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6. Ur-Erinnerung und Hirnstruktur: 

Über die permanente Aufzeichnung frühen Erlebens

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  Anhang unten

 

Das Schläfenhirn

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Die Experimente des Neurochirurgen Wilder Penfield haben aufsehenerregende Einzelheiten über das Gedächtnis und das Limbische System geliefert.33) Penfield hat am Schläfenhirn von Epileptikern Operationen in lokaler Betäubung durchgeführt. Penfield hat während der Operation bei geöffnetem Schädeldach entdeckt, daß er durch die Reizung verschiedener Abschnitte der temporalen Hirnrinde mit Hilfe einer Elektrode frühe Erinnerungen abrufen konnte. Diese Erinnerungen entfernten sich in genau derselben Reihenfolge, wie sie auftraten und waren sehr lebhaft. 

Die Patienten beschrieben ihre Erinnerung so lange, wie die Elektrode am selben Platz verblieb und brachen ab, sobald die Elektrode zurückgezogen wurde. Wenn die Prüfelektrode in der Nähe einer Gedächtnis­stelle aufgesetzt wurde, erlebte der Patient eine Halluzination. Wurde sie an ihren ursprünglichen Platz zurückgebracht, dann erschien wieder dieselbe Erinnerung und wurde in derselben zeitlichen Folge wie zuvor erlebt.

Die Erinnerung fing jeweils mit ihrem Anfang an. Penfield beschrieb einen Fall, bei dem er die Prüfelektrode in der Nähe einer Gedächtnisstelle aufgesetzt hatte; es trat eine Halluzination auf: »Es scheinen Räuber in der Nähe zu sein«. Als die Elektrode wieder auf die Gedächtnisstelle zurückgesetzt wurde, lautete die Erinnerung: »Ich erinnere mich, wie mein Bruder ein Gewehr auf mich richtet«. Das war eindeutig der zentrale Schmerz. Und je weiter sich die Elektrode von dem zentralen Schmerz entfernte, desto stärker wurde die Symbolisierung. Daher kann man symbolisches Verhalten buchstäblich als eine Funktion der Entfernung vom Ort des Gefühls betrachten.

In einer anderen Arbeit diskutiert Penfield Halluzinationen, die einem epileptischen Anfall sehr häufig vorausgehen, und stellt fest: »Sie sind Wiedergaben vergangenen Erlebens«.34 Sie sind, um es in den begrifflichen Rahmen der Primärtheorie zu stellen, Abkömmlinge realer Erinnerungen. Diese Auffassung, daß Symbolisches wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen eine Wiedergabe der Vergangenheit ist, erscheint wichtig, denn sie verschafft uns auch Einsicht in die Traumsymbole.

Wird durch ein aktuelles Ereignis eine alte Erinnerung ausgelöst (in mancher Hinsicht auf dieselbe Weise wie durch Penfields Elektrode), dann werden an Stelle eines aufsteigenden, empfundenen und gelösten Gefühls Symbole erlebt. Im Falle der Epilepsie entsteht ein Krampfanfall. Die Aura und die Halluzination, die dem Anfall vorausgehen, weisen darauf hin, daß ein früheres Gefühl sozusagen in der Nähe ist und daß es »psychisch« symbolisiert wird (wegen der Mächtigkeit des verdrängten Gefühls), während der Körper unter der massiven Entladung dieser vorausgegangenen, aufsteigenden und abgespaltenen Kraft krampft.35

Das epileptische Symptom tritt, wie jedes andere Symptom, an die Stelle ungespaltenen Schmerz­empfindens. Und es erscheint, weil die genaue Erinnerung und das dazugehörige Gefühl nicht sicher miteinander verknüpft werden konnten. Epilepsie ist die unkontrollierbare körperliche Entladung von Spannung; Psychose die dementsprechende psychische Entladung.

33)  W. Penfield und P. Perot, »The Brain's Record of Auditory and Visual Experience», in Brain, Band 86, Teil 4 (1963), S. 596-695. Siehe auch Penfield und Krustiansen, Epileptic Seiwe, Springfield, 111., Charles Thomas Co., 1951.

34)  Penfield und Perot, op. cit., S. 686.
35)  Wayne Barker erörtert den genauen Vorgang ausführlich in seinem Buch Brain Storms, New York, Grove Press, 1968.

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Die psychogene Epilepsie (und ich erörtere hier das psychogene Symptom) steht auf derselben Stufe wie symbolische Träume, insofern beide auftreten, wenn keine angemessenen Verknüpfungen hergestellt werden können.

In Penfields Experimenten während der Operation entstand manchmal bei dem Patienten, wenn die Elektrode an einer bestimmten Erinnerungsstelle aufgesetzt wurde, ein Gefühl, als würde er gleich einen Anfall bekommen. Aber es traten keine Anfälle auf, und selten gab es bei diesen Szenen tiefen emotionalen Schmerz. Penfield beschreibt seine Beobachtung während der Operation eines siebzehnjährigen Epileptikers. Viele seiner Anfälle wurden ausgelöst, als er Jazz hörte. Mit dem Beginn der Anfälle war jeweils eine vage Erinnerung verknüpft, in der er versuchte, etwas zu erreichen. Als ein bestimmter Punkt des Schläfenhirns gereizt wurde, sagte der Junge: »Ich glaube, ich bekomme einen Anfall«. Wurde dann die Prüfelektrode ein Stückchen vorwärts bewegt, sagte er: »Ich fühle mich so, als ob ich im Waschraum der Schule sei... eine Art von Rückblende«. Er sagte: »Ich schien tatsächlich dort zu sein«.36

Diese Beschreibungen lassen uns im Unklaren darüber, was wohl die wahre Wirkung jener Waschraum­szene war, und ob es hier möglicherweise Erinnerungselemente gab, die nicht erweckt werden konnten, weil sie mit dem schmerzvollen Gefühl zusammen weggeschlossen waren. Oder anders ausgedrückt: es ist möglich, daß selbst mit einer Prüfelektrode die affektiven Elemente einer Erinnerung nicht hervorgeholt werden können, um Urerlebnisse unter Kontrolle zu bringen. Wir sollten hier darauf hinweisen, daß, selbst wenn Erinnerungen den Eindruck machen, sie hätten eine starke Affektqualität, die mit der Elektrode erregten Versuchs­personen dies jedenfalls nicht in einer tiefgehenden Weise zu zeigen scheinen. (Bei einem Beispiel von Penfield handelte es sich um folgende Erinnerung: »Irgend jemand schreit mich an. Bring ihn zum Schweigen!« — das wurde mit geringer Gefühls­beteiligung ausgesprochen.)

In Wirklichkeit ist dieses Phänomen aber kaum verschieden von dem, was in manchen konventionellen Therapieformen geschieht, wenn sich der Patient mit geringer Erregung an etwas erinnert (weil er gespalten ist) und später in der Primärtherapie durch diese Erinnerung in Krämpfe versetzt wird, weil er mit sich selbst verbunden ist.

36)  Penfield und Perot, op. dt., S. 651.

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Ein weiterer Beweis dafür, daß die Spaltung selbst unter der Prüfelektrode bestehen bleibt, ist, daß in keinem der Fälle, die Penfield berichtet, der Betreffende die Szene gegenwärtig wieder­erlebt hat. Er »sah« die Szene und bezog das, was er sah (und was er hörte) auf den Arzt. Mit anderen Worten: der Patient blieb vom wahren Affekt der Szene abgespalten. Die Gegenwart fahren zu lassen und in die Erinnerung zu versinken, in ihr mit den Menschen zu sprechen, könnte ein Ergebnis bewirkt haben, das sehr verschieden von dem ist, was Penfield berichtete.

Penfield erörtert weiter den Elektrodenversuch in Beziehung zum Schläfenhirn:

»Die Tatsache, daß die Anwendung eines mäßigen elektrischen Stromes an gewissen Teilen des Schläfenhirns die Wiedergabe gleichsam einschaltet, läßt darauf schließen, daß das Engramm [die Erinnerungsspur] in der Tat eine beständige und fortdauernde Neigung zur Bahnung ist. Bahnung senkt die Widerstandsschwelle für die Passage von Nervenimpulsen. Das sollte uns aber nicht zu der Schlußfolgerung führen, daß das Engramm und seine Neigung zur Bahnung in der temporalen Hirnrinde in Nähe der Elektrode des Chirurgen anzusiedeln ist. Es läßt indessen nur die Schlußfolgerung zu, daß es im Schläfenhirn einen Abtastungsmechanismus gibt, der die Bahnungsneigung auch über eine Entfernung hinweg zu aktivieren vermag.«37

Der Grund dafür, daß nicht die gesamte »Erinnerung« oder der gesamte Rückkoppelungskreis innerhalb eines kleinen Hirnrindenabschnitts lokalisiert werden kann, ist offensichtlich. Eine schmerzvolle Urerinnerung mit dem Inhalt »Mutter« würde Verbindungen zu verschiedenen Anteilen des Neokortex einschließen. Ein geistiges Bild (Hinterhauptslappen), die Berührung (Scheitelhirn), Geruch (Stirnrinde) und Geräusch (Schläfenrinde) — sie alle liefern ihre Beiträge beim Aufbau des komplizierten Erinnerungskreises; nicht weniger wichtig ist das Wort »Mutter« selbst, das in der Scheitelhirnrinde gespeichert wird. Primäre Erinnerungskreise können dadurch ausgelöst werden, daß eine oder mehrere der sensorischen Modalitäten, die in der Erinnerung an die Mutter zusammenkommen, wieder hervorgeholt werden — deshalb bestehen wir auch darauf, daß die Patienten Photoalben aus ihrer Kindheit in die Behandlung mitbringen.

 

37)  W. Penfield, »Engrams in the Human Brain«, Royal Society of Medicine, Proceedings, Band 61, 1968, S, 839-840.

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Penfield nennt die Schläfenrinde den »interpretierenden Kortex«, weil sie »Teil eines automatischen Mechanismus ist, der die Aufzeichnung der Vergangenheit genau prüft. Sie trifft unterbewußte automatische Urteile, die mit dem Einzelnen und seiner Umgebung zu tun haben.«38

Wir wollen sehen, was das für die Neurose und ihre Heilung praktisch bedeutet. Vor kurzem hatte ich in einer Primärgruppe eine Frau, die plötzlich einen homosexuellen Mann umarmte, der zu diesem Moment unter etwas litt, was er als »unbestimmten Schmerz« beschrieb. Er hatte früher schon ein kleineres Urerlebnis gehabt. Bei dieser Umarmung brach er unmittelbar zusammen und empfand den vernichtenden Schmerz, der damit verbunden war, daß er niemals von seiner Mutter berührt und liebkost wurde.

Dieser komplexe Gefühlskreis war so schmerzlich, daß er es automatisch und unbewußt vermied, mit Frauen in Berührung zu kommen, um damit den Schmerz zu umgehen. Die plötzliche Umarmung durch eine Frau, in einem Augenblick, da er verletzbar war, versetzte diesem Rückkoppelungskreis von Schmerz einen empfindlichen Schlag. Über die Modalität der Berührung aktivierte die Abtasteinrichtung für Erinnerungen eine Flut von Impulsen — eine Flut von Jahren der Entbehrung und des Bedürfens. Die Vermeidung von Frauen (durch Homosexualität) war seine Art und Weise gewesen, mit der er den Schmerz automatisch abgewehrt hatte. Nicht die Anziehung durch Männer war das Motiv für seine Homosexualität gewesen; Männer bedeuteten gleichsam den Weg des geringsten Widerstandes. Ohne diese Abwehr mußte er die schmerzlichen Gefühle empfinden. Die Heilung der Homosexualität dieses Patienten schloß ein, daß er den Schmerz fühlte; es gab dann keinen Grund mehr für ihn, Frauen aus dem Wege zu gehen. Also ist es der Zugang zu derartigen primären Kreisprozessen, der die Heilungswirkung der Primärtherapie erzeugt.

Man kann daher die Schläfenrinde als eine Art Prüfungseinrichtung ansehen, die jede einzelne neue Erfahrung auf der Grundlage des Erinnerungsvorrats auslegt. Jedes neue Ereignis wird mit Hilfe der Begriffe dieses latenten Speichers interpretiert (die Rolle, die der Frontallappen bei diesem Vorgang spielt, wird noch erörtert). Der temporale »Prüfer« trifft unter den vergangenen Erfahrungen die Auswahl der ähnlichen Erfahrungen und gibt dann die gesamte Botschaft, die vergangene und die gegenwärtige, zur Verarbeitung an andere Hirnzentren weiter.

 

38)  Ibid. vom Autor.

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Die Tatsache, daß Schmerz reaktiviert werden kann, wird beispielhaft durch das Phänomen des Phantomglieds veranschaulicht. Es handelt sich dabei um die anhaltende Leidensempfindung, die von der Wundgegend eines entfernten Körperglieds ausgeht. Nathan reizte einige der Nerven, die den Ort einer früheren Verletzung an einem inzwischen amputierten Gliedmaß nervös versorgten.39 Er stellte fest, daß »sobald die Reizung entsprechend war, das ganze Erlebnismuster der früheren Verletzung auftrat. Es schoß also nicht nur der Schmerz in die ursprüngliche Stelle ein; das gesamte Erregungsmuster einschließlich der vorausgegangenen Verwundung wurde empfunden.«40

Wie bei den Schmerzen des oben besprochenen Homosexuellen braucht es also nicht viel, um das vollständige Schmerzmuster hervorzubringen. Bruchstücke einer gespeicherten Erfahrung können den kompletten neurophysiologischen Kreisprozeß in Bewegung setzen (ein Anblick, ein Geräusch oder ein Geruch). Eine Folge davon ist es, daß wir als Erwachsene nicht mit unseren Eltern zusammenzuleben brauchen, um weiter unter den Erfahrungen unserer frühen Kindheit zu leiden. Wir speichern die Erinnerungen in der gleichen Weise, in der auch das Phantomglied zentral aufgezeichnet wird. Und einem Neurotiker zu sagen: »Sie haben doch gar keinen Grund, so aufgebracht und erregt zu sein« wird etwa ebenso sinnvoll sein, wie einem Amputierten zu sagen, er solle keine Schmerzen mehr empfinden, da er seine Gliedmaßen bereits verloren habe.

 

Kurzzeit- und Langzeit-Primärgedächtnis 

Wir sollten zwischen Urerinnerungen und anderen, mehr gegenwärtigen Erinnerungen einen Unterschied machen. Bei Kurzzeit­erinnerungen und Langzeiterinnerungen handelt es sich um zwei wesentlich verschiedene Vorgänge. Bei einigen Fällen von Hirnschädigung ist das gegenwärtige Erinnerungsvermögen in solcher Weise gestört, daß der Betreffende beispielsweise mit uns über seine Kindheit spricht, dann den Raum für fünf Minuten verläßt, und wenn er zurückkommt nicht mehr weiß, wer wir sind. Trotzdem mag er fortfahren, über seine Kindheit zu sprechen.

 

39)  P.W. Nathan, »Pain Traces Left in the Central Nervous System«, in C. A. Keck, The Assessment of Pain in Man and Animals, Edinburgh, Livingstone, 1962.
40)  Ibid., S. 131.

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Gegenwärtige Forschungsergebnisse weisen darauf hin (ich habe früher schon die Arbeit von Gordon zitiert), daß nicht alles, was uns widerfährt, unverzüglich gespeichert wird. Damit die Erinnerung auf Dauer niedergelegt wird, müssen viele neurochemische Prozesse ablaufen. Wenn während dieses Speicherungsvorgangs gewisse Drogen gegeben oder ein elektrischer Schock verab­reicht wird, kann die Erinnerung vielleicht niemals gespeichert werden. Hat sie sich aber einmal verfestigt, dann werden weder Droge noch Schock irgendeine Wirkung auf sie haben. Für den Ablauf des Konsolidierungsvorgangs sind mehrere Stunden nötig.41

In einer großen Reihe von Tierexperimenten konnte gezeigt werden, daß weder Schlaf, Drogen, noch Schocks das Gedächtnis auslöschen können. Mit der Hilfe von Drogen können wir die Einwirkung des Gedächtnisses auf unser Verhalten vorübergehend Unterdrücken, aber keine anhaltenden Veränderungen bewirken. Das hat zur Folge, daß die Elektroschockbehandlung, die immer noch in einer gewissen Zahl von psychiatrischen Anstalten und Kliniken angewandt wird, einen vorübergehenden Erinnerungs­verlust hervorruft, der manchmal für einen längeren Zeitraum anhält, so daß der Patient doppelt beunruhigt wird, eben weil er sich nicht mehr erinnern kann. Die Schockbehandlung unterdrückt aber lediglich das Bewußtsein der Erinnerung, nicht die Erinnerung selbst. Diese ist weiterhin wirksam und ruft Angst hervor. Natürlich sind Urerlebnisse und die Neurose, die auf ihnen beruht, nicht einfach aus unseren Körpersystemen entfernbar. Sie gehören sehr weitgehend zu unserer Physiologie. Die einzige Art und Weise, durch die man Urerlebnisse auf Dauer auslöschen kann, besteht darin, daß man einen Teil unserer Anatomie herausschneidet, wie es bei der Lobotomie [Hirnlappenentfernung] der Fall ist.

Eine der Folgen der Zeitverzögerung, mit der eine Erinnerung niedergelegt wird, ist, daß psychische Verletzungen, bevor sie zu beständigen Rück­koppelungs­schleifen werden, ungeschehen gemacht werden können. Wenn ein Elternteil merkt, daß er müde und reizbar war, als er sein herumnörgelndes Kind grob anfuhr, so kann er seinem Kind helfen, dieses ursprüngliche Gefühl zu empfinden, bevor es mit dem Schmerz weggeschlossen wird. Dann kommt es eben zu einer anderen Erinnerung, aber nicht zu einer Urerinnerung von anhaltender Kraft.

Wenn das Erlebnis sich niederschlägt, bevor es umfassend empfunden worden ist, muß es später wieder­erlebt werden, damit es ungeschehen gemacht werden kann. Und es ist gewiß keine leichte Sache, ein Ereignis wieder einzufangen, das in der Vergangenheit, vor gut zwanzig Jahren, geschah.

 

41  Diesen verwickelten Vorgang erörtert Roy John in Einzelheiten gehend in seinem Buch, Mechanisms of Memory, New York, Academic Press, 1967.

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7.  Das Frontalhirn: Über das Wesen bewußten und unbewußten Fühlens 

 

 

Die frontale Hirnrinde 

Ich habe schon auf die Wichtigkeit des Stirnlappens hinsichtlich der Verarbeitung von Reaktionen auf Schmerz hingewiesen. Der Frontallappen nimmt die zusammenhängende Darstellung einer Erinnerung mitsamt ihrem schmerzlichen Affekt in Angriff. Botschaften aus dem Bereich des Gefühls werden in der Stirnrinde interpretiert und dann zu anderen Hirngebieten weiter­geschaltet, die sie zur Wirkung bringen. Ist der Schmerz zu groß, dann wird die hemmende Tätigkeit des Hippocampus angeregt und tritt in Erscheinung. Das Ergebnis ist ein limbischer Spaltungsvorgang. Ein Zuviel von Schmerz aktiviert den frühen Überlebensmechanismus der Verdrängung, und das Tor der Gefühlsschleuse wird geschlossen. Jedenfalls steigt mit dem Ausmaß des Schmerzes der Grad der Stirnhirnrindenaktivität, durch die die Verdrängung in Gang gesetzt wird.

Welche Entscheidungen die Stirnhirngebiete in Bezug auf die ankommende Botschaft treffen, hängt davon ab, was unsere Vorgeschichte hinzufügt. Auf eine einzelne Zurückweisung wird intensiv reagiert, weil sie in das Fahrwasser einer Vorgeschichte von Zurückweisungen gerät. Demgemäß hat man, wenn einige der Nervenfasern, die die praefrontale Hirnrinde mit dem Thalamus verbinden, chirurgisch zertrennt werden, die primäre Vorgeschichte abgelöst. Das Ergebnis besteht in einer beruhigenden Wirkung, weil der Betreffende sich nur noch zur Gegenwart verhält. Die thalamo-temporale Botschaft dringt nicht mehr durch. Der Schmerz ist auf chirurgischem Weg von seiner Vorgeschichte und seiner Verarbeitungseinrichtung im Frontalhirn abgetrennt worden.

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Erinnerung und Schmerz bestehen jedoch weiterhin; die Reaktion ist beseitigt worden. Sobald die Reaktion beseitigt ist, wird der Betreffende zwar wissen, daß Schmerz in ihm ist, aber seine Einstellung wird sein »Was solls?« Die Lobotomien werden heute noch in psychiatrischen Krankenhäusern bei denjenigen angewandt, die unbeeinflußbar angespannt sind und die unter chronischem und schwerem körperlichem Schmerz leiden; ein weiterer Beleg dafür, daß Spannung eine undifferenzierte Form von Schmerz ist.

Mit den Menschen, die eine Primärtherapie hinter sich haben, ist folgendes geschehen: sie sind von den Wirkungen ihrer primären Vergangenheit befreit worden. Das geschieht, wie ich schon gesagt habe, dadurch, daß zu dieser Vergangenheit wieder eine Verbindung hergestellt wird. Wird die Verbindung zur Vergangenheit durch einen chirurgischen Trennungsvorgang gelöst, dann wird der Betreffende dadurch auf die Gegenwart eingeschränkt, zugleich aber auch seiner einzigen Chance auf Rettung und Erlösung beraubt. Nach meiner Ansicht beseitigt die Lobotomie die letzte Hoffnung eines Menschen, sein Menschsein wiederzugewinnen. Auch hier wieder die Dialektik: die Verbindung zur Vergangenheit befreit uns von ihren Wirkungen; die Abtrennung von der Vergangenheit hält diese gerade für immer aufrecht.

Nachdem jemand einmal in einer Primärtherapie war, wird er auch weiterhin Urerlebnisse haben, aber sie sind der Schmerzen beraubt — und damit auch ihres Vermögens, neurotisches Verhalten hervorzurufen. Den Schmerz empfinden heißt, daß die praefrontale Hirnrinde nicht mehr »Entsetzen« entziffert, wenn Gefühle aufsteigen. Gerade dieser Schrecken — das Entsetzen vor den Konsequenzen des Gefühls — ist es, der einen einfachen Schmerz in einen vollkommen physiologischen Zustand der Panik umbildet. Wird der Schmerz erlebt, dann können die Gefühle in einem ruhigen Ablauf verarbeitet und gespeichert werden.

Letzten Endes ist der Frontallappen dafür verantwortlich, ob ein Gefühl schmerzlich wird. Nach einem einfachen Ereignis wie dem Tadel eines Lehrers wegen einer Massenarbeit, sucht die Schläfenrinde die Vergangenheit nach weiteren Vorwürfen ab und übergibt dem Frontallappen die gesamte Reizzufuhr zur Verarbeitung. Eine einzelne Zurechtweisung wäre nicht schmerzlich, hätte sie nicht eine geschichtliche Bedeutung — nämlich die: »Meine Eltern glauben nicht, daß ich zu irgendetwas tauge.« Gerade die verborgene Bedeutung, die in einem Tadel steckt, macht den Hemmungsvorgang erforderlich, damit der Organismus nicht mit Schmerz überflutet wird.

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Dementsprechend ist die Summierung des Erlebens und nicht das einzelne Geschehnis das Entscheidende. Summierung kann nur auftreten und die Verdrängung in Gang setzen, wenn es unterhalb dieser Vorgänge einen Fundus von Urerlebnissen gibt.

An dem vorausgegangenen Beispiel des Homosexuellen können wir sehen, daß bei Neurotikern eine bestimmte Bedeutung abgewendet (Mutter und Frauen, Schmerz) und eine neue projiziert werden muß (»Bei Männern kann ich mich sicher fühlen«).

Daher sind selbst bei den intelligentesten Neurotikern bizarre und irrationale Vorstellungen, mystische Glaubensüberzeugungen und merkwürdige Philosophien unerläßliche Stoßdämpfer.

 

Die Hirnrinde und ihre Abwehrfunktion 

Wir kennen sicher alle eine Situation, in der uns jemand mit einem Vorwurf am Boden zerschmettert hat. Von diesem Moment an hören und sehen wir praktisch nichts. Wir halten uns einfach für nervös, was aber tatsächlich abläuft, ist, daß alle Hilfsmittel des Körpers in den alten Urkampf verwickelt sind. Die Stirnrinde ist vom retikulären System alarmiert, damit sie den alten Schmerz fernhält. Wir können dies an den elektro-enzephalographischen Aufzeichnungen sehen, die bei Menschen unter Streß registriert werden. Es ist ein großes Reaktionspotential zu sehen, das darauf hinweist, daß zur Selbstvereidigung ein bedeutsamer Anteil der Hirnrinde aktiviert worden ist.

Die Tatsache, daß konzentrierte kortikale Aktion eine Abwehr von Schmerz darstellt, läßt vermuten, daß es sich bei diesem Vorgang um einen Hauptfaktor in der aktuellen Entwicklung der menschlichen Hirnrinde handelt. Durch die Arbeit von Krech wissen wir, daß Rattengehirne als Folge einer Stimulation tatsächlich an Gewicht zunehmen.42 Und so weit hergeholt ist es nicht, wenn wir meinen, daß ein Hauptfaktor für die Entwicklung der menschlichen Hirnrinde ihr Wachstum war, das als Folge einer Schmerzstimulierung eintrat — oder auch als Folge der Schmerzgefahr.

 

42  D. Krech u. a., »Modifying Brain Chemistry and Anatomy by Enrichment or Impoverishment of Experience« in G. Newton und S. Levine, Early Experience and Behavior, Springfield, III., 1968.

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Es gibt verschiedene Arten organisch bedingter Hirnstörungen, aber eine ist für unsere augenblickliche Erörterung besonders wichtig. Bei einer Art der Aphasie [zentral bedingter Verlust der Sprechfähigkeit] kann der Betreffende seine Gefühle zwar ausdrücken, aber nicht erklären. Er kann mit Gefühlsbeteiligung »Scheiße« sagen, aber nicht mitteilen, warum er es gesagt hat. Und er würde beispielsweise keine Vorstellung davon haben, warum er ärgerlich ist. Diese Art der Aphasie verweist darauf, daß. die Ausdrucksweisen des Gefühls in einer Ebene des Gehirns aufgezeichnet werden, die näher zu den Gefühlszentren liegt. Die Fähigkeit, Gefühle zu erklären, scheint eine entferntere und höhere Funktion zu sein. Eine der Schwierigkeiten für die Psychoanalyse und anderer, auf Einsicht abzielender Therapieformen besteht darin, daß zwar jene höher gelegenen Zentren, die mit dem Erklären zu tun haben, angestrengt werden, nicht aber die niedriger gelegenen, die so innig mit dem Fühlen verknüpft sind. Oder anders ausgedrückt: der herkömmliche Therapeut befaßt sich mit den Abwehrzentren der Hirnrinde, und sein Patient wird im umgekehrten Sinne aphasisch; er kann seine Gefühle erklären, aber nicht empfinden.

Die Schwierigkeit jeder Therapie, die auf Einsichten beruht, besteht darin, daß sie gerade jene schmerzlichen Verbindungen zwischen der Hirnrinde und den niedriger gelegenen Hirnzentren nicht herstellt. Um diese Verbindung, die normalerweise über eine Reihe von frühkindlichen Erfahrungen verläuft, herzustellen, muß es dem Patienten gestattet werden, dieses kleine Kind zu sein, damit dessen frühe Gefühle wieder mit dem Erleben verknüpft werden. Ein Erwachsener kann die Verbindungslinien zu den Rückkoppelungsschleifen nicht herstellen, indem er Gefühle erklärt. Daher besteht die einzige therapeutische Erfahrung, in der diese Zusammenfügung stattfindet, darin, daß man seine ungelösten frühen Schmerzen wiedererlebt. Ganz gleich, wie zutreffend der Kortex die innere Problematik oder die Verhaltensdynamik unseres Systems wahrnimmt und wie viel Einsicht besteht — ohne die Verknüpfung kann sich nichts ändern.

Dieser Gesichtspunkt veranschaulicht sich auf eine dramatische Weise, wenn Patienten ein Geburtstrauma wiedererleben. Die ungelösten Schmerzen solcher Erfahrungen rufen auf dem gleichen Weg wie jeder Urschmerz eine lebenslange Spannung hervor. Keine auch noch so ausgeklügelte Erklärung kann diese Spannung ungeschehen machen, da ihr Ursprung nichts mit zerebralen Vorstellungsinhalten zu tun hat. Das trifft in noch stärkerem Maße zu, wenn diese Erklärung von einem Fachmann — einem Therapeuten — geboten wird.

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 Jeder Mensch besitzt seine eigene geschichtliche Wahrheit. Es kann sein, daß er übermäßig ißt, weil seine Mutter ständig wütend, sein Vater kühl und seine Schwester gemein war und vieler anderer Gründe wegen. Diese Gründe können für ihn nur sichtbar werden, wenn die Gefühle erweckt werden, die durch ihre Stärke sowohl die Herkunft der zugrunde liegenden Motivation wie auch deren Kraft anzeigen.

Selbst wenn es eine vollkommene Erklärung für das Verhalten eines Patienten gäbe, würden die primären Kreisprozesse weiterhin sein System aktivieren — säuberlich getrennt von der Erklärung. Weil eine Erklärung und die Gefühle zwei wesentlich verschiedene Dinge sind (es sei denn, die Erklärung resultiert auf dem Erleben von Urgefühlen), gibt es für die Erklärung keinen Weg irgendetwas zu verändern. Primäre Kreisprozesse können nicht wegerklärt werden.

Zerebrale Vorstellungsinhalte, auch wenn man sie »Einsichten« nennt, spielen sich oberhalb der Spaltung ab; daher vermag auch kein Buch über Psychologie einem Neurotiker dazu verhelfen, ein »normaler« Mensch zu werden. Er mag zwar alles wissen, aber nichts fühlen. Man kann die bewußten Werte und Ziele eines Menschen zwar verändern, so daß der Energiebetrag, der ihn vorher zum Beispiel zu einem zwanghaften Dieb gemacht haben mag, ihn jetzt zu »konstruktivem« Überarbeiten antreibt; die Krankheit aber, der Urschmerz, bleibt bestehen.

 

  

8.  Spaltung, Generalisierung und Psychose 

 

 

Gantt hat hervorgehoben, daß der Organismus ständig auf frühe emotionale Erinnerungen reagiert, indem er sich »für Handlungen, die nicht mehr erforderlich sind« bereitstellt.43) Daher entsteht, so bemerkt er, an Stelle einer spezifischen Reaktion — einer geballten Faust — eine allgemeine Reaktion — ein erhöhter Blutdruck. Sobald ein Gefühl verdrängt und nicht mehr spezifisch ist (denn spezifisches Fühlen bedeutet Schmerz), generalisiert es.

 

43  W. H. Gantt, »Principles of Nervous Breakdown«, Annals of the New York Academy of Sciences, Bd. 56, Nr. 143, 1953.

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Smythies stellt fest: »Es ist möglich, daß die Umwandlung von Reaktionen auf Streß, Angst und Depression von diesen [limbischen] Kreisvorgängen geleitet wird, die damit für die Errichtung von Schwellen und den Grad der Generalisierung für die betreffenden emotionalen Reaktionen verantwortlich wären.«44 Mit anderen Worten: ein ursprünglicher Schmerz wird nicht zu einer ausgeformten Reaktion weiterentwickelt. An die Stelle einer bestimmten Furcht (»Ich werde nicht geliebt und muß deshalb allein sein«), tritt unbestimmte Unruhe und Erregung. Diese Furcht kann sich auf andere neutrale Situationen ausdehnen, die eigentlich nicht furchterweckend sind, das heißt, sie generalisiert. Damit sehen wir, daß eine neurotische Reaktion ein Verhalten ist, daß der betreffenden Situation nicht angemessen ist — zum Beispiel die übermäßige Furcht vor Menschen­ansammlungen.

Die Hirnrinde, die ja nicht unmittelbar mit den Strukturen verknüpft ist, die den sinnlichen Eindruck des ursprünglichen Gefühls verarbeiten, kann beim Unterscheidungs­vorgang zwischen Qualität und Herkunft nicht helfen, und das führt dann zur Generalisierung. Eine frühe, geheimgehaltene Angst vor dem Vater, wird zunächst zu einem vagen angstvollen Gefühl gegenüber dem Vater, dann gegenüber Männern und Autoritäten und schließlich zu einem generalisierten furchterfüllten Zustand.

Diese Furcht ist real, obgleich sie nicht spezifisch ist. Sie verbleibt als unbestimmte Angst und richtet sich in zufälliger Weise auf die Gegenwart, sie richtet sich auf jene Dinge des gegenwärtigen Lebens, die symbolisch für das Gefühl stehen — zum Beispiel die Furcht vor Polizisten als Vaterersatz. Die Furcht kann, wenn sie hochgradig ist, zu einer Phobie werden, oder zu einer Wahnerkrankung, wenn der Betreffende glaubt, seine Angst beziehe sich auf feindlich gesonnene Fremde. Paranoia ist eine Ausweitung der Furcht, die aufgrund ihres Ausmaßes noch stärker generalisiert ist, wodurch die Reaktionsschwelle gesenkt und nahezu alles das Furchterleben in Gang bringen kann. 

Um das Gefühl zu unterbinden, wird die Hirnrinde angeregt, im Sinne der Sicherheit eine völlig unrealistische Welt zu konstruieren, damit nichts von außen eindringen kann. Daraufhin wird diese Furcht gleichsam eine lebensfähige, selbständige Sache, die das Zwischenhirn und die retikulären Systeme beeinflußt, wohingegen die Hirnrinde nur die reale Furcht abschätzen kann. Der symbolische kortikale Inhalt ist auf die gleiche Weise ein Produkt des wirklichen Gefühls wie die Traumsymbole, die ja auf verdrängte Gefühle hinweisen und mit ihnen verknüpft sind.

 

44  Smythies, op. cit., S. 130.

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Die Grundlage für eine Furcht vor feindlich gesonnenen Fremden kann so aussehen: »Ich bin ganz allein und allen anderen fremd«. So versuchen manche Psychotiker in einer dialektischen Wendung, indem sie Feinde erfinden, von denen sie beobachtet werden, das Gefühl des Allein- und Ausgeschlossenseins fernzuhalten.

Der Vorgang der Spaltung oder Loslösung beginnt mit einer sensorischen Reizzufuhr — einem Augenblick, einem Geruch oder einem Geräusch, die als etwas Gefährliches wahrgenommen werden (ein wütender Blick der Mutter kann schon ausreichend sein). Die Hirnrinde interpretiert diese Wahrnehmung als bedrohlich; das retikuläre System versetzt den Körper in eine Reaktions­bereitschaft auf Gefahr und übermittelt seine Nachricht entweder via Thalamus oder unmittelbar zur Hirnrinde, wo das Rindengewebe sich mit ihr auseinandersetzt, um das Gefühl, das durch die ursprüngliche Wahrnehmung erweckt wurde, zu hemmen. In unmißverständlicher Sprache heißt der wütende Blick der Mutter: »Ich bin schlecht. Sie will sich nicht mehr um mich kümmern«; das genaue Gefühl ist abgelöst und das System, nun in Spannung, darauf ausgerichtet, daß man der Mutter gefallen will, anstatt die volle Zurückweisung zu empfinden. 

Anstatt über die Zurückweisung durch seine Mutter entsetzt zu sein, erschrickt das Kind jetzt vor der Dunkelheit oder vor Spinnen oder vor der Schule. Das abgetrennte Gefühl wird zu Symbolen verallge­meinert. Sich mit dem symbolischen Verhalten auseinanderzusetzen, indem man beispielsweise die Schulangst erörtert, wird nichts bewirken, was in die Richtung einer Auflösung der Neurose geht. Man wird sich, wenn man all die symbolischen Handlungen durchforscht, in einem Irrgarten von Symbolen verlieren, die alle lediglich Abkömmlinge dieses einen Gefühls sind. Die symbolischen Handlungen sind äußerst komplex und in ihrer Vielfalt unbegrenzt; nicht so der ihnen zu Grunde liegende Ursprung der Neurose.

Im gleichen Ausmaß wie sich das alte Gefühl auf kortikalem Weg in das gegenwärtige Leben eines Menschen ausdehnt, steigert sich das neurotische oder psychotische Verhalten des Betreffenden. Ein Mann, der darüber klagt, seine Frau versuche ihn zugrunde zu richten, kann als neurotisch angesehen und einfach entsprechend beraten werden. Weitet sich diese Vorstellung jedoch zu der Überzeugung aus, daß jedes Mädchen in seinem Bürohaus danach trachtet, ihn zu ruinieren, so wird man ihn als krank ansehen.

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Ein gewaltiger Schmerz hat bei ihm die Symbolisierung auf immer größere Bereiche seines Lebens ausgedehnt, bis schließlich die Quantität in eine neue Qualität umschlägt und die Neurose in eine Psychose übergeht. Gerade diese Eigenschaft der Ausdehnung läßt eine psychotische Wahnvorstellung meistens so bizarr erscheinen — sie ist völlig uneins mit der Realität. Jenes Hirngebiet, das mit der Generalisierung nervöser Aktivität zu tun hat, ist vergrößert. Daher ist der Psychotiker unfähig, mit der Realität umzugehen und für sich selber zu sorgen - sobald nämlich seine Hirnrinde unklar abgegrenzt ist und sich ausschließlich mit der Vergangenheit auseinandersetzt.

Psychose bedeutet also, daß die Hirnrinde sich zunehmend in die der Störung zugrunde liegenden Gefühle verwickelt. Und der Betreffende verliert sich in seinen symbolischen Darstellungen, weil sie ja seine umgewandelten Gefühle sind. Werden die Verbindungen zwischen der orbito-frontalen Hirnrinde [vom Hinterhaupt bis zur Stirn] und dem Thalamus zertrennt, dann kommt es zu einem Verhalten, das weniger generalisiert, weniger symbolisch ist. Und zwar deshalb, weil das drängende Urgefühl die Hirnrinde nicht mehr zur Tätigkeit anstößt. Wir brauchen jedoch nicht auf operative Methoden zurückzugreifen, seit wir mit Tranquillantien eine ähnliche Wirkung erzielen können.

Indem man die Verknüpfungen sorgfältig wieder herstellt, vernichtet man das symbolische Handeln und hebt die Neurose, ungeachtet ihrer Form, auf. Bis zur Wiederherstellung der Verbindung bleiben die unterbrochenen Anteile des Bewußtseins von ihrem zugehörigen Gefühlsanteil getrennt und werden zu getrennt lebensfähigen Inhalten, die für das restliche Leben des Betreffenden einen unbewußten Krieg miteinander führen. Der Grund dafür, daß so viele methodische Zugänge zur Neurose entwickelt wurden, liegt darin, daß die Therapeuten sich mit den kortikalen Vorgängen der Flucht anstatt mit der Dynamik des Spaltungsvorgangs beschäftigt haben.

 

  

9.  Über den Heilungsprozeß  

 

Mit einem neurophysiologischen Modell seelischer Störungen verbindet sich die Absicht, Grundlagen für die Umkehrung solcher Erkrankungen zu schaffen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß jede Heilung einer seelischen Störung den Zugang zu den primären Kreisprozessen einschließen muß. Wir wollen betrachten, wie dies in der Primärtherapie vor sich geht.

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Unter normalen Lebensumständen wird der Neurotiker durch irgendetwas aus der Fassung gebracht — sagen wir einmal durch den Vorwurf eines Vorgesetzten —, und sein neurotisches Verhalten wird in Gang gesetzt. Er kann den Vorgesetzten beschwichtigen, das Ereignis verleugnen und Kopfschmerzen bekommen, oder er wird wütend und verliert seine Geduld oder ist für den Rest des Tages einfach beleidigt. Er kann die Schuld auch auf irgendjemand anderen projizieren. Er ist, kurz gesagt, dabei, die Anforderung des ausgelösten primären Kreisprozesses abzuarbeiten — vielleicht etwas der Bedeutung: »Wir haben dich nicht lieb«. In der Primärtherapie lösen wir denselben Kreisprozeß durch zahlreiche Hilfsmittel aus, um ihn zu aktivieren. Wir können dies auf eine recht einfache Weise erreichen, indem wir den Patienten, wenn er die Zurechtweisung durch seinen Vorgesetzten vorträgt, dazu auffordern, über die Zurechtweisung durch seine Eltern zu sprechen.

Die Techniken, mit Hilfe derer man Schlüsselvorgänge wiederbeleben kann, sind sehr vielfältig und gehen über den Rahmen dieser Erörterung hinaus. Sobald die primären Kreisprozesse aktiviert sind, setzt die gewohnte »Masche« des Patienten ein, indem er sich automatisch auf die für ihn charakteristische Weise verteidigt. Es kann sein, daß er sich verkrampft, daß er seine Bauch­muskeln anspannt und ein Sperrfeuer verbaler Entschuldigungen eröffnet. In der Primärtherapie wird jede Zugangs­möglichkeit — sowohl physiologischer als auch psychischer Art — für die Abwehr versperrt (und das wiederum durch vielfältige und komplexe Techniken); dadurch wird das Gefühl stärker und rückt mehr in die Nähe des Bewußtseins. Wenn wir den Patienten dazu bringen, daß er seinen Körper gerade im richtigen Moment befreit und wild schüttelt, dann kann dies helfen, seinen Schutzpanzer zu durchbrechen. Zu diesem Zeitpunkt werden, unter Beachtung der Vollständigkeit jeder einzelnen Abwehr, viele andere Techniken angewandt, um den Patienten verteidigungslos — aber empfindungsvoll — zu machen.

An einem gewissen kritischen Punkt können die Urgefühle nicht mehr zurückgehalten werden, und sie überwältigen den Patienten. Er ist wirklich ohne Abwehr gegen sie, wenn sie aufsteigen und ihn in große Seelenqual und anschließend in einen Zustand der Befreiung versetzen. Die Qual rührt von dem Druck eines Gefühls her — »Sie mögen mich nicht« —, das viele Tausende von erinnerten Begebenheiten um sich geschart hat, wovon jede einzelne ihren Schmerzanteil beiträgt.

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 Man kann leicht verstehen, warum so ein blockierter Schmerz eine katastrophenähnliche Erkrankung herrufen kann und den Körper medizinisch gesehen durcheinander bringt; und auch warum so wilde, ungestüme Reaktionen auftreten, wenn diese schmerzlichen Kreisprozesse wieder dem Bewußtsein zugänglich gemacht werden. Halluzinogene Drogen geben diese Kreisprozesse in zufälliger Weise frei und können eher zu viel als zu wenig freisetzen, was dann zu stärkerem symbolischem Verhalten führt.

Es ist für uns wichtig zu verstehen, daß nicht der Schrei, das Umsichschlagen oder das Zerknüllen der Kissen das Entscheidende ist. Es ist die Verknüpfung, die den Betreffenden letztlich auf dauerhafte Weise von seiner Spannung befreit. Schreien und um sich schlagen bringt lediglich eine vorübergehende Unterbrechung.

*

Wir wollen zur Erläuterung ein Beispiel betrachten. Eines Tages machte ich in der Gruppentherapie einem Patienten (er war Psychologe) den Vorwurf, er stelle sich dumm an. Er reagierte mit einer Unmenge verbaler Verteidigungsvorgänge, gebrauchte große Worte, eine wissenschaftliche Sprache und geschickte Rationalisierungen. Ich hieß ihn schweigen und bombardierte ihn mit stichhaltiger Kritik. Bei ihm war schon eine Anzahl von Urerlebnissen vorausgegangen, und so war er ziemlich abwehrlos. Er stürzte zu Boden und sonderte vermehrt Speichel ab. Nach wenigen Minuten konnte man ein kindliches Wimmern hören, das lauter und lauter wurde und gute dreißig Minuten dauerte. 

Was war geschehen? Er hatte sehr früh in seinem Leben, seit er denken und überlegen konnte, angefangen zu »kapieren«, was er tun könne, um mit äußerst harten und zurückweisenden Eltern zusammen zu überleben. Er gebrauchte seinen »Verstand«, um sich zu verteidigen. Das setzte er während der Schulzeit fort. Er wurde Psychologe und »knobelte« weiterhin Probleme aus — oder knobelte sich aus Problemen heraus. An jenem Tag der Gruppen­therapie stoppte ich seine Verbalisierungen und sein »Denken«. Er war für Schmerz schon zugänglich, da bei ihm bereits einige Verknüpfungen wiederhergestellt waren und kürzlich eine Reihe von Schmerzen freigesetzt wurden, die ihn wiederum geöffnet hatten, so daß er mehr ertragen konnte; nun wurde er zurückgeschleudert, in eine Zeit, bevor er etwas kapieren und sich gegen die Zurückweisung verteidigen konnte — in der alles, was er tun konnte, in Wimmern bestand. Meine Zurückweisung an jenem Tag löste den alten Kreisprozeß aus.

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Wogegen sich dieser Patient an jenem Tag in der Gruppe wirklich verteidigte, das war nicht ich, sondern diese frühe, katastrophen­ähnliche Zurückweisung. Jede Konfrontation mit mir, jedes »Durcharbeiten« in der Gruppe, jedes Anschreien, das mir oder anderen Mitgliedern der Gruppe galt, würde nichts nützen. Ziel waren jene frühen Erinnerungen.

Wir unternehmen einfach alles, um die Vergangenheit eines Patienten wiederzuerwecken, und wenn wir einen lebendigen kleinen Hund mit zur Therapie bringen müssen oder unsere Patienten mit ausgestopften Teddybären und Laufställchen versorgen. Diese Gegenstände sind für verteidigte (sich unterdrückende) Menschen bedeutungslos; für diejenigen aber, die verletzbar sind, sind sie ungemein bedeutungsträchtig. Sie werden jedoch lediglich als Aktivierungsmechanismen gebraucht und nicht zum Selbstzweck.

Nach einem Urerlebnis gibt es Einsichten im Überfluß; der Betreffende, jetzt im Besitz der richtigen Verknüpfungen, wird unverzüglich von all seinen fehlgeleiteten und zurückgelenkten Anstrengungen überflutet — daß er zum Beispiel seine Frau wie seine Mutter haben will. Den Neurotiker zwingt sein fortgesetzt fehlgeleitetes Verhalten dazu, sein Leben in Bruchstücken zu leben; er erlebt jedes Ereignis als eine Sache für sich. Setzt er alles zusammen, dann bedeutet das Schmerz; daher lebt er sein Leben bruchstückhaft. Urgefühle verbinden solche Unvereinbarkeiten miteinander. Wenn ein Patient seine Hilflosigkeit empfindet, dann hilft es ihm dabei, seine Abhängigkeit von Lehrern, Kindern, Ärzten und so weiter zu verstehen. Ebenso geht es ihm mit dem Haß auf seine Mutter — wenn er ihn empfindet, so versteht er seine Beziehungen zu allen Frauen. Ohne das Grundgefühl ruft jede Berührung mit einer Frau beispielsweise Feindseligkeit hervor, sorgfältig rationalisiert und gerechtfertigt. In Kürze: ist sein Leben von seiner geschichtlichen Grundlage abgeschnitten, so muß er ohne Perspektive herumtappen.

Der Schlüssel zur Heilung besteht darin, daß die Schleuse des Hippocampus systematisch geöffnet wird. Jede Verknüpfung bedeutet für diese Struktur eine Abnahme der Belastung. Jeder empfundene Schmerz zeigt an, daß das Gewicht, welches das Tor verschlossen hält, etwas abgenommen hat, und bedeutet einen Schritt mehr auf das Ziel hin, ein umfassend fühlender Mensch zu sein.

Ein beweglicheres Schleusentor bedeutet zugleich, ein Mensch mit mehr Verknüpfungen und Verarbeitungen zu sein, dessen Gefühle nicht blockiert und in neurotische Kanäle umgeleitet werden.

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Es muß das letzte Ziel der Psychotherapie sein, die Blockierung dieser Struktur aufzuheben und ihren Speicher schmerz­beladener Erinnerungen zu entleeren. Ich habe an nahezu allen vorhandenen Therapieformen auszusetzen, daß sie diese Struktur umgehen und hauptsächlich das schon abgelenkte Gefühl auf andere, sozial akzeptablere Wege umleiten.

Es gibt viele Wege, auf denen man sich zu diesem Speicher Zutritt verschaffen kann. Massage kann dies bewirken, wenn maßgebliche Muskelsysteme benutzt werden, um Spannung zu binden. Die Hypnose kann hilfreich sein, da sie bewußte Steuerungsvorgänge vorübergehend einschläfert. Drogen, wie zum Beispiel Natriumamytal, können diesen Zutritt gewiß auch ermöglichen, weil sie den gleichen Effekt haben. Aber ich glaube, daß diese Techniken aufs Geratewohl wirken und nicht das leisten, was das Wesentliche an der Primärtherapie ist, nämlich ein systematisches, sorgfältig bemessenes Freisetzen von Schmerz.

Die »Heilung« oder endgültige Gesundheit tritt ein, wenn jedes alte schmerzvolle Gefühl mit seinem genauen Ursprung verknüpft worden ist. Der Betreffende bleibt zurück ohne generalisierte Antriebe aus der Vergangenheit, und damit auch ohne Neurose.

 

  

10. Schlußfolgerungen 

 

 

Zusammenfassend läßt sich sagen, Gefühle sind das Wesentliche der menschlichen Natur. Sie sind weder gut noch schlecht, weder konstruktiv noch destruktiv. Sie sind.

Natürlich sein ist das, was den wirklichen Wert aller Lebensformen ausmacht. Die Neurose ist das Verhalten, das auftritt, wenn wir nicht natürlich sein können. Sie ist das Ergebnis einer Störung der reibungslosen Zusammenarbeit zwischen höheren und niederen Hirnfunktionen. Die Blockierung eines natürlichen Vorgangs besteht darin, daß eine Kraft gegen Vereinheitlichung in Bewegung gebracht wird. Diese Kraft nimmt bei den Neurotikern die Form der Spannung an. Wir müssen ein einheitliches Ganzes sein. Die Neurose hält uns am Leben, indem sie uns von jenen schmerzlichen Gefühlen abgetrennt, die die Integrität unseres Organismus bedrohen. Aber zur gleichen Zeit ruft sie die dynamische Kraft zur Verarbeitung hervor.

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Unsere körperlichen Systeme sind Wahrheitsbehälter. Das Gehirn (und der Körper) bewahrt das Wirkliche, ganz gleich wie abwegig und entzweit unsere kortikalen Denkvorgänge werden. Eine Lüge des Geistes bedeutet eine Verletzung des Körpers. Umgekehrt erzeugt ein Zuviel an Verletzung geistiges Lügen. Das körperliche System bewahrt unsere Wahrheiten, weil sie uns widerfuhren. Sie sind ein Teil unserer Erfahrung, ob wir sie nun bewußt zur Kenntnis nehmen oder nicht. Letztlich brechen wir unter diesen nicht zur Kenntnis genommenen Wahrheiten zusammen. Nur der Mensch ist fähig, seine sinnlichen Empfindungen in Gefühle zu fassen; nur er kann das alles zusammenfügen, obgleich er es selten tut.

Der Neurotiker muß schließlich zusammenbrechen. Wegen der anhaltenden Aktivierung seines Organismus wird der schwächste und empfindlichste Teil seines Körpers zuerst angegriffen. Eine Praedisposition zu Allergien wird letztlich in einer voll aufgeblühten Allergie der einen oder anderen Art enden. Eine symptomatische Entlastung ist immer möglich, aber solange die Aktivierung der niederen Hirnzentren nicht gelöst ist, werden immer mehr Symptome erscheinen. Krankheit verlangt ihre Symptome.

Sobald die Körperfunktionen einmal durcheinander gebracht worden sind, müssen wir darauf achten, daß wir sie nicht abseits vom Gesamtsystem untersuchen; dieser Irrtum kann uns nur zu Teilwahrheiten führen - zu der Art von Teilwahrheiten, die sich in ahistorischen psychologischen Theorien finden, die vorzugsweise Symptome und nicht die wirkenden Ursachen abhandeln. Es gibt beispielsweise Belege für einen fehlerhaften Kaliumstorfwechsel bei einigen Schizophrenen; wenn man von dieser Funktions­störung ausgehend schlußfolgert, ein fehlerhafter Stoffwechsel sei eine Ursache für Schizophrenie, dann wäre dies ungerechtfertigt. Viel mehr spricht dafür, daß die meisten von uns ziemlich gesund auf die Welt kommen und durch Urstreß gestört und krank werden. Das wird an postprimären Patienten deutlich, die zu guter Gesundheit zurückkehren, sobald die im Inneren befindlichen Stressoren beseitigt sind. Die Tatsache, daß wir bei diesen Menschen oft ein zartes Bindegewebs­wachstum bemerken, muß mit einer Rückkehr zu richtiger Hormonfunktion in Beziehung gesetzt werden. Leider bestehen bei einigen Patienten die körperlichen Funktionsstörungen schon seit so vielen Jahren, daß ein nicht behebbarer Schaden auftritt und nichts diesen Zustand mehr ändern kann.

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Es ist klar, daß die Unterdrückung des Selbst nicht nur eine Sache psychischer Vorgänge ist. Bei dieser Unterdrückung werden Aspekte des gesamten biologischen Systems eines Menschen betroffen — des biologischen Systems, das unsere Gefühle vermittelt. Ich glaube, daß viele Neurotiker wegen dieser Unterdrückung nicht zu ihrer vollen, genetisch festgelegten Möglichkeit herangereift sind.45

Was ich betonen möchte, ist, daß alle Erkrankungen in Beziehung zu Gefühlen gesehen werden müssen, da die Gefühle bei menschlichen Funktionen vorherrschend sind und sie miteinander verknüpfen. Nicht fühlen stört menschliches Funktionieren. Gefühle müssen empfunden werden öder der Mensch ist nicht menschlich. »Immer dominieren sie [die Gefühle] sogar von Hause aus. Noch die entlegensten, die am meisten ausgegliederten Teile einer Erlebniskonstellation bleiben jederzeit (mindestens) in das gleichzeitige Gefühl eingewoben, hineingeschmolzen und ganzheitlich davon umfangen. Hiernach richtet sich noch das zerstückeltste innere Geschehen, in seinen Qualitäten sowie in seiner Ablaufweise. Das Gefühl drängt übermächtig immer dahin, alles übrige, das sich in uns regen mag, mit seiner Farbe zu durchdringen. Widerstrebendes abzublenden oder >umzuschmelzen<, übergreifend seinen eigenen (Gesamt-) >Rhythmus< durchzusetzen. Tatsächlich füllt es jederzeit das Bewußtsein ganz aus; nur daß es rasch und stetig — in andere Gefühle übergeht. Allem psychischen Geschehen gibt das emotionale seine Hauptrichtungen.«46 Dies wurde 1928 geschrieben.

Nicht allein ist die Hirnrinde machtlos, die Aktivierung der niederen Gehirnzentren zu stoppen, die Tatsache einer kortikalen Isolierung von den Zentren der Gefühle bedeutet darüber hinaus auch, daß Neurotiker gezwungen sind, impulsiv und irrational in Abhängigkeit vom Druck dieser Aktivierung zu reagieren. Das heißt, daß der Neurotiker sich selber nicht helfen kann (zum Beispiel bei Drogenabhängigkeit) und, was noch wichtiger ist, sich nicht in tiefgehender Weise verändern kann. Er kann seine Symptome lediglich für einen bestimmten Zeitraum aufgeben.

 

45  Siehe Hans Selye, »Stress and Disease«, in C. B. Reed, I.E. Alexander und S. Tomkins Psychopathology, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1963 (und im Deutschen eine andere Veröffentlichung von Selye, Streß beherrscht unser Leben, Düsseldorf, Econ, 1957, (Anm. d. Übers.)].
46  Felix Krüger, Ober das Gefühl. Zwei Aufsätze. Die Tiefendimension und die Gegensätzlichkeit des Gefühlslebens. Das Wesen der Gefühle. Entwurf einer systematischen Theorie (dort S. 55/56). Neuausgabe der 5. Aufl. 1937, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1967.

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Der primäre Druck bringt daher nicht nur das körperliche System eines Menschen durcheinander, sondern veranlaßt den Neurotiker auch, sich gegen seinen eigenen Willen zu verhalten - dafür ist das Rauchen ein gutes Beispiel. Irgendwie muß er diesen Druck ablassen. Weil er nicht selber fähig ist, die Verknüpfung herzustellen, unternimmt er das Nächstbeste. Er muß das tun, was auch die Ärzte tun — sich selbst symptomatisch behandeln. Das Rauchen ist die »Pille«, die er gegen seine Spannung einnimmt.

Je größer der Schmerz ist, desto stärker ist seine Bereitschaft zum Ausagieren. Wenn seine häusliche Umgebung ihn gleichsam wie eine Zwangsjacke am Ausagieren hinderte, dann wird das volle Gewicht dieses Druckes bewirken, daß die inneren Organe diesem Druck umso schneller einen Ausweg verschaffen — mit Herzanfällen, Magen- Darmgeschwüren, Zuckerkrankheit und so weiter.

Im Bereich des Geistigen erzeugt der Druck die gleiche Fluchtreaktion, nur sprechen wir dann von einer manischen Ideenflucht. Der Geist des betreffenden Menschen wird zu einem Sammelpunkt der Zerstreutheit; er kann sich nicht konzentrieren oder zuhören, weil der Druck ihn vorantreibt. Die Verknüpfung beendet den ganzen Druck, körperlich und geistig.

Was ist das Unbewußte? Es ist im wesentlichen gehemmtes Bewußtsein, jene begrabenen Bedürfnisse und Gefühle, die den Neurotiker antreiben und sein Erleben zu jeder Minute seines Lebens gestalten. Primärereignisse im Gehirn sind wie eine Reihe von Autobahnen, kreisend und wendend, aber nirgendwohinführend, weil jene Hirngebiete, die sie interpretieren könnten, darin verwickelt sind, ihre Bedeutung abzuwenden und sie falsch zu interpretieren. Das Gehirn ist, kurz gesagt, damit befaßt, den Betreffenden vor großem Schmerz zu bewahren — genau das, was die Verknüpfung mit der richtigen Bedeutung hervorruft. Darauf weist Penfield am Rande hin, wenn er sagt: »Diese funktionelle Einheit [der interpretierende Kortex] ist zum Teil von der Gesamtaktivität des Gehirns abgetrennt.«47

Was ich hier ausgeführt habe, ist notwendigerweise übermäßig vereinfacht. Die Forschung darüber, wie das Gedächtnis festgelegt wird, füllt mittlerweile Bände. Bei der Verarbeitung von Schmerz sind mehr Strukturen beteiligt, als ich genannt habe.48 Nehmen wir beispielsweise unsere körperliche Reaktion auf Schmerz. Er zeigt sich in unseren Gesichtern, unserer Haltung und unseren Armbewegungen.

 

47  Penfield und Perot, op. cit., S. 692.
48  R. Melzack und P. D. Wall, »Sensory Processes and Perception«, in Brain and Behavior, hrsg. von K. Pribram, Bd. 2, Baltimore, Penguin, 1969, S. 145-157.

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 Die Hirnstruktur, die sich mit der Verfeinerung dieser Bewegungen befaßt, ist das Kleinhirn. Zwei Forscher haben herausgefunden, daß, falls diese Struktur zerstört, das Schmerzerlebnis deutlich herabgesetzt ist. Dementsprechend bildet die Reaktion selber einen Teil der gesamten Schmerzerfahrung. Man muß sich fragen, ob nicht allein die Tatsache, daß es vielen Kindern bereits verboten wird, auf ihre Verletzungen zu reagieren, sie gegen Gefühle unempfindlich macht. Wenn man nichts gegen den Schmerz unternehmen kann, bleibt einem gar nichts anderes übrig, als ihn zu verdrängen.49

Was inzwischen klar sein sollte, ist, daß man Geist und Körper nicht getrennt heilen kann. Es gibt keine befreienden intellektuellen Erfahrungen oder irgendwelche Übungen oder Botschaften, die den Körper frei machen können. Die Massage bestimmter Muskelgruppen ist so ziellos wie die freie Assoziation; keines von beiden steht zu den spezifischen Ursachen der Spannung im Gehirn in Beziehung, weshalb auch keines von beiden irgendeine beständige Wirkung hat. Den Geist chaotisch laufen zu lassen ist nicht gleich Freiheit. Den Verstand durch Drogen »ausblasen« ist nicht gleich Freiheit. Man kann Neurotikern nur dadurch Freiheit bringen, wenn man die Verbindung zu dem, was sie einengt, herstellt, eben zu jenen Erinnerungen, die Spannung aufbauen. Sobald die Verknüpfung hergestellt ist, kann der Geist wirklich frei sein, etwas anderes zu tun, als neben dem Schmerz herzulaufen — und die Muskeln werden diese Tätigkeit ebenfalls aufgeben können.

Der Standpunkt der Primärtheorie ist im wesentlichen ein Darwinscher: die Entwicklung der höheren Hirnteile des Menschen ist zum Teil das Ergebnis seiner Notwendigkeit, mit der Gefahr fertig zu werden. Eine der zentralen Gefahren seiner Entwicklung war die Organisation der Gesellschaft selbst. Die Hirnrinde des Menschen mochte ausreifen, gerade weil er in einer organisierten Gemeinschaft seine Gefühle nicht mehr so, wie er es wollte, in Handlungen umsetzen konnte. Er mußte sich selber hemmen und wurde den Forderungen der sozialen Struktur unterworfen. Aber gerade für diesen Hemmungsvorgang war mehr Hirnrinde nötig. Die Hirnrinde war es, welche die Gefühle zu etwas Schmählichem gemacht hat. Sie hat Gefühle umgekehrt und blockiert, wenn sie sich für die sozialen Bedürfnisse nachteilig auswirkten.

 

49  Siehe auch Magda Arnold, Nature of Emotions, Baltimore, Penguin, 1968, S. 321 zur Erörterung der Kleinhirnzerstörung und ihrer Wirkungen. Die hier zitierten Experimente am Kleinhirn wurden von Sprague und Chambers durchgeführt.

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Die Gefühle wurden gut oder schlecht in Beziehung dazu, wie sie zu den Erfordernissen der Gesellschaft paßten. Gefühle wurden gefährlich. Als die Gesellschaft wuchs, wurden sie unter Begriffen wie »Respekt«, »Hochachtung«, »Loyalität« und »Gehorsam« niedergetreten. Damit war die Saat der Neurose ausgesät. Die kortikalen Begriffe und nicht die sogenannten animalischen Instinkte hetzten den Menschen auf seinen Mitmenschen. Und das trat ein, als der Mensch, wenn er nicht loyal oder ehrerbietig sein wollte, bestraft wurde. Was schön ist, ist natürlich, und häßlich ist verunstaltete Natur. Die Deformierung des natürlichen Menschen ist zugleich der Beginn menschlicher Destruktion.

Sich gegen Schmerz abzuschließen, ist eine Gegebenheit nahezu allen organischen Lebens. Die Fähigkeit zur Abschirmung des Bewußtseins besteht lediglich in der Erweiterung eines Rückzugsvorgangs, den wir schon bei der einzelligen Amöbe finden, wenn sie sich bei einer Reizung zurückzieht. Bewußtsein ist nichts anderes als eine Ansammlung von Zellen, die in einer komplexen Weise funktionieren. Es ist lediglich eine andere Funktion organischen Gewebes, ein Teil des Kontraktionsvorgangs, der von der Engerstellung der Blutgefäße bei Schmerz bis zum Zusammenziehen der Pupillen reicht, wenn die Reizzufuhr sowohl physikalisch (Sonnenlicht) wie auch psychisch zu heftig wird. Daher ist die Neurose eine normale physiologische Reaktion auf Schmerz. Ihre Vorgänge können auf dieselbe Weise wie andere Kontraktions­vorgänge verstanden werden — als Antworten auf Schmerz und Bedrohung. Wenn man versteht, was die Neurose antreibt, dann legt man damit auch die grundlegende Struktur der Neurose frei.

Neurotisches Verhalten tritt auf, weil Erfahrungen, die an und für sich nicht notwendigerweise katastrophenartig sind, sich an einem gewissen Punkt früh im Leben eines Kindes summieren und zum adäquaten Reiz für eine Einschränkung des Bewußtseins werden. Den Summierungspunkt nenne ich die große Primärszene. Sie ist traumatisch, weil sie summativ, weil sie die Verfestigung einer großen Anzahl vorausgegangener kleinerer Verletzungen ist.

Wenn wir mit fortschreitender Entwicklung mehr über die Erinnerungsspeicherung, insbesondere die Speicherung schmerzvoller Erinnerungen, erfahren werden, dann erscheint es nicht so unwahrscheinlich, daß man die Neurose vielleicht durch elektrische Sonden, die Schmerzen in einer angegebenen Reihenfolge ausschalten, verändern können wird.

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Jedenfalls ist dies genau das, was die Urerlebnisse bewirken. Psychologisch hervorgerufene Urerlebnisse werden letztlich zu elektrisch hervorgerufenen Geschehnissen im nervösen System. Vielleicht wird sich eines Tages ein Weg finden, mit dem man den psychologischen Reiz umgehen und unmittelbar zu den Hirngebieten vordringen kann, die eine Auslösung erfordern. Heute gibt es Drogen wie das LSD, die eine Flut alter Gefühle und Erinnerungen freisetzen; sie werden in willkürlicher Weise freigesetzt, aber wer weiß, ob es nicht eines Tages Drogen gibt, die viel spezifischer wirken.

In letzter Zusammenfassung sei gesagt: schmerzliche und unannehmbare Botschaften werden unterhalb der Ebene bewußten Erkennens organisiert; der Körper reagiert auf Schmerz, dessen er nicht gewahr ist, und dieser Schmerz setzt auf Lebenszeit Verhaltensweisen in Gang, die einen sowohl körperlichen wie auch geistigen Fluchtvorgang einschließen. Es gibt nur einen Weg, auf dem die Neurose ungeschehen gemacht werden kann — er besteht im Wiedererleben und in der Auflösung dieser frühen, unbewußten Urschmerzen. Die Tatsache, daß die Primärtheorie mit der Neurophysiologie verknüpft werden kann, ist der wesentliche Grund für ihre Qualität in bezug auf Voraussagemöglichkeit und Therapie.

 

  

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Anhang 

(Die Zeichnungen wurden von Dr. med. Lee Woldenberg entworfen und von Jill Penkhus ausgeführt.)

 

Die folgenden Diagramme zeigen, wie ein Gefühl blockiert und dann umgelenkt wird, sowohl abwärts zum Körper wie auch aufwärts zu jenen Hirnrindenfeldern, die symbolische Vorstellungen erzeugen. Schlüssel­system für die Absperrung ist das Limbische System, das in einer harmonischen Verknüpfung von Hirnstrukturen besteht, die mit der Speicherung, Einstellung und Lenkung von Gefühlen zu tun haben. Blockierte Empfindungen schwingen innerhalb des Limbischen Systems als »gefangene« Erinnerungskreise hin und her.

 

  Bild 1

Dieser Medianschnitt zeigt den Hirnstamm und das Großhirn. Das retikuläre System zieht sich durch den Hirnstamm. Zu sehen sind Hypothalamus, Thalamus und der Hippocampus des Limbischen Systems. Der Hippocampus liegt unter der limbischen Hirnrinde des Frontallappens.

 

  Bild 2

Sensorischer Reizzuwachs (input) von allen Sinnesorganen erregt das retikuläre Aktivierungssystem der Formatio reticularis, das die frontale Hirnrinde alarmiert (»Weckfunktion« der Formatio reticularis). Diese Aktivierung ist unspezifisch.

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Bild 3

Entsprechend Bild 2 wird das Schläfenhirn von dem retikulären Aktivierungssystem angeregt. Das ganze Gehirn ist zur Informationsaufnahme bereitgestellt.

 

  Bild 4

Der Reiz, zum Beispiel eine Zurechtweisung durch die Eltern, besteht in Wirklichkeit aus einer Kombination verschiedener Reize (Sehen, Hören, Berührung, Geruch). Sie werden alle vom Thalamus auf die zugehörigen Empfangsareale der Hirnrinde übertragen. Nehmen wir als Beispiel den Gehörsreiz der Zurechtweisung, einen Klang des Verärgertseins: er verläuft vom Empfangsfeld für Gehörsempfindungen zu einem Gebiet, wo der Klang die Verknüpfung mit den gebrauchten Worten gewinnt. Wenn der Impuls das Rindengewebe durchquert, wird die Bedeutung hinzugefügt. Die letzteren Gebiete werden Assoziations­felder genannt.

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Bild 5

Auf dem Weg von den jeweiligen Empfangsgebieten zu den spezifischen Assoziationsfeldern wird den Erregungen die Bedeutung des gerade vorgefallenen Ereignisses hinzugefügt. Wenn irgendwelche Teile des Reizes früheren (schmerz­vollen) Szenen ähnlich sind, dann erscheint diese Information dergestalt, daß sie irgendwo mit der Schläfen­region des limbischen Hirnlappens verbunden ist. Die Situation wird nicht mehr als »gegenwärtig« erfahren. Frühere Schmerzen, die sich mit der jetzigen Situation vereinigt haben, sind aktiviert worden. Sie werden dann zusammen an die frontale Hirnrinde weitergeleitet; dort werden sie ausgewertet.

 

   Bild 6 

In dieser vereinfachten Zeichnung wird dargestellt, wie der zusammengesetzte Reiz von Bild 5 auf die folgende Weise zu bewußter Gegenwärtigkeit gelangt: er gelangt von der limbischen Hirnrinde des Schläfenlappens in den Hippocampus und durch eine andere limbische Struktur, die als Fornix bezeichnet wird, zum hinteren Feil des Hypothalamus. Schließlich wird er noch zum Thalamus weitergeleitet und von dort auf den Gyrus cinguli umgeschaltet (Hirnrindengewebe, das unter der frontalen Hirnrinde liegt). Die bewußte Kenntnis des Reizes und seiner vollen Bedeutung (»ich werde nicht geliebt«) wird empfunden.

 

  Bild 7 

Die schmerzvolle Bedeutung der Zurechtweisung zwingt die Stirnhirnrinde dazu, den Hippocampus zur Hemmung anzuregen. Die Blockierung ist das Ergebnis des Signals aus dem Frontallappen. Obgleich die Umschaltung zu bewußter Kenntnisnahme abgestoppt ist, haben die erweckten Gefühle Zugang zu niedriger gelegenen Hirnzentren, die den gesamten Körper mit nervösen Impulsen versorgen. Der Körper reagiert auf die Bedeutung des Reizes, auch wenn er nicht zu bewußter Wahrnehmung gelangt (mit einem Anstieg des Blutdrucks, Muskelkontraktionen, Schweißabsonderung und so weiter). 

So reagiert der Organismus auf seine ungelöste Vorgeschichte. Wegen der Blockade im Hippocampus wird das schmerzvolle Erleben, ungeliebt zu sein, zu anderen Hirnzentren umgeleitet, die Rationalisierungen, Projektionen und andere Arten der Fehlinterpretation des Gefühls ausführen. Diese umgeleiteten Impulse stellen die fehlgerichteten, neurotischen Verknüpfungen dar, die zustande kommen, weil die direkte Verbindung infolge der schmerzvollen Wucht des Reizes und der dazugehörigen Entwicklung blockiert wurde.

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