Start    Weiter

2  Zwischenfall in Henrys Behandlung   

 

Janov 1972

 

36-47

Dieses und das folgende Kapitel wurden von zwei Primärpatienten geschrieben, von zwei grundverschied­enen Menschen mit unterschied­lichem Hintergrund und doch, wie wir alle es sind, durch Schmerz geeint. Der Schmerz ist derselbe im Deutschland Henrys wie in den von Bill geschilderten amerikanischen Oberschichts­enklaven. Die Sprache, ihn auszudrücken, unterscheidet sich, aber die körperlichen Prozesse sind die gleichen.

Beide sind um die Fünfzig und zeigen, welche Kraft Urerlebnisse auch bei älteren Menschen haben. Ihre Geschichten sind ein beredtes Zeugnis für die Permanenz des Urschmerzes — er verläßt uns nie. Sie schildern anschaulich, wie ein Urerlebnis aussieht, und was es für uns und mit uns macht. Henrys ist insofern besonders aufschlußreich, als viele seiner Urerlebnisse an die jiddische Sprache gebunden sind. Die Tatsache, daß Urerlebnisse in der Muttersprache, in der Sprache der Kindheit auftreten, ist Beweis für das tatsächliche »Wiedererleben« früherer Erlebnisse, im Gegensatz zum »Als ob«. Anders gesagt, Gedächtnis ist ein allesumfassendes Phänomen, nicht nur etwas mit dem Geist Vollzogenes. 

Wir rufen nicht mit Emotionen etwas in Erinnerung — das Freudsche Abreagieren —, wir wiedererleben. In Erinnerung rufen und »erinnern« sind geistige Phänomene; Wiedererleben ist ein allumfassendes neuro­physiolgisches Phänomen — und darin besteht der Unterschied zwischen Abreaktion und Urerlebnissen. Eines der anschaulichsten Beispiele war ein in meinem Buch <Anatomie der Neurose> geschilderter Fall. 

Bei einer Patientin trat während eines Geburtsprimals ein kurz nach ihrer Geburt verschwundenes Muttermal wieder auf. Könnte man bei der Wiederkehr eines solchen großen roten Males von Abreaktion sprechen? Kaum. Es war Teil eines eingeschlossenen Gedächtnis­schaltkreises, der alle Aspekte der ursprünglichen Erfahrung unverändert bewahrte. Einer der Aspekte dieses Gedächtnis­schalt­kreises ist Sprache, und deshalb spielen sich Urerlebnisse in der Muttersprache ab.

Der Fall Bill ist in vieler Hinsicht aufschlußreich. Es gibt unendlich viele Behandlungsmethoden für Alkoholismus, und Bill hat sie fast alle ausprobiert. In der Primärtherapie war er innerhalb kürzester Zeit (nach vier oder fünf Monaten) von seinem Alkoholismus befreit — weil er von einer großen Schmerzenslast befreit war. Wie er sagt, ist Alkohol die Medizin gegen Schmerz (welch einfacher und doch tiefgründiger Gedanke), und warum sollte bei geringem Schmerz ein Bedürfnis nach dieser Medizin bestehen? 

Bill war nicht nur Alkoholiker, er war auch tablettensüchtig. Er nahm alle nur denkbaren Schmerzmittel und Beruhigungstabletten — ein Zeichen dafür, daß Schmerz die Ursache all seines Leidens war. Wir haben keinen besonderen Namen für jene Menschen, die permanent Beruhigungs­mittel nehmen (ein heute weitverbreitetes Übel), aber Alkoholismus bezeichnen wir als eine besondere Krankheit — zu Unrecht. Alkoholismus ist lediglich eine der vielen nicht generalisierten Arten der Schmerzlinderung. Die Menschen, die regelmäßig Beruhigungsmittel und Aspirin nehmen, sind der Schmach einer Bezeichnung entronnen.

Bill wie Henry sind vorzügliche Schreiber, ich könnte mir keine besseren Beschreibungen von Urerlebnissen vorstellen als die ihren.

 

   Zehnte Sitzung der Einzeltherapie   

 

Sobald ich auf der Couch lag, erzählte ich Les vom gestrigen Gruppenabend, an dem er nicht teilgenom­men hatte. Ich hatte der Gruppe über meine Reaktionen berichtet. Ich erklärte, wie sehr es immer schon mein Wunsch gewesen sei, meine Angst­reaktionen in allen Gruppensituationen zu verstehen. Zum Beispiel war ich, kaum daß ich gefragt wurde, ob ich etwas sagen wollte — mit anderen Worten, als ich aus meiner sicheren Anonymität herausgerissen wurde —, auf der Stelle in Schweiß ausgebrochen, mein Hals verkrampfte sich, so daß ich kaum noch sprechen konnte und kaum noch Luft bekam, ich fühlte mich allgemein so unwohl, daß ich einer Ohnmacht nahe war. Meine Reaktionen auf Situationen dieser Art habe ich immer schon als verwirrend empfunden, denn sie stellten sich selbst dann ein, wenn ich in einer Gruppe war, die ich ausgesprochen gern mochte, oder wenn ich mit mehreren Leuten zusammen war, die ich einzeln gut kannte und mochte, so daß es, wenn wir zu mehreren waren, gewiß keinen Grund für Angstgefühle gab. Kurz gesagt, das war für mich gesellschaftlich wie beruflich ein entsetzliches Handikap.

37


Ich erwähne diesen Vorfall während der gestrigen Gruppensitzung in meinem heutigen Bericht, weil mir die »Einsicht« in dieses ganze Problem heute morgen in meiner Einzelsitzung mit Les ganz plötzlich und völlig unerwartet kam und weil er gleichzeitig Licht auf das wirft, was ich zutiefst als meine — wie Dr. Janov es im Urschrei genannt hat — »Primäre Schlüsselszene« empfinde.

Nachdem ich Les von meiner gestrigen Angstreaktion erzählt hatte, schlug er mir vor, ich solle versuchen, eine sehr frühe Situation aufzuspüren, bei der ich in einer Gruppensituation ein ähnliches Gefühl gehabt hatte.

Ich schwieg eine Weile, und dann erzählte ich Les plötzlich von einem ganz sonderbaren und starken Gefühl, das ich einmal in meiner Jugend in einer Gruppensituation empfunden hatte und das mir aus irgendeinem Grund seither in all den vielen Jahren alle paar Monate wieder lebhaft in Erinnerung kam. 

Ich erzählte ihm weiter, daß sich das in Köln ereignet hatte, ich war damals etwa elf oder zwölf Jahre alt und war in einer feiernden, fröhlichen, fast hysterischen Menschenmenge eingekeilt ... Ich ließ mir damals keine Gelegenheit entgehen, an festlichen öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, denn in meinem Elternhaus herrschte ständig eine beklemmende, erdrückende Atmosphäre tiefster Niedergeschlagenheit, Bitterkeit und der Mißstimmung. Ich freute mich immer auf Karneval, Paraden, Feste und Feiertage; und da das in die frühe Zeit der Naziherrschaft in den Dreißigern fiel, hatten all diese Feierlichkeiten einen ausgeprägten antisemitischen und ultranationalistischen Unterton ... 

Ich war mir all dessen nur vage bewußt, und für mich waren das die einzigen Gelegenheiten, bei denen mir das Leben aufregend und herrlich erschien ... Ich marschierte dann selig mit oder stand eingeklemmt in der ausgelassenen Menge, genoß den verrückten Lärm, das Dazugehörigkeitsgefühl, die Nähe zu der warmen, pulsierenden Menschenmenge um mich her und war sonderbar erregt von dem intimen, warmen Körperkontakt, den ich in meinem Elternhaus, das bar jeglicher Liebe war, nie erlebte... 

In einer solchen Situation durchzuckte mich plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wie ein schmerzhafter elektrischer Schlag, die eisige, glasklare Erkenntnis, daß ich mich inmitten einer Phantasie, einer gefährlichen Illusion befand, daß ich nicht wirklich dazugehörte.

38


Ich weiß noch genau, daß sich das auf einer der Hauptstraßen, auf der Hohestraße in Köln ereignete. Gerade noch hatte ich mich in einem wahren orgiastischen Freudentaumel befunden, die gewaltige Menschenmasse stieß mich hin und her, preßte mich gegen die üppigen Hintern stark parfümierter Frauen, und im nächsten Augenblick fühlte ich eine eisige Klaue nach meinem Herzen greifen, mit der glasklaren Erkenntnis, daß ich diesen Menschen gleichgültig war, daß sie mich haßten, daß sie mich nicht wollten und daß sie mich gern hätten sterben sehen, wenn sie gewußt hätten, daß ich Jude war!

Die Musik schmetterte ohrenbetäubend weiter, und ich wurde noch immer mitgetragen, wie ein hilfloses Embryo in der Umarmung des vibrierenden, ruhelosen Menschengewühls, doch ich wußte plötzlich, daß meine Sicherheit in meiner Anonymität lag und daß mein Dazugehörigkeitsgefühl ein entsetzlicher und gefährlicher Tagtraum war ... Ich war zutiefst verwirrt und gelähmt von dieser plötzlichen, unerträglichen Sicht der Wirklichkeit, daß diese Menschen geeint waren in ihrem starken Haß auf mich, aus Gründen, die ich nicht ganz verstand, außer daß sie etwas damit zu tun hatten, daß meine Eltern Juden waren ...

Ich sagte Les, das sei alles, was ich von jenem Tag noch erinnerte. Als hätte der Tag nur aus diesem einzigen Augenblick bestanden... Wie nicht anders zu erwarten, drang Les in mich, ich solle zu dieser Szene zurückkehren und mich diesem Gefühl völlig hingeben... Ich stürzte sofort in einen Abgrund qualvoller Verzweiflung... Ich bin zurück in dieser Begebenheit, wie von einer starken Vakuum­maschine angesaugt... Ein Gefühl unerträglicher Schmerzen scheint mein Herz in Stücke zu reißen... Ich schluchze, ich weine, und schließlich schreie ich: »Es ist niemand da ... nie ist jemand da ... in dieser ganzen beschissenen Welt! Niemand hört zu ... niemand kümmert sich um mich ... niemand liebt wirklich«, und ich werde unverständlich, auch mir selbst, und versinke einfach in Tränen und nicht endendes Leid.

Schließlich merke ich, daß ich mich ein wenig beruhige, und ich höre Les sehr ruhig fragen: »Wer ist nicht da...?«
»Niemand«, bricht es wieder aus mir hervor, und ich wiederhole dieses eine Wort mit zunehmender Intensität, als hätte ich mich daran festgebissen...
Les bleibt beharrlich: »Wer ist es, wer ist nicht da...?«

39


Ein Sturm entsetzlichen, grauenhaften, mörderischen Schmerzes steigt aus meinem Innern auf; höher und höher, und nichts kann ihn zurückhalten, bis er schließlich aus meiner Kehle in einer wahrhaft ungeheuerlichen Kette schneidender Schreie explodiert. Ich erinnere davon nur wenig, nur daß es endlos so weiterzugehen schien und daß mein ganzer Körper mit jeder Faser und jedem Nerv daran beteiligt zu sein schien, sich grotesk in Krämpfen wand und mit der Agonie pulste ... Am erstaunlichsten ist, daß ich mittendrin von einem wachsenden Bewußtsein erfaßt wurde, daß ich irgendwo im Innern gleichzeitig ruhig, sogar glücklich war und das Ganze mit einer gewissen »wissenschaftlichen« Neugier beobachtete, erstaunt über das unglaubliche Maß explosiver Kraft, das all die Jahre in meinem Organismus gesteckt haben mußte ... Ich hatte eindeutig das Empfinden, daß mein Schreien nicht nur aus der Kehle kam, sondern unmittelbar aus meinen Knochen, dem Gewebe und der Haut hervorbrach.... Mit der Zeit enthielten die Schreie mehr und mehr zusammenhängende Sätze. »Mami ... Mami ... wo warst du immer ... warum bist du nie, nie, nie zu mir gekommen ... hab mich lieb ... oh, bitte, hab mich lieb ... nimm mich in die Arme ... halt mich fest ...«

Kontrolle ist noch völlig unmöglich, mein Körper wird von hysterischen Schreien geschüttelt. Ich bin entsetzt über meine Unfähigkeit, die Intensität dieser Szene zu mäßigen, und frage mich, ob das wohl mein Ende sein wird.

Nach langer Zeit finde ich mich dort liegen, erschöpfter als ich es je für möglich gehalten hätte, und ich merke, wie mein Verstand allmählich wieder zu funktionieren beginnt, mit einer sonderbaren, nie gekannten, unglaublichen Klarheit ..... Ich beobachte das mit zunehmendem Erstaunen, als schaute ich zum ersten Mal in einen besonderen, geheimen, lang verborgenen Bereich meines Gehirns .... Leicht und schwerelos fließend entfaltet sich die wohlgeordnete, Schritt für Schritt zusammengetragene Erklärung über Wesen und Ursprung eines meiner stärksten Angstsyndrome! Ich bin so überrascht und erfreut, es ist wie ein Rausch ...... Mein Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen, und dann lache ich mit unglaublicher Erleichterung... »Was ist los?« will Les wissen. Ich stehe auf, weil ich jetzt einfach nicht stilliegen kann, und sage: »Les, plötzlich verstehe ich meine unerklärlichen Ängste vor Gruppen und meine ständige Einsamkeit und Niedergeschlagenheit ... Ich bin so überwältigt von einem neuen Gefühl von Verständnis und Einsicht, das sich in meinem Kopf zusammenbraut, daß ich kaum weiß, wo ich anfangen soll.«

40


Ermutigt durch Les fahre ich langsam und vorsichtig fort: »Noch vor wenigen Augenblicken habe ich mit jeder Faser meines Seins in verzweifeltem Verlangen nach meiner Mutter geschrien. Ich war mir meines Hierseins, hier auf dieser Couch, nur verschwommen bewußt ... Nein, ich war unmittelbar wieder zurück in meiner Kindheit ... Ihr Kommen erschien mir wirklich in jeder Beziehung als Frage von Leben oder Tod .... Aber diese widerliche, gefühllose, gleichgültige Frau kam nicht, sie kam nie, nie, nie. Selbstverständlich gab es viele Gründe dafür. Erwachsenen-Gründe, vernünftige Gründe, praktische Gründe .... Sie überschatteten mein unerträglich schmerzhaftes Verlangen nach ihrer Aufmerksamkeit..... Jedes Mal starb ich ein wenig, verlor etwas mehr Hoffnung, bis ich schließlich ganz aufhörte zu weinen. Um zu überleben, wurde ich ein braver Junge, meine wirklichen Bedürfnisse und Schmerzen drängte ich tief in mich hinein, so daß sie sogar vor mir selbst verborgen waren..... 

Mit dieser Vorstellung kämpfte ich mich durch meine frühe Kindheit, gefährlich über Schrecken und völliger Verzweiflung hinwegbalancierend. Ich schaffte das nur, weil ich irgendwo in mir noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hatte. Irgendwann, irgendwie würde später einmal ein Wunder geschehen und Erlösung kommen. Liebe, Zärtlichkeit, Fühlen, das Gefühl, gewollt zu sein, all das würde kommen . . . Tagträume, der kleine Junge fuhr fort, auf diese Dinge zu warten, und schrie innerlich nach Hilfe, Tag für Tag, und Jahr für Jahr, und äußerlich war das nur daran zu merken, daß ich immer und jederzeit bedrückt und traurig war... Alle Menschen rückten immer von mir ab, sie mieden ich, denn ich troff buchstäblich vor Traurigkeit und Einsamkeit...«

Das ersehnte Wunder trat natürlich nie ein, bis ich eines Tages die herrliche Wärme und das beglückende »Dazu­gehörigkeits­gefühl« in Menschen­mengen, im Gewühl der Masse entdeckte... Ich war auf der Stelle davon gefesselt, und mit Hingabe frönte ich diesem neuen Hobby, diesem neuen Zwang, mit wohliger Selbstaufgabe in die warme, kraftvolle, lebensprühende »Mutter-Masse« zu versinken. Mein unbewußtes Selbst muß in seiner animalischen Logik wohl argumentiert haben: Fleisch ist Fleisch, Haut ist Haut, und Gefühle sind Gefühle...

41


Ich hatte ein wirksames linderndes Mittel für meinen Schmerz gefunden, ein großartiges Beruhigungsmittel. Kein Heroinsüchtiger der Welt verlangte je verzweifelter nach einem neuen Trip, wie ich nach einem neuen Menschengewühl, einer neuen Parade, einem neuen Karnevalsumzug..... Ich war normalerweise auf einem phantastischen Trip, wenn die kopflose Masse aus meinem kleinen Körper beinahe das Leben herausquetschte, wenn sie mich hin- und herstieß und mich gegen warme, pochende weibliche Ärsche drückte, ich klammerte mich dann an diese großen, kräftigen, lebensvollen Körper, hingerissen und absolut ekstatisch..... Vielleicht waren die meisten dieser überhitzten und hysterischen Körper der Zuschauer aus den gleichen, unbewußten Bedürfnissen da, denn ich erinnere noch sehr deutlich einen Anklang begeisterter halb-sexueller »Gruppen-Beziehung« in diesen Menschenmassen, und das hatte mich nie auch nur im geringsten abgestoßen.....

Bis zu jenem bereits beschriebenen Vorfall in der Hohestraße..... Plötzlich erkannte ich die Bedeutung der fröhlichen, mitreißenden Marschmusik, die von dem Jubel kündete, jüdisches Blut von arischen Schwertern tropfen zu sehen. Plötzlich war mir mein Jüdischsein als wirkliche Tatsache bewußt. Ich wurde plötzlich von meinen fröhlichen »Spielgefährten« verstoßen, sie haßten mich. Auf dem Höhepunkt meines euphorischen Glücks durchzuckte die jähe Erkenntnis der Gefahr und der Dummheit meiner Täuschung mein zehn- oder zwölfjähriges Gehirn, unerwartet und mit unerträglicher Deutlichkeit.

Damals starb ich wirklich; was von meinem wahren Selbst übriggeblieben war, entzog sich für immer. Seitdem war ich mir selbst immer fremd . . . Oft habe ich seither in einen Spiegel geschaut und diesen traurigen, gequälten Fremdling angestarrt, nicht richtig wissend, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich schleppte mich einfach so dahin, mit der Lustlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit eines Verdammten . . . Wie ein Gammler in der Gosse habe ich gelegentlich um ein wenig Pseudoliebe gebettelt, ein wenig Pseudoglück erlebt oder mit anderen todkranken Menschen herumgesessen, kraftlos um etwas kämpfend, was keiner von uns zu geben hatte und was keiner von uns die Kraft zu nehmen hatte . . . 

Um meine Furcht, meine Ängste in Gruppensituationen? 
Schließlich hatte sich meine Sterbeszene in einer Gruppe abgespielt ... Und wer würde sich dem Tod des Verstoßenwerdens wieder und wieder aussetzen?

42


     Sabbat-Primal zu Hause    

 

Liebe Vivian, lieber Art,

von der »Gruppensitzung« im Institut zurück, brachte ich es kaum noch fertig, die Tür hinter mir zu schließen, und schon explodierte mein Gehirn. Ich falle halb auf den Boden, halb auf mein Bett, ohne den markerschütternden Schrei in meinem zerschlissenen, schmutzigen Kopfkissen ersticken zu können, und verfolge das Ganze mit tiefster Befremdung, denn noch wenige Sekunden zuvor fühlte ich mich gelassen, glaubte ich, über den Dingen zu stehen, — und plötzlich bin ich ohne jede Vorwarnung in Stücke zersplittert, der Kopf eine einzige große Wunde, der Körper windet sich unter Krämpfen, voller Entsetzen vor sich selbst, und eines meiner vielen abgespalteten, zerrütteten und befremdeten Selbst beobachtet das Ganze, versucht zu begreifen, fühlt sich aber so unglaublich dumm, verwirrt, weil es »verstehen« will, — doch da ist nichts als unerträglicher, qualvoller, animalischer Schmerz, so grauenhafter, so tödlicher Schmerz, daß ich jetzt wirklich sterben möchte, bitte, laß mich hier heraus, laß mich in die Erde versinken und von blinden, eilfertigen Würmern verschlungen werden, laß mich raus aus dieser Qual ..... und da kommt es wieder, während ich dies hier schreibe, warum ich diesen Scheiß hier schreibe, warum ich immer schreibe und nie etwas sage, schreibe, wenn niemand in der Nähe ist, mich dann heimlich und verstohlen, mit der Haltung »hoffentlich sieht mich niemand« zum Briefkasten schleiche, um Mami und Papi zu sagen, wie es schmerzt, wie sehr ich möchte, daß sie mir sagen, es sei in Ordnung zu leben, »ist ja gut, kleiner Junge, ist ja gut, wir bringen dich nicht um«, und trotzdem, nur um sicherzugehen, setze ich mein körperliches Selbst lieber nicht aufs Spiel, »es gilt, um jeden Preis zu überleben, wißt ihr«, aber ich werde es sie aus dieser »sicheren Entfernung« wissen lassen, ich werde es alle wissen lassen, wie ich hier in diesem Schweinestall herunterbrenne, in dieser Hölle, die das einzige ist, was ich je kennengelernt habe, oh, ich werde schreiben und schreiben und schreiben, bis das große Wunder geschieht und jemand kommt, ohne jeden besonderen Grund, einfach kommt und mich liebt als das, was ich bin, den unschuldigen, verstoßenen, hungrigen kleinen Jungen in mir, der seine Suche nach einem Weg hinaus in die Welt nicht aufgeben kann und will, der in all diesen vielen langen, langen Jahren nicht für eine Minute das Versprechen aufgegeben hat, daß er eines Tages leben, aus diesem Gefängnis ins Sonnenlicht gelangen wird ..... 

43


Noch immer auf dem Bett, aus einem plötzlichen Anfall scheinbar unerklärlicher Schmerzen kommend, fühle ich mich vor allem befremdet, was zum Teufel war das Ganze ... Ich habe ein solches Urerlebnis noch nie gehabt, ohne jegliches Thema, nichts als Qual und Schmerz und ein unerträgliches Gefühl allgemein fließender Frustration, bar jeglichen definierbaren Inhalts, und dann fällt mir die Haltung auf, in der ich nach all dem Hin- und Herwälzen und den unbändigen Krämpfen dieses intensiven Urerlebnisses hier liege ... 

Ich liege hauptsächlich auf dem Boden, nur mein Kopf ruht auf dem Bett, noch immer gegen das alte Kopfkissen gepreßt, und meine Hand hält die Bettkante umklammert, wie ein kleiner Junge, der noch zu klein ist, allein ins Bett zu kommen, es aber immer und immer wieder versucht ... Und plötzlich verkrampft sich in mir alles, ein Blitzschlag rüttelt mich auf und versetzt mich in eine verblüffende Wachheit, ich sehe ganz deutlich eine Szene, die in meinem Bewußtsein nie wieder aufgetaucht war, ich sehe mich glücklich und spielerisch auf die näher kommende große Gestalt meines Vaters zulaufen, begeistert und aufgeregt, um ihm irgendeine glückliche, kindliche Geschichte zu erzählen, und als ich ihn erreicht habe, stolpere ich gegen seine Knie, er, beiläufig und zutiefst mit irgendeiner »wichtigeren« Angelegenheit beschäftigt, greift herunter und schiebt mich beiseite, gegen das altmodische Sofa an der Türseite des Wohnzimmers, ich kann den ranzigen Ledergeruch des Sofas riechen, halb falle ich dagegen, meine kleinen Hände an der weichen Kante, mein Kopf dagegengepreßt, haargenau wie ich jetzt hier liege, und ich breche in verzweifeltes Schluchzen und bittere Tränen aus, ich fühle mich so dumm und entsetzt und hilflos, ich verstehe nicht, ich werde nie verstehen, warum mir nie, nie jemand zuhört, wenigstens ein Mal anhält und meine kleinen Geheimnisse und einfachen Kümmernisse und Fragen anhört, nur ein einziges Mal zuhört, sieht, daß ich hier bin, ich so klein, mit so großem Verlangen nach jemand, nach irgend jemand!!! Dann steckte ich wieder voll und ganz im Urerlebnis, jetzt hat es unmißverständliche Bedeutung. »Taate!« schreie ich in Jiddisch, und immer wieder, »Taate! Taate! Vater, Papi!!! Du herzloser, widerlicher, blinder, dummer Schweinekerl... Ich hasse dich, ich hasse dich, ich werde die Erinnerung an dich immer hassen, solange ich lebe! Du warst für mich damals so groß, du winziges, groteskes

44


Nichts von einem egoistischen, schrecklichen Tier. Alles, was du hättest tun müssen, wäre, mir ein paar Minuten deiner dämlichen Aufmerksamkeit zu schenken, und das hätte mich vor einer lebenslangen, brennenden, gnadenlosen Hölle bewahrt . . . Du und deine verdammte, konfuse, verwirrte, zänkische Frau .....! Was habt ihr mir angetan ... in welchem unmenschlichem Abschaum bin ich geboren worden!« Ich weine und schreie und ersticke fast vor Zorn und Erregung. Das geht weiter, bis ich keine Stimme und keine Kraft mehr habe, ich liege da wie ein nasser Lappen und ruhe mich aus und fange allmählich wieder an zu denken, und dann, als mir das Verständnis dämmert, setze ich mich hin ... ja, ja, ja, flüstre ich. das ist der grund ... Ich schreibe diese endlosen Briefe immer, weil all diese »Erwachsenen« offenbar keine Ohren hatten und mir nie, nie, nie zuhörten, deshalb schreibe ich, vielleicht können sie mich mit ihren Augen sehen, wenn sie mich mit ihren Ohren schon nicht hören können, und das ist der grund, warum ich so große Schwierigkeiten habe, in Gruppen zu reden, weil man mich doch nur beiseite schieben wird, es hat keinen Sinn, sie werden mich jedesmal töten, und das ist der grund, warum ich nicht aufhören kann zu sprechen, wenn jemand hilflos vor mir auf dem Boden liegt, eine Mami, ein Papi, das ist meine Chance gehört zu werden ..... oder am Telefon, »er wird es nicht wagen, einfach den Hörer aufzulegen«, oder irgendwo allein, wo sie zuhören »müssen«. 

Und schließlich stehe ich ganz auf und bin so glücklich, so unheimlich glücklich, daß ich glaube, ich drehe durch ..... Andererseits will ich Euch diesen Brief schreiben.

DAS wird ein dazu bringen zuzuhören!!! Ich liebe Euch! Was um Himmels willen geschieht mit mir! Die Sache ist, verdammt noch mal, ich weiß einfach nicht, wie ich das in Worte fassen soll, ich meine, was sich hier jetzt seit ungefähr sechs Stunden abspielt, das ist die wüsteste, frevelhafteste, unglaublichste Orgie, die je auf diesem verdammten Planeten oder vielleicht auf irgendeinem Planeten in irgendeiner Galaxis stattfand ...

Am Morgen wachte ich auf und ging rasch und ungeduldig durch mein übliches Gedankenritual, wie einsam ich war, wie verlassen, daß ich seit fünf Monaten nicht mehr gearbeitet hatte und kaum nochsachen besitze, die ich verkaufen kann, daß ich alt und gebrechlich, verkalkt und verbittert werde, und ich beschloß, jetzt ganze eineinhalb Dollar zu verprassen und im Pencake-Haus mit den miniberockten, dummdreisten Kellnerinnen zu frühstücken, und dann, ja, dann wollte ich verdammt noch mal ein paar Zigaretten rauchen, egal was, ich würde alles tun, alles, um diesem allmählichen Dahinsterben, diesen Schmerzen ein Ende zu setzen, um auf irgendeine Weise von mir selbst fortzukommen .....

45


Ich fuhr über den Sunset Boulevard. Hielt Ausschau nach den üblichen Bullen, die immer etwas finden, warum sie mir einen Strafzettel geben können, und die ganze Zeit hatte ich das nagende Gefühl, daß irgend etwas falsch sei... Ich brauchte fast den ganzen Weg, um herauszufinden, was zum Teufel das war. Allen Ernstes, es bedarf schon eines richtigen Schriftstellers, um das auch nur halbwegs verständlich zu beschreiben ..... Was »falsch« war, war, daß ich mich nicht kreuzelend fühlte, ich war nicht deprimiert (vielleicht zum erstenmal seit neunundvierzig Jahren), ja, ich fühlte mich fast, als hätte ich ein Recht zu leben, und als sei es völlig in Ordnung, diese Straße entlang zu fahren ..... Ich schaute mich um, und die Bäume waren einfach ganz ruhige und glückliche Bäume, und der Himmel war grau und wolkig, sah aber irgendwie in Ordnung aus ..... Ich dachte plötzlich, daß ich eine Schlankheitskur machen müßte, weil mein Bauch anfing, lächerlich auszusehen ... ich fühlte, wie er sich hervorwölbte, und dann wurde mir bewußt, daß ich ihn richtiggehend fühlte! Ebenso meine Zehen, meine Beine, meine Hüften und meine Brust, und mein Herz, das da drinnen vor sich hin schlug, und die Lungen, die im Sauerstoff schwelgten, als gebe es kein Morgen ... Ich schaute mich weiter um, inzwischen neugierig geworden, und die Umrisse der Dinge waren fast schmerzhaft klar, die Menschen schleppten sich dahin, mit haßerfüllten, sorgenvollen, verwirrten Augen, und die Ampeln blinkten geschäftig an und aus wie Marsmenschen auf Wache, und dann lachte ich wie ein Verrückter, ich konnte beim besten Willen nicht wieder aufhören, ich konnte mich einfach nicht an diesen neuen Zustand des Wachseins gewöhnen; währenddessen fuhr ich schnell am Pencake-Haus vorbei, froh, diesem ganzen Gift gerade noch rechtzeitig entkommen zu sein. 

Ich fuhr ganz bis zum Wilshire Boulevard runter, schaute und schaute und konnte nicht fassen, wie ich fühlte, vielleicht hatte mir irgend so ein Typ LSD untergejubelt, aber nein, ich fühlte mich phantastisch, als sei ich jemand, ich meine wirklich ein Mensch, homo sapiens in Erwartung des nächsten evolutionären Schrittes, und dann war ich wieder zu Hause, biß zum Frühstück in ein großes Stück Schweizerkäse und trank ein Glas Milch, die Milch schmeckte genau so wie früher bei meiner Mutter, dann legte ich ein Band auf, auf dem ich mal Bach, Sarasate und Tschaikowsky aufgenommen hatte, halb verrückt und von der köstlichen Milch nun tatsächlich vollends berauscht.

Ich stellte den Kassettenrekorder auf volle Lautstärke, und als die Musik einsetzt, flippe ich restlos aus, ich schreie und singe und lache, völlig außer Kontrolle, ich möchte die Wände hochsteigen, auf dem Kopf stehen, jemanden bumsen, einerlei wen, einerlei was, auch Sodaflaschen, Marmeladendosen und mittelgroße Schlüssellöcher, ich rolle über den Boden, springe auf und schalte das Fernsehgerät ein, nur um zu sehen, wie das mit Sarasate zusammengeht, dann gehe ich ins Bad und nehme die irrsinnigste, verrückteste Dusche meines Lebens, übermütig und ekstatisch stehe ich unter dem Wasser und gehe zurück, naß und nackend, ein nasser Affe, den ich mag, nein, den werde ich mir nie wieder entwischen lassen, ich liebe ihn, »Tschaikowsky«, brülle ich, »hörst du mich, du alter Scheißkerl, ich liiiiiebe mich!!!!!«, und so geht es weiter und weiter, auch nachdem die Musik bereits vorbei ist, und dann zittre ich etwas, weil ich weiß, das alles kann nicht wirklich sein, nach kaum mehr als zwei Monaten Therapie, und vermutlich habe ich noch ein ganzes Stück Wegs vor mir liegen, aber ich muß immer denken, wie sehr ich Euch beide für den Rest meines Lebens lieben werde und daß ich Euch jetzt auf der Stelle diesen Brief schreiben muß.

46-47

 #

 

 

www.detopia.de    ^^^^