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Teil 2  

Schlaf, Träume und psychische Störungen

 

 

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Wir wollen nun die Beziehung zwischen Träumen und psychischer Störung erörtern oder, da symbolische Träume psychische Störungen sind, werde ich ausführen, warum dies so ist und werde die anerkannte Traum- und Schlafforschung untersuchen, wo immer dies angebracht ist. Zentrale Bezugsquelle wird Ernest Hart­manns <The Biology of Dreaming>1) sein, ein Kompendium, das viele Hunderte wissenschaftliche Einzel­studien umfaßt und, wie ich meine, das umfassendste und neueste Werk über diesen Gegenstand darstellt. 

Hartmanns Werk enthält mehrere Zitate, unter anderem das des hervorragenden Neurophysiologen Hughlings Jackson: »Untersucht man Träume, so wird man gleichzeitig etwas über Wahnsinn erfahren« — eine höchst prophetische Feststellung, die C.G. Jung dahingehend variierte, daß ein Träumer, der wie ein Wacher agiert, das genaue klinische Bild von Dementia praecox biete. Ein großer Teil der Forschungen bestätigt die Wahrheit dieser Behauptungen, die vor Jahr­zehnten niedergeschrieben worden sind.

Ich habe bereits die Rückkoppelungsschleifen erörtert, die als Gedächtniseinheiten im Gehirn lokalisiert sind und die nervale und andere organsystemische Wirkungen hervorrufen. Dabei handelt es sich um permanente Innervationen, die lebenslang vorhanden sind — Tag und Nacht, im Wachen wie im Schlaf. Die Energie des Gedächtniskreises ist ständig mit symbolbildenden und assoziativen Hirnbereichen rückverbunden, ohne einen direkten Zugang zum Schmerzzentrum zu finden. Jene rückverbundenen Impulse werden zu Halluzinationen, bizarren Ideen oder Träumen und Alpträumen. Anders gesagt, Träume sind das symbolische Derivat des primären Gedächtniskreises. Aber dieses Phänomen unterscheidet sich nicht von der wachen Vorstellungs­bildung; beide stehen symbolisch für Gefühle.

1)  Ernest Hartmann, The Biology of Dreaming, Springfield, M., Charles Thomas, 1967.

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Wenn sich die Gefühle verbinden, ist die Vorstellungsbildung direkt und unmittelbar; und wir erwarten gemeinhin, daß sich dies tagsüber in klaren Vorstellungen und während der Nacht in nicht-symbolischen geistigen Prozessen zeigt.

Geist und Körper verfügen über jeweils eigene Wege, die Krankheit oder Störung zu zeigen. Wahnvor­stellungen — »Hinter meinem Rücken lachen sie ständig« — sind der geistige Ausdruck eines Organschadens. Bizarre Träume sind geistige Abwege in unserem Schlaf. Blutende Magengeschwüre sind die »Verrücktheit« unseres Körpers. Die mißgeleiteten nervalen Impulse üben Druck auf Geist und Körper aus. Wir haben tagsüber keine klaren Vorstellungen und werden nachts, während des Schlafens, krank. Wir können unsere Wahnvorstellungen nur tagsüber besser verbergen, sie für uns behalten und uns »behaupten«; im Schlaf hingegen, bei herabgemindertem Bewußtsein, wird die wahre Krankheit oder Störung offenkundig. Daher stellt das Verständnis symbolischer Träume einen so genauen Index psychischer Störungen dar.

Gehirnstrukturen und Gehirnwege ändern sich nicht, nur weil wir nicht wach sind. Eingefahrene Fehl­leitungen, die jahrzehntelang im Gehirn vorhanden sind, bleiben stabil und lenken die Formen der Träume. Die Tatsache, daß sowohl Körper als auch Geist primären Druck absorbieren und freisetzen, bedeutet, daß man beide zur Spannungsabfuhr benutzen kann. Auf diese Weise kann man bis zur Erschöpfung arbeiten, die ganze Nacht hindurch tanzen oder sich intensivem Sex hingeben und genug Spannung ablassen, um für einen ruhigen Schlaf zu sorgen. In der nächsten Nacht, ohne die körperliche Erleichterung, kehrt die Spannung wieder und kann Schlaflosigkeit oder Alpträume hervorrufen. Die Person mag aus einem Alptraum erwachen und sich außerordentlich angespannt fühlen; doch nicht der Alptraum rief die Spannung hervor, sondern die Spannung den Alptraum.

So muß also über symbolische Träume zunächst festgehalten werden, daß sie keine getrennten, vom Wach­verhalten isolierten Ereignisse darstellen. Sie sind unterschiedliche Aspekte eines identischen neurologischen Prozesses. Abwehrhaltungen sind automatisch und unbewußt, was durch die Tatsache bewiesen wird, daß wir uns während unseres Schlafes abwehrend und symbolisch verhalten.

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Wenn jemand aus einem Alptraum erwacht, läßt uns das erkennen, wie automatisch unsere Abwehrhalt­ungen sind — wir werden bewußt, um uns von der Bewußtheit unserer Gefühle abzuhalten. Wir benutzen Bewußtsein, um über unseren Schmerz im Unbewußten zu bleiben. Wenn uns etwas zu unangenehm wird, wenn unsere Kinder zum Beispiel offenkundige Fehler haben, wagen wir nicht, es anzuerkennen, wir verdrängen diese Tatsache. Wenn ein Freund plötzlich zum Feind wird, können wir unser Bewußtsein daran hindern, diese Tatsache wahrzunehmen.

In unserem Schlaf können wir sowohl neurotisch als auch psychotisch sein. Statt die Verrücktheit auszuagieren, tun dies unsere Traumcharaktere für uns. Wie bizarr diese Träume sind, hängt vom Betrag des zugrundeliegenden Schmerzes ab, der den Verstand zunehmend vom Gefühl abdrängt. Träume werden dann zum natürlichen Index für den Grad der seelischen Störung. Je komplexer und bizarrer diese sind. um so schwerer die Krankheit. Sie sind verläßliche Indikatoren, weil sie nicht simuliert werden können, aber auch nicht, wie wir es im Wachverhalten versuchen mögen, durch einen Willensakt geändert werden können.

Träume und Alpträume sind keine ständigen Ereignisse. Sie ebben und fluten; sie sind rhythmisch. Wir sind zyklisch seelisch gestört. Oder besser, wir zeigen unsere Krankheit in Zyklen.

Der Zyklus, in dem sich die psychische Störung in Träumen oder Halluzinationen zeigt, ist wie der Zyklus der Körpertemperatur vorhersagbar. Die Verdrängung zugrundeliegender Schmerzzyklen verläuft nicht statisch; Verdrängungen ebben und fluten. Verdrängungen ändern sich aus zwei Gründen. Erstens können gravierende Ereignisse von außen den zugrundeliegenden Kreis (Zyklus) stärker aktivieren. Zweitens verringert alles, was eine, Schwächung unserer Abwehrhaltungen verursacht, wie etwa Schlaf, die durch die Hirnrinde gesteuerten Abwehrvorgänge und ermöglicht so das Aufsteigen von Gefühlen und die Notwendigkeit zu symbolisieren. Gewöhnlich verlaufen Verdrängungen automatisch (wie im Abschnitt über Neurophysiologie ausgeführt, werden die Kreisprozesse durch einen komplizierten neurochemischen Vorgang blockiert und umgeleitet), so daß man sich nicht angespannt oder ängstlich fühlt, und je nach Wirksamkeit dea- Verdrängung ruhen die primären Kreisbewegungen.

Das menschliche Leben erscheint als eine Serie fortdauernder Kreisprozesse, die vom Wechsel der Arbeitsschicht bis zu den täglichen Temperaturänderungen und der monatlichen Menstruation reichen. Die Entwicklung des Menschen war unausweichlich an zyklische Veränderungen seiner Umgebung gebunden und seine innere Umgebung wurde zum Feld zyklischer Abläufe.

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Die Traumforschung zeigt, daß wir Spannung in meßbaren Zyklen freisetzen. Wenn der neurotische Mensch von Schmerz und Spannung überflutet wird, scheint folgendes abzulaufen: er muß beginnen, in einem Ablösungsprozeß seine Spannung bei Tag und bei Nacht loszuwerden. Dieser Ablösungszyklus ist neurotisches Verhalten. Nachts kann dies die Form symbolischer Träume annehmen — Gefühle, die beginnen, ins Bewußtsein aufzusteigen, aktivieren die Hirnrinde und produzieren eine Geschichte, um diese Aktivierung zu erklären. Diese Geschichte ist unterbewußt, sie ist ein Traum. Die Geschichte, die wir tagsüber gegen eben diese Aktivierung erfinden, kann man als irrationalen Gedanken bezeichnen. Sie braucht nicht rationaler als ein Traum zu sein.

Sowohl symbolische Träume als auch irrationale Gedanken sind spannungserleichternde Mechanismen. Sie sind Abflußkanäle des zyklischen Ablösungsprozesses. Diese Manifestationen zu blockieren bedeutet entweder, Urschmerz oder, was wahrscheinlicher ist, schwerere seelische Störungen hervorzurufen. Aus diesem Grund kann man kaum von einer Halluzination (oder Theorie) abgebracht werden, ebensowenig, wie man von seinen Träumen abgebracht werden kann. Wenn Halluzinationen etwa durch Drogen blockiert sind, sind heftigere Alpträume oder Schlafpsychosen das wahrscheinliche Ergebnis. Wenn man alle neurotischen Erleichterungen (wie Rauchen, Trinken oder Sex etc.) unterbinden würde, so würde sich vielleicht wieder ein aufwühlenderes Traumleben in Form psychotischer Träume einstellen. Dabei würde es sich um keine andere Krankheit handeln. Es wäre lediglich ein anderer Aspekt derselben Krankheit - des Aufbaus von Schmerz.

Wie wir sofort sehen werden, wird der Ablösungs- oder Erleichterungszyklus durch Serotonin, einen chemischen Wirkstoff, übertragen. Ehe wir den direkten Beweis untersuchen, könnte es sinnvoll sein, einen kurzen Blick auf die Geschichte des menschlichen Schlafes zu werfen. Durchschnittlich brauchen die meisten Menschen etwa acht Stunden Schlaf. Die Fähigkeit, friedlich zu schlafen, ist für die Energiespeicherung notwendig. Während des Schlafes sinkt die Menge der verbrannten Energie. In dieser Hinsicht ist Schlaf, besonders ruhiger Schlaf, ein wichtiges Mittel, unser Leben zu verlängern.

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Obwohl Schlaf für das Überleben notwendig ist, gab es in der frühen Geschichte des Menschen eine Zeit, da es für ihn äußerst gefährlich war, für eine zu lange Zeit ohne Bewußtsein zu sein. In einer Art von evolutionärem Kompromiß schlief der primitive Mensch in Zyklen, indem er nach Möglichkeit etwa alle anderthalb Stunden zum Bewußtsein zurückkehrte — um seine Umgebung zu kontrollieren — und dann wieder in den Schlaf zurückfiel.

Im gleichen Maße, wie die Menschheit sich entwickelte und äußere Gefahren abnahmen, war es für das Überleben nicht mehr erforderlich, periodisch aufzuwachen und die Umgebung zu überprüfen; bald erreichten wir jenen Zustand, in welchem wir etwa genauso oft in einen nur bewußtseinsähnlichen Zustand gerieten. Dieser bewußtseinsnahe Zustand ist ein entwicklungsgeschichtliches Erbe der Verteidigung. Dieser etwa 90minütige bewußtseinsnahe Zustand ist unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt — als »Traum-Zustand«, als »paradoxer Schlaf« (weil er dem Wachen gleicht), als REM*-Schlaf, und wie Hartmann ihn nennt, als »D-Zustand«. Er nennt ihn »D-Zustand«, weil er glaubt, daß er andere Eigenschaften hat als nur das Träumen.

Während eines achtstündigen Schlafzyklus stellt sich der D-Zustand alle 90 Minuten ein und dauert 20 Minuten. Diese Zustände treten kurz nach unserem tiefsten Schlafstadium ein; das ist evolutionär durchaus sinnvoll, insofern, als daß sie uns zu einer integrierten Abwehr gegen Gefahren befähigen, nachdem wir völlig und zutiefst unbewußt gewesen sind. Für den modernen Menschen kommt die Gefahr nicht von Raubtieren, sondern von seinen Urgefühlen.

Der D-Zustand ist durch eine erhöhte Gehirntemperatur gekennzeichnet, die zunehmende Hirntätigkeit anzeigt. Damit ist auch erhöhter Blutdruck, schnellerer Puls, häufigeres Atmen, Veränderungen in der Pupillengröße und Muskelbewegung sowie eine leicht erhöhte Körpertemperatur verbunden. All dies trifft mit einer stärkeren Erschlaffung oder Entspannung der Muskulatur zusammen. Es ist die Zeit, in der das Gehirn in erhöhter Bereitschaft steht, um den Körper zu verteidigen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß primärer Druck sowohl geistig wie körperlich über eine angespannte und verkrampfte Muskulatur unterdrückt wird, ist der Geist genau dann gezwungen, größere Abwehr auszuüben, wenn die Muskulatur sich entspannt. Oder wie die Neurologie es ausdrückt: das Vorderhirn wird zu einer Zeit tonisch aktiver, wenn das körperliche System verhältnismäßig schutzlos ist. In dieser Zeit treten Träume auf.

 

*  Rapid Eye Movements (rasche Augenmuskelbewegungen).

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Der Geist — die denkenden Gehirnzellen, die Vorstellungen produzieren — ist nicht in einer ständigen fortwährenden Tätigkeit engagiert. Er muß ebenso ruhen wie der Körper. Vielleicht ist die Benennung zyklischer »Traum-Zustand« falsch, denn es gibt genausogut den Beweis für einen 90-Minuten-Zyklus während des Wachens. Hartmann erörtert eine Untersuchung über eine Person, die 200 Stunden ohne Schlaf blieb: »Nahezu alle 90 Minuten erlebte er Episoden mit Halluzinationen und unkontrolliertem Verhalten, vielleicht zu den Zeiten, in denen er geträumt haben würde, wenn es ihm erlaubt gewesen wäre zu schlafen« (1962). Vielleicht tritt der Wachzyklus schwächer auf und erschwert damit seine Erforschung, oder vielleicht sind wir tagsüber mit so vielen Dingen beschäftigt, daß dieser Zyklus maskiert wird und unerkannt bleibt.

Wir sehen einen Beweis für den 90-Minuten-Zyklus im wachen Zustand in solchen Phänomenen wie Entzugserscheinungen bei Alkoholikern. Es gibt den von Greenberg (1966) und den von Gross und anderen (1965) aufgestellten Beweis, daß ein Delirium tremens alle 90 Minuten auftritt und einen »Durchbruch« des D-Mechanismus ins bewußte Leben darstellt — in den Wachtraum. Untersuchungen im New Yorker Montefiore Hospital ergaben, daß Migränekopfschmerzen, die nachts auftreten, während eines D-Zustands beginnen; man bemerkte, daß tagsüber einsetzende Attacken auf eine dem Traumzustand ähnliche Verfassung zurückzuführen sein könnten.

Sexuelle Perversionen können als ein anderer Aspekt des Wachträumens gesehen werden. Ein aufsteigendes Urgefühl der Art »Mammi, ich fühle mich wie ein Mädchen« mag einen Mann dazu zwingen, herauszurennen und sich zu exhibieren, um dieses Gefühl in der gleichen Weise auszulöschen, wie man ein Traumritual erfindet, um es zu maskieren. (Wir müßten diese Impulse messen, um herauszufinden, ob sie periodisch verlaufen). Das pervertierte Ritual erleichtert die Spannung auf die gleiche Weise wie ein Traum; der Perverse kann sein Ausagieren einstellen, wenn der Traum nicht mehr nötig ist; das heißt, wenn das Übermaß an Spannung abgebaut ist. Ausagieren ist für den Perversen für die Aufrechterhaltung psychischer Energie ebenso wichtig wie symbolische Träume es sind. Wir sperren jene ins Gefängnis, die nicht in der Lage sind, das Ritual innerhalb des Schlafzyklus zu begrenzen.

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Aus all dem folgt, daß es in uns einen ständigen Erregungs-Beruhigungs-Zyklus gibt. Es wird allgemein anerkannt, daß die 90-minütigen Entlastungsperioden für unser richtiges Funktionieren wesentlich sind. Würden wir dieser Periode beraubt, so entstünde, was ich einen »primären Rückschlag« nenne. Dieser entsteht aus einem Anwachsen der Spannung, wenn neurotische Ventile blockiert sind. Beruhigungspillen können Urschmerz verschleiern und verhindern, so daß der Ablösungsprozeß auftritt; der angestaute Druck wird sich gegen das geistig-körperliche System richten und entweder bizarre Träume oder, als deren Folge, Herzanfälle hervorrufen (es gibt Beweise, daß Angina-Pectoris-Anfälle häufiger in Traum-Zuständen auftreten).

Gewöhnlich unterdrücken Drogen die Schmerzen für zehn bis zwanzig Stunden, aber wenn sie plötzlich reduziert werden, steigt der Schmerz mit verdoppelter Gewalt auf und zwingt den Betreffenden, mehr Tranquillantien oder Schlaftabletten zu nehmen. Gestauter Schmerz erfordert sogar mehr Unterdrückung; daher das Bedürfnis nach und die Toleranz gegenüber höheren Dosen. Es ist leicht zu verstehen, wie es dazu kommt, daß jemand von Beruhigungsmitteln und Schlaftabletten abhängig wird: sie sind Tag und Nacht erforderlich, um den Schmerz auszulöschen.

Ein bestimmtes Beruhigungsmittel verhindert zum Beispiel Halluzinationen und Wahnvorstellungen, blockiert D-Zustände (auch als REM-Schlaf bekannt) und beruhigt uns, so daß wir schlafen können. Dieses Mittel ist als spezieller Wirkstoff gegen Spannung und Angst bekannt, aber die Tatsache, daß seine hauptsächliche Wirkung darin besteht, die Erfahrung von Schmerz, das heißt, dessen bewußte Wahrnehmung, zu mindern, sollte anzeigen, daß Spannung unverbundener und unbewußter Schmerz ist. Normalerweise erfahren wir den Schmerz nicht, sondern nur, was er in uns anrichtet. Er macht uns kratzbürstig und aufgeregt, beschleunigt den Geist und hält uns wach.

Wenn Schmerz-Killer [Analgetica] D-Zustände mindern, muß eine Verbindung zwischen Träumen und Schmerz bestehen. Wer geringeren Schmerz hat, sollte weniger symbolische Träume und vielleicht kürzere Perioden der D-Zustände haben.2 (Die laufende Forschung in unserem Laboratorium klärt und bekräftigt diese Auffassungen*.) Klar ist bereits jetzt, daß reduzierter Urschmerz die Symbolik von Träumen verringert; das heißt weniger Schmerz gleich weniger Neurose.

 

2  Es wird angenommen, daß REM-Schlaf mit Schmerz verbunden ist. Unsere Forschung sollte zur Klärung dieses Problems beitragen. Vorläufige Hinweise bekräftigen bereits die vorgetragene Auffassung. Sollten Patienten mit geringerem Schmerz wenig REM-Schlaf-Perioden haben, würde diese Hypothese verifiziert. Das bedeutete, postprimärtherapeutische Patienten hätten einen ruhigeren und entspannteren Schlaf mit insgesamt geringerem Traumleben.

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Die Tatsache, daß ein einziges schmerztötendes Mittel so scheinbar unterschiedliche Verhaltensweisen wie Halluzinationen und symbolische Träume bewirken kann, zeigt an, daß beide dem gleichen zugrunde­liegenden Prozeß entspringen könnten. Je mehr man im Wachzustand beruhigt bleibt, desto stärker ist das Rückschlagspotential und um so größer die Dosis von Schlaftabletten, die nötig ist, um einen ruhigen Schlaf zu erhalten. Die erforderliche Dosis steht im Verhältnis zur Stärke des Schmerzes.

Zum Beispiel nahm ein Patient vor der Therapie bei einem ernsthaften Selbstmordversuch 60 leichte Schlaftabletten. Obwohl er fast vier Tage bewußtlos war, starb er nicht. Wie ich glaube, wurde sein Leben durch die unmäßige Stärke des Schmerzes gerettet, welche sein Gehirn selbst unter einer tödlichen Dosis von Beruhigungspillen bei Tätigkeit hielt. Nach der Therapie hätte es vermutlich weniger Pillen bedurft, um seinen Tod herbeizuführen. Wir können die Wirkung des Rückschlags an den Entzugserscheinungen bei Drogenabhängigen sehen; der Körper windet sich unter dem plötzlichen Anfall des Übermaßes an Schmerz. Der plötzliche Angriff gehäuften Schmerzes beim Entzug Abhängiger gleicht dem, was einem schlafenden Menschen widerfährt, der tagsüber stark unter Beruhigungsmittel gesetzt wurde. Er schwitzt, zittert, schreit vor Schmerz auf, nennt dies aber einen Alptraum.

Serotonin ist die chemische Schlüsselverbindung, welche die Blockierung von Nervenimpulsen erleichtert und damit zur Verdrängung beiträgt. Jeder von uns produziert es. Ein Übermaß an Schmerz tendiert dazu, den Serotonin-Vorrat aufzubrauchen. Eine Studie der Stanford University ergab beispielsweise, daß Depressive geringe Serotoninwerte aufweisen.

Hier eine Bemerkung von Torda über Serotonin: »Durch Abblocken der Übertragung retikuläraktivierender Systemimpulse zu jenen Pyramidenzellen, die zum Hippocampus gehören, mindert der Serotonin-Ausstoß die Entstehung der Theta-Aktivität in den Pyramidenzellen.«3

 

* Siehe Teil V über Forschung.

3 Clara Torda, »Observations ob a Physiological Process Related to Dreams«, in Communicaüons in Behavioral Biology, New York, Academic Press, 1968, Teil A,2, S. 43.

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Es gibt ein Zunehmen der Gehirntätigkeit mit einem relativen Abklingen der hemmenden Theta-Aktivität der Pyramidenzellen. Das heißt, im gleichen Maße wie die Hemmung niedriger Impulse abgeschwächt wird, steigert sich die Tätigkeit der Hirnrinde in einer Art Kompensation. In der Sprache der Primärtheorie heißt das: im selben Maße wie primäre Erinnerungen Zugang zu höheren Zentren haben, müssen dieselben in Aktion treten und Träume hervorrufen, um sie zu verdecken oder zu symbolisieren. Torda sagt es wie folgt: »Träume (als sichtbare Begleiterscheinungen von Abläufen, die in die Konsolidierung des Langzeitgedächtnisses verwickelt sind) gelangen an die Schwelle des Bewußtseins durch das Abklingen entsprechender Hemmungsvorgänge, die dazu dienen, die Empfindung dieses Konsolidierungsprozesses zu verhindern.«4 Kurz gesagt, der Hippocampus dient dazu, die Wahrnehmung der Erinnerung zu blockieren.

Wenn im Schlaf eine Verlangsamung der Theta-Wellen des Hippocampus einsetzt, beginnt das Traumleben. Ein Mensch, der sich an seine Träume erinnern kann, verdrängt ohne Zweifel weniger als jemand, der das nicht vermag, denn letzterer scheint sogar die symbolischen Derivate des zugrundeliegenden Schmerzes unterdrückt zu haben. Ich meine, wenn völlige Blockierung eine Notwendigkeit ist, handelt es sich um eine Funktion des Urschmerzes; selbst eine bewußte Anerkennung der Tatsache, daß zugrundeliegende Gefühle existieren, darf dann nicht sein. Die Gehirntätigkeit, Gefühle in symbolische Träume umzulenken, ist Teil des Verdrängungs-Abwehrsystems, das primäre Gefühle davon abhält, zu bewußtem Schmerz zu werden.

Obwohl Torda und ich über einige der grundlegenden nervalen Prozesse übereinstimmen, weicht unsere Interpretation hinsichtlich der Bedeutung dieser Abläufe voneinander ab.

Sie glaubt, daß Träume »eine notwendige und hinreichende Bedingung für die Programmierung des Gehirns darstellen«5, während ich annehme, daß sie unterschiedlichen Funktionen dienen; daß sie Wahrnehmungen bereits gespeicherter Erinnerungen sind. Ihr Werk ist in der Tat wert, studiert zu werden. Sie weist nach, daß Träume Spuren des Kurzzeit- wie auch des Langzeitgedächtnisses enthalten; in der Sprache der Primärtheorie heißt das: die Tagesereignisse trennen uns von alten Gedächtniseinheiten. Tordas Werk wird besonders dadurch wichtig, daß sie durch elektrophysiologische Beweise signifikante Gehirnstrukturen ausfindig gemacht hat, die in diesen Prozeß verwickelt sind.

 

4)  Op. dt., S. 44.
5)  Op. eil., S. 39.

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Von der Biochemie her betrachtet, sieht Torda Träume als eine Kombination der Wirkung von Serotonin und Noradrenalin an. Letzteres bewirkt ein Wachwerden durch Aktivierung bestimmter Teile des retikulären Systems. Wenn die Theta-Aktivität gering ist und Träume beginnen (vorausgesetzt ihr Inhalt ist schrecklich genug), kann Panik und eine Zunahme des Noradrenalin-Ausstoßes entstehen, um das Wachsein und die Verdrängung aufrechtzuerhalten. Das Verständnis der Kombination dieser beiden chemischen Prozesse mag später einmal helfen, eine Erklärung zu finden, für den manisch-depressiven Wachzyklus - den der totalen Verdrängung und des »Einagierens« und der anschließenden Energieabfuhr und des »Ausagierens«. In jedem Fall scheint in entspanntem Zustand weniger Hemmung vorhanden zu sein; oder umgekehrt gesagt: weniger Hemmung erlaubt Entspannung.

Bei Neurotikern bedeutet dieser Mangel an Hemmung, daß eine stärkere Abwehrtätigkeit der Hirnrinde einsetzen muß, damit sich der Geist mit anderen Angelegenheiten beschäftigt; im Wachzustand mag es zum Beispiel die Arbeit sein, während des Schlafes ist es ein symbolischer Traum.

 

Der Vorgang der Verdrängung wird durch eine Vielzahl neurochemischer Wirkstoffe übertragen. Das Gehirn jedoch folgt einer konstanten Methode; so nimmt die Verdrängung, ob man nun wacht oder schläft, dieselben Strukturen und dieselben neurochemischen Veränderungen in Anspruch. Gefühle werden unbewußt, wenn wir sie verdrängen, geradeso, wie Verdrängung des Bewußtseins die Bewußtlosigkeit des Schlafes bewirkt. Wie Freud vor vielen Jahrzehnten ausführte, gibt es viele Arten, unbewußt zu sein. Wenn man elektroencephalographische Aufzeichnungen (EEG) sich in starkem Maße unterdrückender Personen und solcher in tiefem Schlaf betrachtet (beides sind Zustände des Unbewußten), so findet man gewöhnlich hohe Amplitudenwellen. 

Wie unsere Forschung zeigt, fällt die Amplitude um die Hälfte, wenn die Verdrängung nachläßt. In diesem Sinne ist der Neurotiker wahrhaft unbewußt und wird durch Schmerz in diesem Zustand gehalten. Unabhängig davon, wie sehr er sich bemüht, »bewußt« zu werden, wird der Schmerz dafür sorgen, daß er es nicht wird. In der Sprache des EEG bedeuten ständig hohe Amplitudenwellen, daß eine Person so unbewußt ist, daß sie nicht wirksam innen und außen unterscheiden kann.

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Das Innere überflutet das Außen. Die Folge können psychotische Wahnvorstellungen oder böse Träume sein, die uns völlig mit Beschlag belegen, oder subtiler ausgedrückt, eine Unfähigkeit, objektiv zu sein, die Wirklichkeit zu nehmen, wie sie ist. Wenn man von Gefühlen überwältigt ist, so daß man innen und außen nicht länger unterscheiden kann, bedeutet dies, daß man dazu verdammt ist, fortwährend in seinem Traum zu leben.

Wir sehen somit, daß es ein geheimes Leben gibt, das aus Urgefühlen besteht, die sich in dem Maße, wie die Verdrängung zunimmt, ausbreiten und stärker unser Bewußtsein steuern. Wie man in der äußeren Realität, verankert ist, hängt davon ab, wieviel Bewußtsein vom Unbewußten oder von unserer Integration der inneren Wirklichkeit in Anspruch genommen ist.6

Da man während eines tieferen Schlafes weniger träumt, ist das Gehirn für Reizaufnahme empfänglicher. Es gibt dann ein verstärktes elektrisches Potential für einen Reiz, da eine geringere Gehirntätigkeit vorhanden ist, um den Input abzuwenden. Während des D-Schlafes ist das Gehirn jedoch ziemlich beschäftigt und die Reizzufuhr ist abgewendet. In der Sprache des EEG mag das bedeuten, daß ein Mensch mit geringerer Hirnfrequenz offener demgegenüber ist, was außerhalb seiner selbst vorgeht; er ist bewußter. Ein empfindender Mensch zu sein, heißt dann in der Sprache des EEG, offen gegenüber Reizen zu sein, und das heißt offen gegenüber der Welt.

Mit Hilfe von Hirnstrombildern, die Teil des Abwehrsystems sind, versorgen uns Phasenveränderungen während des Schlafes mit einem verhältnismäßig unverfälschten Indikator für den therapeutischen Fortschritt.

Meiner Meinung nach tritt der 90-Minuten-Zyklus mit oder ohne Neurose auf. Bei einer Neurose sind Aufbau und Abbau von Spannung sehr verstärkt, da das Reservoir der Spannung so viel größer ist.

 

6  Ich werde später, in dem Abschnitt über Forschung, unsere Versuche darstellen, Grade von Verdrängung und Neurose zu messen und aus Hirnstrombildern neue Einsichten für unser Verständnis von der Neurose während der Schlafzeit zu gewinnen. Kurz gesagt: wir meinen, daß es zwischen Amplitude und Hirnwellenfrequenz eine Beziehung gibt. Wenn die Hirntätigkeit im Schlaf nachläßt, dann kommt man näher an seine unbewußten Gefühle heran; und um uns gegen sie zu schützen, werden mehr Neuronen rekrutiert — das ruft die höhere Amplitude hervor. Indem wir Aspekte des Schlafzustands dadurch vortäuschten, daß wir die Hirntätigkeit durch Blitzlichter erheblich herabsetzten, sahen wir, daß empfindende Menschen Urerlebnisse bekamen, während bei den Neurotikern, die nicht empfinden können, eine Woge verdrängender Kräfte und ein beträchtlicher Anstieg der Amplitude auftrat.

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Vielleicht wird der D-Zustand genauer beschrieben, wenn man sagt, daß er eine Erregungs-Beruhigungs-Phase darstellt. In diesem Sinne mobilisiert sich das System selbst für die Abwehr von Gefahr in 90-Minuten- Zyklen, tagsüber wie nachts, und entläßt sich dann aus dieser Wachsamkeit in einen verteidigungslosen und entspannten Zustand. Bei normalen Personen, die kein Reservoir von Urschmerz haben, mag die Entlastung tagsüber einfach durch Bewegung vonstatten gehen — durch Übungen, Sichstrecken oder dergleichen. Nachts mag es die Form echter Träume annehmen.

In neurotische Abwehrvorgänge einzugreifen, ist besonders dann unklug, wenn die Spannung, welche diese Abwehrvorgänge antreibt, nicht durch geeignete körperliche oder geistige Verbindungen gemindert werden kann. Die Abwehr zu entfernen, indem man die Person auf eine radikale Diät setzt oder ihr Rauchen völlig unterbindet, heißt nur, den Spannungspegel zu erhöhen und einen stärker gestörten Schlaf zu bewirken. Und tatsächlich hat die neueste Forschung über Raucher, die abrupt damit aufhörten, herausgebracht, daß ihr Schlaf gestörter ist und daß sich für sie die Chance einer Herzattacke erhöht.

Beweise für die defensive Natur des D-Zustandes wurden bei Katzen gefunden, die, obgleich schlafend, in diesem Zustand herumlaufen, auf Raub ausgehen und unsichtbare Feinde angreifen können. Die Tatsache, daß diese Perioden grundlegend und nicht nur bei Traumvorgängen gültig sind, ist durch die Forschung mit Katzen belegt, deren Hirnrinde man abgetragen hatte. Durch operativen Eingriff jeglicher Fähigkeit zu träumen beraubt, erfahren sie dennoch ihren D-Zustand-Zyklus.7

Anders gesagt, der D-Zustand, den ich als das Eintreten eines wachen auf Abwehr gerichteten Zustands bezeichnen würde, ist ein altes phylogenetisches Erbe und Teil eines eingebauten Überlebungs­mechanismus, der fast allem tierischen Leben gemeinsam ist. Er trat noch vor der Entwicklung einer komplexen menschlichen Gehirnrinde auf.

Wie alles dies mit der Forschung über seelische Störungen zusammenhängt, wird in einer Studie von Dement gezeigt (1964). Er fand eine abnorm hohe D-Zeit bei Schizophrenen in symptomfreien Intervallen (Remission); das heißt, die angepaßtere oder intakte Person konnte tagsüber um so besser handeln je stärker ihr nächtliches Erleben gestört war.

 

Siehe die eingehende Forschung von M. Jouvet über diesen Gegenstand.

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D-Zeit und seelische Störung arbeiten wie ein hydraulisches System; je mehr von dem einen da ist, umso weniger ist von dem anderen nötig. Genauer gesagt, psychische Störungen sind D-Zustände, die ins Wachleben ausgebrochen sind.

Hartmann führt eine Längsstudie über einen paranoiden Patienten an, der im symptomfreien Zustand 30% D-Zeit hatte, und 50% D-Zeit, als er wieder begann, in seine Paranoia zurückzuschlüpfen. Solchermaßen abgesichert zog er den Schluß, daß es eine Beziehung zwischen D-Zeit und Antriebsdruck gibt, die zu psychotischer Krankheit führt. Dies impliziert, daß neurotische Entlastungsformen Abwehrmaßnahmen gegen Wahnsinn darstellen.

Hartmann zitiert auch eine Studie von Koranyi und Lehmann (1960), die ausführt, daß Psychotiker gegenüber Schlafentzug empfindlicher als normale Menschen reagieren. 100 Stunden Schlafentzug führte bei jedem dieser Patienten zu einer Wiederkehr ihrer psychotischen Symptome — Symptome, die sie über Jahre oder Monate hinweg nicht mehr gezeigt hatten. Weiterhin erwähnen Patienten, die ihre Träume erinnern können, daß sie während einer psychischen Störung aufgehört hatten zu träumen. Weiteres Material zeigt, daß Hirnentladungen verbunden mit Petit-mal-Epilepsie während der Dauer von D-Perioden nachlassen, mit Ausnahme jener, die durch Narben einer früheren Hirnverletzung hervorgerufen werden.

In einigen Fällen von Epilepsie können dann D-Zustände wie Hebel wirken, welche die kleineren Entladungszustände verringern. Depressive haben eine längere D-Zeit als manisch agierende Neurotiker. Daher hat nach innen zu agieren, einen stärker gestörten Schlaf zur Folge, als wenn man imstande ist, tagsüber auszuagieren. Es gibt in der Forschung Beweise, die diese Ansicht erhärten.8 Versuchspersonen, die einen Tag lang gesellschaftlich völlig isoliert wurden, hatten während der Nacht im Durchschnitt 60% mehr Traumzeit. — Ein weiterer Beweis dafür, daß träumen Spannung mindert. Ich würde beispielsweise bezweifeln, daß man eine solche Zunahme des Träumens auch bei normalen Menschen, die gesellschaftlich isoliert waren, wahrnehmen könnte.

Für Primärpatienten, die zu Hause unterbrochene Urerlebnisse hatten (zum Beispiel wegen Besuch), ist es eine Binsenweisheit, daß sie während der gleichen Nacht noch unter äußerst heftigen Alpträumen leiden.

 

Charles T. Tart, Altered States of Consciousness, New York, Witey, 1969, S. 140.

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Der Alptraum ist das übriggebliebene Gefühl eines blockierten Urerlebnisses in symbolisierter Form. Während eines Urerlebnisses begann ein Patient darüber in Panik zu geraten, daß er alleingelassen und niemand bei ihm war. Seine Furcht war: »Ich ängstige mich, weil es niemanden gibt, der mich schützt«. Mitten in diesem Zustand klopfte ein Nachbar an die Tür. Spät in der Nacht träumte er davon, von einem seltsamen Ungeheuer angegriffen zu werden, während er allein war, und hatte wieder dasselbe Gefühl der Panik. Dieses Gefühl stieß ihn ins Wachsein; dann hatte er ein Urerlebnis und glitt in seine Gefühle und ihre Verbindung zurück.

Die Verwandtschaft zwischen D-Zuständen und Abwehrvorgängen wird von Hartmann zusätzlich herausgestellt, wenn er festhält, daß eine Person, die aus einem D-Zustand herausgeholt wurde, wacher und reaktionsfähiger ist als jemand, der aus einem tiefen Schlaf geholt wurde. D-Zustände bereiten uns mehr als jedes andere Schlafstadium darauf vor, bewußt zu handeln, und zwar auf eine schnellere, umfassender integrierte Art.

Es gibt wissenschaftliche Beweise, die anzeigen, daß wir aus einem REM-Schlaf zu uns kommen, wenn wir auf natürliche Weise erwachen. Die letzte REM-Periode der Nacht ist also die längste. In der Sprache der Primärtheorie heißt das, daß wir beim Erwachen so eng an unsere Urgefühle gelangen, wie wir das überhaupt je können:

man erwacht als man selbst. Wir mögen in sexueller Erregung aufwachen, voller Furcht oder Zorn oder was auch immer in uns vorhanden ist. Es wird Zeit aufzuwachen, wenn der Betreffende sehr nah an seine geistigen Verbindungen gerät, und dies ist der Fall, wenn wir aus dem Bett springen, eine Zigarette anzünden, ans Telefon gehen, Frühstück bereiten, die Zeitung lesen und all die Dinge tun, die uns selbst vom Fühlen abhalten.

Ich habe oben ausgeführt, daß Katzen sich während des Schlafes an unsichtbare Feinde heranpirschen können; wir wissen, daß Menschen auch umhergehen oder eine Tür öffnen können, während sie offensichtlich schlafen. Wir sehen somit, daß die Muskulatur während dieser Stadien nicht immer entspannt ist. Ich würde das der Tatsache zuschreiben, daß in einigen Menschen die unterdrückte Spannung so groß ist, daß sie buchstäblich sogar während des Schlafes zum Ausagieren getrieben werden. Bewußt — unbewußt ist ein Kontinuum, in welchem wir unbewußt sein können, während wir wach sind — wie in der Psychose — oder bewußt, während wir schlafen, wie im Somnambulismus.

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Abbildung 8 

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Ähnlich können wir die Neurose oder die Psychose als ein Kontinuum ansehen. Primärer Druck ruft zunehmende Symbolisierung hervor. Auf diese Weise ist ein Kleinkind, das von seinen Eltern brutal unterdrückt wird, dem keinerlei Zuwendung zuteil wird und das keine Gelegenheit erhält, sich von Spannung zu entlasten, in derselben Lage wie ein erwachsener Neurotiker, der für eine lange Zeit seines Schlafes und seiner Träume beraubt wird. In beiden Fällen kann der angehäufte Druck leicht zu bizarren psychotischen Vorstellungen führen. 

Träume müssen sein, um Spannung freizusetzen. Man nehme einem Menschen Nahrungsmittel und Zigaretten weg, die zur Beruhigung des Organismus dienten, und der Körper reagiert, als seien medizinische Beruhigungsmittel plötzlich abgesetzt worden. Das Endergebnis ist ein Rückstoß oder Rebound-Effekt. Gleichermaßen könnte man vermuten, daß Alkoholiker und Drogenabhängige, die plötzlich von ihren Gewohnheiten abgehalten werden, unter schlechteren Träumen und Alpträumen leiden. Das Gesamtsystem muß für den Verlust der Beruhigung während des Tages aufkommen.

Jemand, der seiner Entlastungsmöglichkeiten tagsüber beraubt wird, muß, selbst wenn der Entzug unter der Leitung von Fachleuten vonstatten geht (die das Konditionierung nennen), einen Weg finden, um die angehäufte Spannung freizusetzen. Alpträume sind eine Methode. Und sie bedeuten für den Abhängigen, der seiner Drogen beraubt ist, daß die Spannung ihre Angriffe fortsetzt, bis zu irgendeiner späteren Zeit ernste physische Symptome daraus resultieren können. Warnzeichen sind jene angespannten Träume; und die Menge der für den tiefen Schlaf erforderlichen Mittel wird von der Höhe des Schmerzes abhängen. Es ist interessant festzustellen, daß Kinder weit geringere Dosen von Medikamenten ertragen als Erwachsene. Ärzte glauben, daß dies weitgehend auf Unterschiede im Körpergewicht zurückzuführen ist; aber könnte es nicht auch auf das weniger starke Abwehrsystem bei Kindern zurückzuführen sein?

Um die grundlegende Prämisse zu wiederholen: Jedes beliebige Ereignis, das gefühlt und verarbeitet werden kann, ist real, ist eine Gefühlserfahrung. Jede beliebige Last jenseits der Verarbeitungsmöglichkeit, die keine Verbindungen eingehen kann, wird in symbolische Wege, wie Träume es sind, umgeleitet. »Überlastung« ist das Material für symbolische Träume; die Energie unverbundener Gefühle legt die emotionale Kraft des Traumes fest.

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Eine einfache Kritik, die ein Erwachsener erfährt, würde im großen und ganzen keine Belastung erzeugen, wenn diese nicht mit früheren Zurückweisungen im Leben gekoppelt wäre. Die vereinte Kraft ist es, die Belastung erzeugt. Die Lösung kann nicht in der Analyse des manifesten Trauminhaltes gefunden werden; sie liegt darin, dem Betreffenden bei einer allmählichen Verarbeitung der Belastung zu helfen. Wenn die Belastung nachläßt, zeigt sich ein doppeltes Phänomen.

Bei Homosexuellen werden wir zum Beispiel die ersten heterosexuellen Träume feststellen und gleichzeitig die ersten Anzeichen heterosexuellen Interesses. Der Traum nimmt vorweg, was später als vollbewußte Heterosexualität auftritt. Wenn sich ein Mann mit der Furcht vor seiner Mutter beschäftigt und fühlt: »Warum hast du mich nie gewollt?«, dann wird sich sein Trauminhalt entsprechend ändern, und es werden weniger furchterregende weibliche Charaktere in seinen Träumen auftauchen. Auch hier wieder sehen wir, die Änderung ist mechanisch und unbewußt. Ein Mensch fängt ohne Absicht und festen Willen an, seine sexuelle Orientierung zu ändern. Ehe jene Gefühle nicht empfunden werden, wird die Abwehr ihnen gegenüber automatisch und unbewußt sein, so daß Homosexualität die Folge ist.

Der Betrenende mag sich im Wachzustand keinerlei Bedrohung durch Frauen bewußt sein. aber bei verringerter Wachheit, und das heißt, bei verringerter Schutzbereitschaft während des Schlafes, werden die tatsächlichen Gefühle (wenn auch unverbunden mit ihrer entsprechenden Ursache) auftauchen.

Ein Grund, weshalb Träume wichtig sind, liegt darin, daß sie Träger des Künftigen sind. Wenn die zugrundeliegenden abgeblockten Gefühle anfangen, Zugang zum Bewußtsein zu haben, ist das Traumleben die zentrale Zwischenstation. Auf diese Weise wissen wir, wann ein Neurotiker nahe an seinen Gefühlen ist: er leidet dann unter bösen Träumen. Ein sich nahezu vollkommen unterdrückender Mensch mag überhaupt keine Kenntnis von seinem Traumleben haben. Sobald die Gefühle schließlich ins Bewußtsein aufsteigen, scheinen sie eine unterirdische Höhle für immer zu verlassen; sie sind nicht länger unbewußte Kräfte, die Alpträume hervorrufen.

Wir verstehen Alpträume besser, wenn wir die LSD-Erfahrung analysieren. LSD überflutet die Hirnrinde künstlich mit primären Gefühlen (durch Freigabe hemmender Zentren); eine Person fängt an, ihren Alptraum zu leben. Wenn wir hernach Abwehrmöglichkeiten wiedergewinnen (falls der Schmerz nicht zu zerstörerisch ist), können wir gut sagen: »Mein Gott, ich bin aus diesem Alp heraus«.

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Wenn wir die neurotischen Abewehrmaßnahmen nicht wiederherstellen können, werden wir in das symbolische Labyrinth hineingezogen und verlieren den Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit.

Das Symbolisieren sollte als eine Hauptform der Erleichterung angesehen werden. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, irgendjemandem gegenüber zornig zu sein und nicht gesagt zu haben, was wir fühlen. Wir können dann unsere Rache fantasieren. Wenn wir jemanden vom Phantasieren oder Tagträumen abhielten, würden wir wachsenden Druck hervorrufen, weil wir das Gefühl gänzlich abgetrennt hätten. Es gibt eine therapeutische Schule, die Directed Daydreaming [gelenktes Tagträumen] heißt, nach welcher die Patienten ermutigt werden, symbolische Situationen zu schaffen, in denen sie ihre Vorstellungen ausagieren. Sie werden vorgeben, durch einen Tunnel in die Freiheit zu kriechen, und behaupten, sich für eine Weile besser zu fühlen. Sie haben zustande gebracht, was gute Träume leisten — nämlich die Spannung auf einen Punkt konzentriert und symbolisch abgebaut. Wahngebilde sind auch notwendig, um das seelische Gleichgewicht eines Menschen in großem Schmerz aufrechtzuerhalten. Wenn man eine Person, die unter einer psychosomatischen Krankheit leidet, zum Phantasieren oder Tagträumen ermutigt, und sie diese Vorstellungen sicher ausagieren würde, könnte dies eine wirksame Methode der Spannungsminderung sein, obschon es nur ein vorübergehender Ausweg wäre.

 

Zusammengefaßt zeigt die Traumforschung bis hierhin, daß die Menschen im allgemeinen Spannung abbauen müssen, und Neurotiker dies mit der neurotischen Spannung tun müssen. Träume sind keine vom Wachverhalten verschiedene Phänomene, sie stellen denselben wesentlichen Vorgang dar.  

Die Neurose erlaubt Spannungsabfuhr und schützt vor Psychose. Primärer Antriebsdruck steigt, wenn die Entlastungsformen verhindert werden, und verursacht sowohl quantitativ wie auch qualitativ entsprechend wachsendes symbolisches Verhalten. 

Nichts anderes als die angemessene Verbindung kann die Primärspannung unterbinden, und dem Organismus droht Gefahr, wenn neurotische Auswege verhindert werden — sei es durch Drogengebrauch oder durch gesellschaftliche Verbote. Symbolische Träume sind die Neurose bei Neurotikern, ebenso wie die Alpträume Psychosen sind, die auftreten, wenn die üblichen neurotischen Entlastungswege nicht funktionieren. 

Letztlich sind Träume nicht mehr als symbolische Bilder und Vorstellungen, die von Gefühlen angeregt werden — gerade so, wie irgendeine bizarre Vorstellung sich einstellt, wenn die Gefühle blockiert sind.

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