustande kommen, weil Urerinnerungen gleichsam unter dem Niveau des Spaltungsvorganges liegen und w jeder einzelnen limbischen Funktion Zugang haben, ohne vom Neokortex unterschiedlich behandelt m werden. Was im einzelnen dazu führt, daß limbische Funktionen einbezogen werden, hängt von den Lebensumständen des Betreffenden ab. Ebenso leicht wie übermäßigem Essen kann er sich dem Sex zuwenden.

8)  T. Smythies, Neurological Foundations of Psychiatry, New York, Academic Press, 1966, S. 131.

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 Beispiele 

 

Nehmen wir zum Beispiel ein junges Mädchen, dem man untersagt hat, sich näher mit Jungens einzulassen, und dem man außerdem noch auf subtile Weise beigebracht hat, daß Sex eine schmutzige Sache sei. Weiterhin erfährt sie, Gott bestrafe schlechte Gedanken. Früher oder später wird sich ihr sexueller Drang verringern. Sexuelle Gedanken werden ihr nicht in den Sinn kommen, weil solche Gedanken Furcht und Schmerz hervorrufen. Dennoch bleibt der Trieb vorhanden, weil — und davon bin ich fest überzeugt — Triebe wie Sex in gesunden Körpern bei allen in nahezu gleicher Stärke vorkommen. Was geht ihr stattdessen durch den Kopf? Vielleicht Gedanken ans Essen, jedenfalls an irgend etwas Statthaftes. 

Die verschiedenen körperlichen Triebe konzentrieren sich dann auf die Nahrungsaufnahme, diese wird zwanghaft und gierig, weil sich die Energie dieses Triebes dann aus verdrängter sexueller Energie und der Energie aus ganz anderen unterdrückten Bedürfnissen und Gefühlen zusammensetzt. Ein normaler oder gesunder Mensch, der innerlich nicht gespalten ist, der nicht unter limbischen Hemmungsvorgängen leidet, ißt nicht mehr, als er braucht. In ihm ist kein Schmerzreservoir, das ihn dazu treibt, alles im Übermaß zu tun. Dieselbe Energiequelle, die für übermäßiges Essen verantwortlich ist, kann ebensogut andere Arten von Unmäßigkeit hervorbringen. In diesem Sinne kann bei jemandem, der in einem religiösen Hause groß wurde, das Beten zum Zwang werden.

Der primäre Verhaltensdruck (durch ungelöste Schmerzen erzeugt), der unterhalb der Zugriffsmöglichkeit der Hirnrinde liegt, verzweigt und verläuft sich in zahlreiche physiologische Vorgänge. Derselbe Schmerz beispielsweise, der für sexuelle Vorstellungen den Untergang bedeutet, kann einen Vaginismus, einen Scheidenkrampf, verursachen, der den Verkehr schmerzhaft und manchmal sogar unmöglich macht. Die Neurose ist eben nicht einfach etwas Seelisches. Es gibt nicht nur eine Spaltung im Gehirn, sondern auch einen Körper, der von seinen Gefühlen abgespalten ist — der Körper »ergreift Partei« für die unbewußten Gefühle.

Derselbe primäre Druck kann über jeden beliebigen Abflußkanal abgeleitet werden, den das schwächste Glied der körperlichen Konstitution bietet. Er kann Ticks oder Stottern hervorrufen, die ebenso zwanghaft sind, wie jede andere neurotische Aktivität etwa in sexuellem Verhalten oder bei der Nahrungs­aufnahme. Diesem Zwang gegenüber ist die betreffende Person hilflos, auch wenn es ihr so vorkommen mag, daß alles, was sie macht, aus freiem Entschluß geschehe.

An dieser Stelle sehen wir auch den Unterschied zwischen Neurose und Psychose. Bei der Neurose ist der Grad, in dem der Schmerz generalisiert wird, geringer — es wird weniger Schmerz über die Erinnerungs­verknüpfungen rückgeleitet. Bei der Psychose liegt zweifellos ein Zustand höherer Generalisierung oder Verallgemeinerung vor, bei dem auch die Rekanalisierung stärker, vielfältiger und symbolischer ist. 

Ein Beispiel dafür ist eine psychotische Patientin, die vor allen Männern schreckliche Angst hatte; sie war völlig unfähig, einem Mann in die Augen zu sehen. Sie reagierte damit auf ihre verdrängte Erinnerung, als sie ihrem Vater, während er sie vergewaltigte, in die Augen schaute. Später reichten schon allein Bilder, auf denen die Augen von Männern zu sehen waren, aus, um sie zu erschrecken. Rekanalisierung und Symbolisierung wurden immer weitläufiger.

Die Verdrängung, die durch Schmerz in Gang gesetzt wird, ruft einen generalisierten triebhaften Zustand hervor, der auf symbolische (neurotische) Weise gelöst werden muß, da unmittelbare Verbindungen zu wirklichen Gefühlen im Neokortex wieder mehr Schmerz entstehen lassen als verarbeitet werden kann. So bleibt der Betreffende innerlich gespalten und für immer dazu verurteilt, im gewohnten Fahrwasser seiner Neurose dahin zu ziehen.

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