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3  Bill, der Alkoholiker  

 

Janov 1972

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Lieber Arthur,

sechs oder acht Wochen sind vergangen, seit Sie mich gebeten haben, meine Reaktionen zu Papier zu bringen, die Reaktionen eines Alkoholikers auf die Primärtherapie. Mein Papierkorb quillt über von verworfenen Anfängen. Ich hatte gedacht, das sei eine einfache, leicht zu erledigende Aufgabe, aber irgendwie komme ich damit nicht zu Rande. Jedenfalls nicht in Form eines Berichts. Mein Versagen liegt nicht an mangelndem Bemühen, sondern eher an meinem Unvermögen, die wahren Berge von Emotionen, Gedanken und Eindrücken, die in meinen dreimal wöchentlichen primärtherapeutischen Sitzungen freiwerden, zusammenhängend und verständlich zu schildern. Der Mann, der heute morgen an meiner Schreibmaschine sitzt, ist ein anderer als der, der gestern dort saß. Die Aufzeichnungen von gestern sind durch mein gestriges Verständnis begrenzt, und die heutigen Aufzeichnungen werden morgen überholt sein.

Ich glaube, mein Fehler war, daß ich versucht habe, »mich neben mich zu stellen«, daß ich aus distanzierter, olympischer Sicht die endgültige, wissenschaftliche Arbeit über einen Alkoholiker schreiben wollte. Ich weiß, die Bibliotheken stehen voll, wenn nicht übervoll von derartigen Untersuchungen, aber ich war sicher, daß ich sie alle durch die Präzision meiner Beobachtungen und die Brillanz meiner Einsichten übertreffen könnte. Die olympische Sicht ist notgedrungen eine begrenzte Perspektive. Sie hat die Präzision und die klare Abgrenzung einer Photographie und ist ebenso beschränkt. Sie ist ohne Verstand und ohne Seele. Sie sieht keine wirklich ausschlaggebenden Details. Ein Photo von einem Kind, das »für die Kamera« lächelt, zeigt nicht die Striemen auf dem Rücken des Kindes, noch zeigt es das ungehaltene Gesicht des Photographen.

Was dann? Ich bringe Urerlebnisse zu Papier, so gut ich kann. Sie wurden mit Blutwärme und unter Tränen geschrieben. Ich fühlte Schmerz, während ich von Schmerz schrieb. Ich brauche meine Mami und meinen Papi, und ich weine, während ich diese Worte schreibe.

Ich habe einiges Material eingeschoben und einige Passagen der Verständlichkeit halber umgeschrieben. Ich hoffe, diese Seiten sind für Sie von Interesse. Ich glaube, daß allein das Schreiben mir schon geholfen hat.

In Dankbarkeit und Zuneigung
Bill


Autobiographische Notizen 

Ich bin einundfünfzig Jahre alt und jetzt im fünften Monat der Primärtherapie. Vor der Primärtherapie war ich bei einem Psychiater und fast acht Jahre bei einem Psychoanalytiker. Ich war zweimal wegen Alkoholismus im Krankenhaus. Vor achtzehn Jahren bin ich geschieden worden. Ich habe sowohl wissentlich wie auch unwissentlich durch Autounfälle Selbstmordversuche unternommen. Ich war unfähig, eine dauerhafte Beziehung zu einer Frau herzustellen, und habe meine sexuellen Bedürfnisse mit Frauen befriedigt, die ich in Bars aufgabelte. Bis ich mit der Primärtherapie begann, nahm ich tagtäglich Aspirin gegen Kopfschmerzen, Librium als Beruhigungsmittel, Tofranil als Antidepressivum und Chloralhydrat als Schlafmittel. Seit Beginn der Primärtherapie habe ich nicht auch nur ein einziges Mal so viel wie ein Aspirin genommen.

 

Eine erste Andeutung von Schmerz im Alter von sechs Monaten  

Ich wache auf, und ich bin allein. Mami? Ich drehe meinen Kopf, so weit ich kann, aber sie ist nicht da. Mami? Die Gerüche, die ich rieche, sind nicht die Gerüche meiner Mami. Mami? Meine Augen suchen an der Decke nach Mamis Gesichtszügen. Mami? Meine Ohren strengen sich an, um Mami zu hören. Mami? Mein Körper hungert nach Mamis Milch. Mami? Wie kann meine Mami fortgegangen sein? Mami? Ist sie nicht meine Mami, und sind wir nicht eins? Mami? Formen sich ihre Brustwarzen nicht nach meinen Lippen, so wie sich meine Lippen nach ihren Brustwarzen formen? Mami? Bin ich nicht ihr Hunger, so wie sie meine Nahrung ist? Mami? Schreit ihre Milch nicht nach mir, so wie ich nach ihrer Milch schreie? Mami? Verlangt es ihre Hand nicht nach mir, so wie es mich danach verlangt, von ihrer Hand berührt zu werden? 

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Mami? Sind wir nicht eins? Mami? Fühlt sie nicht den Schmerz, wenn ich Schmerz empfinde? Mami? Lacht sie nicht, wenn ich lächle? Mami? Wenn sie singt, höre ich das nicht? Mami? Habe ich nicht ihr Herz schlagen hören? Mami? Sind wir nicht ein und dasselbe Wesen? Mami? Sind wir nicht unzertrennlich? Sind wir nicht unteilbar? mami! mami! mami! mami! mami!

 

Schmerz im Alter von eineinhalb Jahren

Mein Kinderbett steht unter dem Fenster. Ich bin bei Morgengrauen vom Licht der aufgehenden Sonne wach geworden. Ich bin allein. Ich bin mutterseelenallein. Ich bin hier, und ich bin von meiner Mami getrennt. Meine Mami und ich, wir können uns nicht sehen. Ich schlafe in meinem Zimmer, und Mami und Papi schlafen in ihrem Zimmer. Ich schlafe allein, und ich bin einsam. Ich schlafe allein und habe niemand, den ich berühren kann, und niemand berührt mich. Mein Verlangen nach Körperkontakt tut mir weh. Ich würde vor Schmerz schreien, aber man hat mir gedroht, ich solle still sein . . . mir befohlen, still zu sein . . . mich abgerichtet, still zu sein. Ich öffne meinen Mund und stopfe ihn mit meinem Daumen. Warum hat man mich verbannt? Wie kann das sein? Was ist geschehen? Was habe ich falsch gemacht? Ich bin noch nicht so weit, daß ich allein sein kann. Allein sein ist, ein eigenständiger Mensch sein. Ich bin Teil meiner Mami, und meine Mami ist Teil von mir. Ich empfinde Schmerzen. Wenn meine Mami wüßte, was für Schmerzen ich habe, würde sie sich um mich kümmern. Sie würde mich mit ihren Händen berühren, und ich wäre glücklich.

Hingebungsvoll drücke ich meine Scheiße in die Windeln. Jetzt wird Mami kommen und meine Windeln wechseln. Ich werde ihre Berührung spüren. Meine Mami wird zu mir herabschauen und lachen. Meine Mami wird mir sagen, daß ich ein lieber kleiner Junge bin. Meine Mami und ich werden Zusammensein, und es wird keinen Schmerz mehr geben.

Ich stehe in meinem Kinderbett, die Hände am Gitter festgeklammert, und horche in die Stille hinein. Kein Laut von meiner Mami zu hören. Ich zittre in der Morgenkälte, und ich bin einsam. Ich weiß, meine Mami ist da draußen, ich weiß, wo ihr Zimmer ist. 

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Man muß durch meine Tür raus, dann den Flur entlang, vorbei am Wandschrank, am Badezimmer, und dann die nächste Tür öffnen, und das ist dann das Zimmer von meiner Mami, mit seinem großen Bett und dem Spiegel an der Schranktür. Mamis Bett ist immer warm. Ich horche. Ich höre nur Stille. Mamis Bett ist groß und warm. Mami und Papi liegen in dem Bett. Das Bett hat wunderbare Gerüche. Ich klettre über das Gitter vom Kinderbett und gleite auf den Boden. Ich werde Mami und Papi überraschen, und sie werden lachen. Ich kichere vor mich hin, während ich über den Flur auf ihre Tür zueile. Ich halte die Luft an, als ich ihre Tür öffne. Ich kann das sanft schnurrende Schnarchen von Papi und das gleichmäßige Ticken der Uhr hören. Ich gehe zum Fußende vom Bett. Ich kann den süßen, beruhigenden Duft meiner Mami und den etwas schärferen Geruch von meinem Papi riechen. Ich kann ihre Umrisse unter den Bettdecken sehen. Ich unterdrücke mein aufgeregtes Lachen. Hat es je einen herrlicheren Augenblick gegeben als diesen? Werden sie nicht überrascht sein? Werden wir nicht alle vereint sein? Werden wir uns nicht alle liebhaben?

Ich klettre auf das Bett und krabbele langsam und still zwischen ihren schlafenden Körpern hoch. Papis Schnarchen wird lauter. Jetzt kann ich Mami atmen hören. Ich schiebe die Decken beiseite, nur ein kleines bißchen, und lasse mich in den schmalen Spalt zwischen Mami und Papi gleiten. Die Wärme umgibt mich wie eine Umarmung. Das Gefühl der Sicherheit, des Heimkehrens ist berauschend. Ich habe das Zentrum des Universums gefunden. Ich schaue auf meine Mami. Ich fühle die Wärme aus ihrem Körper aufsteigen. Ihre Augen sind geschlossen, und sie atmet durch den Mund. Ich stecke meine Finger zwischen ihre Lippen. Meine Mami murmelt im Schlaf und schüttelt den Kopf. Ich lache und schubse meine Finger etwas höher, an Mamis Nase. »Billy, zum Donnerwetter!«

Ich lache laut los. Meine Mami ist wach, und jetzt werden wir uns liebhaben. Die offene, noch immer blutende Wunde der Trennung wird geheilt werden, und — aber meine Mami ergreift meine Hand und schlägt sie. »Mach das nie, nie wieder!« Ich beginne zu weinen. Mein Papi erwacht aus seinem Schlaf. »Was ist los?«
»Billy ist zu uns ins Bett gekommen.« 
»Hol ihn der Teufel!«

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Mein Papi sieht mich mit seinen verschlafenen Augen an, und ich schaue durch meine Tränen zu ihm zurück. Ich will, daß mein Papi mich liebt. Ich will, daß mein Papi mit seiner lauten Lache lacht und mich mit seinen großen Händen auf seiner Brust hält und mich seinen aufregenden, komischen Backenbart fühlen läßt. Mein Papi verzieht sein Gesicht und wendet sich von mir ab. »Himmel, was stinkt der. Schaff ihn hier raus!«

Meine Mami faßt mit ungeduldiger Bewegung nach meinen dreckigen Windeln.

»Billy, du bist ein böser Junge. Was ist los mit dir? Warum hast du nicht gewartet und bist aufs Töpfchen gegangen? Geh sofort in dein Bett zurück und bleib dort, bis wir dich rufen. Verstanden? Wenn ich auch nur ein einziges Wort von dir höre, dann setzt es was hinten drauf.«

Ich verlasse Mamis warmes Bett und gehe weinend in mein Zimmer zurück. Ich klettre in mein Bett, lege mich aber nicht hin. Ich steh da und starre die Tür an und halte mich am Gitter fest. Ich lutsche am Daumen und warte auf meine Mami.
Der Dreck in meinen Windeln verliert seine Körpertemperatur. Er wird unangenehm, kalt und feucht. 
Ich verstehe nichts.

 

Ich bin fünf und identifiziere den Feind

Ich bin allein. Ich bin zu Strafe auf mein Zimmer geschickt worden, weil ich mit den Töpfen und Pfannen gespielt und sie auf dem Küchenboden liegengelassen habe. Meine Mami sagt, ich bin ein böser Junge. Ich liege auf dem Rücken in meinem Bett und schaue zur Zimmerdecke. Ich versuche, in den Rissen an der Zimmerdecke ein Gesicht zu entdecken. Ich suche nach dem Gesicht meiner Mami. Meine Mami liebt mich nicht. Meine Mami hat mich bei den Schultern gepackt und mir mit der Rückseite einer Haarbürste den Hintern versohlt. Ich habe versucht, mich mit meinen Händen zu schützen, und jetzt tun mir die Finger weh. Ich möchte, daß meine Mami nett zu mir ist. Ich möchte, daß meine Mami mich liebt. Ich möchte, daß meine Mami mich behutsam berührt. Ich möchte, daß meine Mami den Schmerz wegmacht. Ich möchte, daß meine Mami mich auf ihren Schoß nimmt. Ich möchte, daß meine Mami mich in ihren

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Armen hält und mir sagt, daß ich gut rieche und daß sie mich mehr als alle anderen liebt. Ich möchte, daß meine Mami mir sagt, daß ich der beste kleine Junge auf der ganzen Welt bin. Aber meine Mami liebt mich nicht. Meine Mami sagt, ich bin ein böser, unordentlicher Junge. Der Feind bin ich.

 

Ich bin sechs, und mein Papi hält einen Mittagsschlaf

Wenn mein Papi seinen Mittagsschlaf hält, liegt er immer auf dem Sofa im Wohnzimmer, und ich muß dann leise sein. Mein Papi liegt auf dem Rücken, die Arme über der Brust verschränkt, mit offenem Mund, er schnarcht. Auf der Oberlippe hat er einen kurzen, braunen Schnurrbart, der pikst, wenn man ihn berührt. Ich sitze auf dem Fußboden, trage meine nagelneuen Schuhe und spiele mit einem blauen Luftballon, den ich im Schuhgeschäft bekommen habe. Auf dem Luftballon ist ein Bild von Buster Brown und seinem Hund. Wenn ich mit meinen Fingern über den Ballon reibe, quietscht es, also tu ich das nicht. Mein Papi hat mich schon einmal gewarnt. Ich habe Angst vor meinem Papi. Ich habe Angst vor seiner Wut und seiner Stärke. Wenn mein Papi mich schlägt, dann schlägt er, um wehzutun. Wenn mein Papi seinen Mittagsschlaf hält, beherrscht er mich allein durch den Klang seines stoßweisen, sanften Schnarchens. Ich bin mäuschenstill. Ich liege auf dem Rücken am Boden und stoße meinen Luftballon mit den Fingern immer in die Luft, so daß Buster Browns Gesicht über mir schwebt. Ich möchte, daß mein Papi mich liebt. Ich stoße fester gegen den Luftballon, und Buster Brown schwebt bis fast an die Decke. Ich möchte, daß Mami und Papi mich lieben. Der Luftballon gleitet wieder herunter. Diesmal treffe ich ihn nicht genau in der Mitte. Er fliegt zur Seite weg und stößt gegen den Metallständer. Mein Papi hört auf zu schnarchen. Ich schaue zu meinem Vater hin, gerade als auch er zu mir hersieht. Ich halte den Atem an. Mein Papi zeigt mit seinem wie eine Keule drohenden Finger auf mich.

»Schaff diesen verdammten Luftballon aus dem Zimmer!« Ich ergreife in aller Hast den Luftballon und eile aus dem Wohnzimmer. Ich gehe durch das kleine Vorzimmer, durch den Flur und die Treppen hinauf in mein Zimmer. Ich mache die Tür hinter mir zu. Ich bin in meiner Zufluchtstätte. Ich liege auf dem Rücken in meinem Bett und stoße den Luftballon in die Höhe.

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Buster Brown berührt die Decke mit einem Bums und schwebt wieder herunter. Ich stoße den Luftballon gegen die Wand, bums, und er kommt wieder zurück. Ich schlage ihn abwechselnd mal mit der einen, mal mit der anderen Hand. Buster Brown kommt immer wieder zu mir zurück. Aufwiedersehen, Guten Tag. Süßer Schmerz, süße Freude. Der Luftballon und ich setzen unser Spiel gegen die Wand fort.

Von unten höre ich einen Knall und dann die raschen Schritte meines Papis. Ich habe sofort Angst. Ich nehme meinen Luftballon in die Arme. Kann ich meinen Papi schon wieder gestört haben? Ich höre meinen Papi die Treppe heraullaufen. Kann er das Bums von meinem Luftballon gehört haben? Die Tür zu meinem Zimmer wird aufgerissen, und mein Papi tritt ein. Mit wutverzerrtem Gesicht. Ich stehe jetzt neben meinem Bett. Mein Papi ergreift den Luftballon mit der linken Hand und zerplatzt ihn. Mit der rechten Hand schlägt er mich an den Kopf, so daß ich zu Boden falle. Ich schaue zu meinem Papi auf, und mein Papi schaut zu mir herunter. Ich weine. Mein Papi versucht, seinen gerechten Zorn im Zaum zu halten. Seine Hände ballen sich zur Faust. Um seinen Mund arbeitet es. Seine Augen verengen sich. Ich schrecke zurück, weil ich Angst vor meinem Papi habe. Angst vor seinem Zorn, vor seinem Haß.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst still sein«, erklärt er. Mein Papi geht raus, läßt die Tür offenstehen, meine Zufluchtstätte ist zerstört. Ich höre seine Schritte die Treppe runtergehen, über den Flur, durch das kleine Vorzimmer und ins Wohnzimmer. Dann Stille. Mein Vater hält seinen Mittagsschlaf.

Nach einer Weile hebe ich die Fetzen des Luftballons vom Boden auf. Buster Brown ist nichts als ein kleiner Tintenfleck auf einem Stückchen Gummi. Auf zwei Stückchen Gummi. Mein Papi liebt mich nicht. Ich bin wieder böse gewesen, und er liebt mich nicht. Ich habe meinen Papi bei seinem Mittagsschlaf gestört, und er liebt mich nicht. Er liebt mich nicht, wegen all der bösen Sachen, die ich mache. Ich habe viele böse Sachen gemacht, von denen mein Papi überhaupt nichts weiß. Ich habe Kekse und Bonbons geklaut, ich hab mir Geld aus Mamis Portemonnaie genommen. Ich habe Sachen zerbrochen und sie dann versteckt. Wenn mein Papi von all den bösen Dingen wüßte, die ich mache, würde er mich kurz und klein schlagen. Er würde mich so schlagen, wie er Tuffy geschlagen hat, dann würde ich wimmern und hätte ein verletztes Auge.

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Ich möchte, daß mein Papi mich liebt. Ich möchte, daß mein Papi lächelt, wenn er mich sieht. Ich möchte keine Angst vor meinem Papi haben. Ich brauche meinen Papi. Ich möchte, daß mein Papi und ich Dinge gemeinsam machen. Ich möchte, daß mein Papi mit mir spazierengeht, damit Bud und Jim sehen und wissen, daß er mich liebt. Ich möchte, daß mein Papi mir zeigt, wie man einen Ball fängt, damit ich die Bälle nicht immer fallen lasse. Ich möchte, daß mein Papi mir zeigt, wie man mit einem Baseballschläger umgeht, damit ich den Ball eine Meile weit schlagen kann. Und ich möchte, daß mich mein Papi in den Arm nimmt. Ich möchte seinen Tabak riechen und seinen Backenbart anfassen. Ich möchte, daß mein Papi mir sagt, ich bin ein guter Junge. Ich möchte, daß mein Papi mir sagt, er liebt mich. Ich möchte, daß mein Papi mich an sich drückt. Ich will meinen Papi. Ich brauche meinen Papi. Lieber Gott, ich will und brauche meinen Papi.

Ich kann überhaupt noch nichts richtig machen, und wenn mein Papi mir nichts beibringt, wie werde ich dann je etwas können? Mein Papi bringt mir nichts bei, weil er mich nicht liebt. Er liebt mich nicht, weil ich böse bin. Ich bin sogar noch schlimmer, als mein Papi weiß. Wenn mich irgend jemand richtig kennenlernt, wird er herausfinden, daß ich böse bin, und wird mich nicht lieben. Ich bin kein liebenswerter Mensch. Ich bin ein böser Mensch. Ich hasse mich, und ich liebe meinen Papi.

 

Mein erstes Zeugnis

Als mir meine Lehrerin mein Zeugnis gab, lächelte sie und streichelte mir über den Kopf. Sie lächelte und sagte, sie würde mich für ein weiteres Schuljahr behalten, weil sie glaubte, das sei besser für mich. Dann gab sie mir ein Schreiben, das ich meiner Mami geben sollte. Ich weiß, daß meine Lehrerin mich liebt, und ich fühle mich bei ihr wohl und glücklich.

Ich gebe das Schreiben und das Zeugnis meiner Mami, und nachdem sie beides gelesen hat, schaut sie mit wütendem Gesicht zu mir herab. »Um Himmels willen, Billy, was ist bloß los mit dir?« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was sie meint. Den ganzen Nachmittag über spricht meine Mami nicht mit mir.

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Als mein Papi von der Arbeit kommt, macht meine Mami gerade das Abendessen. Ich sitze auf dem Fußboden in der Küche und spiele mit meiner kleinen Schwester. Meine Mami reicht meinem Papi das Zeugnis und sagt: »Er ist sitzengeblieben.« Mein Papi schaut auf das Zeugnis und sieht dann zu mir herunter. Um seinen Mund arbeitet es. »Was zum Teufel ist mit dir los?« Mein Papi greift mit beiden Händen nach mir, ich schrecke zurück. Meine Mami schaut mit schweigendem Interesse zu. Mein Papi packt mich bei den Oberarmen, hebt mich hoch und rammt mich in den Sitz von dem hohen Kinderstühlchen meiner kleinen Schwester. »Da, da gehörst du hin.« Dann geht mein Papi ins Wohnzimmer, um die Abendzeitung zu lesen.

Ich schaue meine Mami an, aber sie will nicht zu mir hersehen. Ich verstehe das alles nicht. Was habe ich falsch gemacht? Warum lieben mich Mami und Papi nicht? Ich sehe zu meiner kleinen Schwester auf den Boden hinunter. Sie lacht, als sie mich in dem hohen Stuhl sitzen sieht, und krabbelt auf mich zu. Ich liebe sie sehr und beginne zu weinen. Meine Mami sagt: »Oh, halt die Schnauze.« Ich klettre von dem hohen Stuhl herunter und fühle mich sehr beschämt. Ich habe ein solches Bedürfnis nach Liebe, daß es weh tut.

 

Ein Oberschulzeugnis

Es ist Montag morgen, vor dem Frühstück, und ich muß mein Zeugnis noch von meinem Papi unter­schreiben lassen. Ich habe zweimal ein C, ein D und in Französisch ein Ungenügend. Ich habe das Zeugnis noch keinem meiner Eltern gezeigt. Ich habe es nicht erwähnt. Das ganze Wochenende war ich zu Tode geängstigt. Ich habe versucht, mich abseits zu halten. Ich habe versucht, mich unsichtbar zu machen. Ich habe mich durch Masturbieren getröstet. Und auch deswegen schäme ich mich.

Meine Mami ist in der Küche und macht das Frühstück. Mein Papi ist in seinem Schlafzimmer und zieht sich an. Ich gehe zur Schlafzimmertür und bitte ihn, mein Zeugnis zu unterschreiben. Ohne ein Wort reißt er es mir aus der Hand. Er liest es, dann schlägt er mir mit der Faust auf den Unterkiefer, so daß ich umfalle. »Was zum Teufel ist los mit dir?« Weinend komme ich wieder auf die Beine. Ich sage ihm, daß ich es nicht weiß. »Sieh mich an!« brüllt er. Ich sehe ihn an. Um seinen Mund arbeitet es, ich kann seine Zähne sehen. 

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»Wir gehen jetzt in den Keller und kämpfen das aus, von Mann zu Mann.« Ich weigere mich. Ich sage meinem Papi, ich möchte nicht mit ihm kämpfen. Das Gesicht meines Papis ist verzerrt, die Augen sind voller Haß. Er schlägt mich wieder zu Boden. Ich habe Angst aufzustehen. Mein Papi sucht nach einer Ausrede, um mich umzubringen. Er befiehlt mir aufzustehen. Doch ich stehe nicht auf. Meine Mami kommt die Treppe hoch, um zu sehen, warum hier so ein Lärm ist. Mein Papi gibt ihr mein Zeugnis. Meine Mami liest es und sieht dann zu mir herab. »Was zum Teufel ist eigentlich los mit dir?« 

Ich sage ihr, ich weiß es nicht. Ich hasse meinen Papi. Mein Papi liebt mich nicht, und ich hasse ihn. Ich hasse ihn, weil er mir weh tut. Ich hasse ihn, weil ich böse bin. Ich hasse ihn, weil ich schwach und dumm bin. Ich hasse ihn, weil ich voller Haß und hassenswert bin. Ich hasse ihn, weil er mich dahin gebracht hat, mich selbst zu hassen. Ich hasse ihn, weil er mich von aller Liebe abgeschnitten hat. Ich hasse ihn, weil ich einen Papi brauche, der mich liebt, und er liebt mich nicht. Ich brauche einen Papi. Ich brauche Liebe. Bitte, Papi, liebe mich. Bitte sag mir, daß ich ein guter Junge bin! Bitte, nimm mich in deine Arme und hab mich lieb!

 

Mein erster Alkohol 

Ich bin achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Ich bin auf einer Picknick-Party, die für einen der Angestellten der Bank gegeben wird, bei der ich als Bote arbeite. Es ist eine Party, auf die sich jeder selbst etwas . zu trinken mitgebracht hat. Ich habe Coke mitgebracht. Nach einer Stunde wird beschlossen, daß wir von all den verschiedenen Getränken einen Punsch mixen. Bourbon, Scotch, Gin, Rum, Coke — alles, was da ist, wird in einem großen Topf zusammengeschüttet. Ich trinke aus einem Marmeladenglas. Es ist ein schauderhaftes Gesöff, das ekelhaft schmeckt und mir in der Kehle brennt. Ich würge es herunter. Meine Freunde lachen über mich. Ich trinke weiter. Nur um kein Spielverderber zu sein, um mitzumachen, um dabeizusein. Was für nette Freunde sind das doch. Wie gut. Wie klug. Wie hinreißend witzig. Und wie liebenswert von ihnen, mich zu dieser Party einzuladen. Ich fülle mein Glas nach. Welch zauberhafter Platz für ein Picknick! Welch herrlicher Tag! Wie warm es ist, wie grün das Gras, und wie glitzert der See! Und welch tolles Zeug dieses Getränk ist!

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Es wärmt die Seele und strahlt Licht in die finsteren Ecken, in den freudlosen Saustall meines Innenlebens. Ich lache. Ich mache Witze. Das ist Friede. Nichts schmerzt mehr. Die Grenzen meiner Wahrnehmung verengen sich, bis es schließlich nur noch diesen Picknickplatz gibt. Ich trinke weiter. Es gibt nichts als das Getränk und meine Freunde und die überwältigende Liebe, die ich für beide empfinde. Jetzt aufhören zu trinken? Nur ein Verrückter würde freiwillig riskieren, diesen gegenwärtigen Glückszustand mit der grauen Wirklichkeit zu vertauschen.

Je mehr ich trinke, um so stärker verengt sich mein Wahrnehmungsfeld. Der Picknickplatz verschwindet. Ich nehme nur noch die Freunde in meiner unmittelbaren Umgebung wahr. Sie tauchen in meinem Wahrnehmungsfeld auf und verschwinden wieder, bis sie plötzlich alle auf einmal fort sind, und ich alleine bin. Nur noch ich bin da. Ich habe keine Freunde. Ich werde weder geliebt noch geachtet. Ich werde verlacht. Ich bin wertlos. Ich bin der letzte Dreck. Ich bin voller Schmerz. Das ertrage ich einfach nicht mehr.

Ich schreie und renne auf einen Steg zu, der auf den See hinausführt. Ich laufe bis ans Ende vom Steg und springe ins Wasser, um mich zu ertränken. Ich schwimme auf die Mitte des Sees zu. Zwei meiner Freunde schwimmen hinter mir her und ziehen mich an den Strand. Ich übergebe mich widerstrebend in den Sand. Meine Freunde sehen mich halb mitleidig, halb verächtlich an. Ich verdecke mein Gesicht. Ich versuche zu sterben. Ich möchte, daß mich mein Wille tötet. Ich möchte das Nichts. Ich möchte vergessen. Ich möchte von mir getrennt sein. Ich möchte dem Ungeheuer, das ich geworden bin, Gewalt antun. Ich würde allein schon die Vorstellung von mir verstümmeln. Ich würde meine Seele umbringen.

Wenn ich sterbe, wird es Mami und Papi dann nicht leid tun? Wenn ich mich umbringe, werden sie dann nicht sehen, daß ich mich genauso hasse, wie sie es tun? Und wenn ich mich genauso hasse, wie sie es tun, können sie mich dann nicht ein ganz kleines bißchen lieben?

Hab mich lieb, Mami! Meine süße Mami, nimm mich in die Arme! Laß mich an deiner Brust saugen! Sieh mir in die Augen, wie ich dir in die Augen schaue! Laß mich deine Hände auf mir fühlen! Streichle mich, Mami, streichle mich! Sag mir, ich bin ein guter Junge! Sing mir etwas vor! Sing mir ein Liebeslied!

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Hab mich lieb, Papi! Sei stark, wo ich schwach bin! Sei klug, wo ich unwissend bin! Sei liebevoll! Segne mich, Papi! Hab mich lieb! Hilf mir, wie du Hilfe brauchst! Laß uns unser beider Schmerz lindern!

Mit dieser letzten Episode bin ich mit meiner Lebensgeschichte an einen Punkt gelangt, an dem sich der Hinweis auf meinen späteren Alkoholismus anbietet, und ausgerechnet an dieser Stelle breche ich meine Geschichte willkürlich ab. Ich hatte gehofft, meine Urerlebnisse zu Papier zu bringen, aber ich habe es nicht vermocht. Ich habe Ihnen das Rohmaterial meiner Urerlebnisse gegeben, doch sie sind ebensowenig Urerlebnisse, wie ein Stapel Holz ein Holzhaus ist. Was fehlt — wie Sie sicher schon lange bemerkt haben —, ist der Urschmerz. Ich weiß nicht, wie ich einen solchen Schmerz zu Papier bringen soll. Vielleicht haben Sie beim Lesen dieser Seiten selbst ein gewisses Maß von Urschmerz gefühlt, der Ihrem eigenen Speicher der Erinnerungen entstammt. Aber Ihr Schmerz kann mit dem meinen nicht ganz identisch sein. Er kann kleiner oder größer, keinesfalls aber identisch sein.

Was ist Urschmerz, was bewirkt er? Die folgenden Zeilen schrieb ich nach meiner vierten Sitzung der Einzeltherapie.

Plötzlich schluchze ich und bitte meine Eltern inständig, mir nicht weh zu tun. Genug. Ich ertrage nicht mehr. Helft mir, tut mir nicht weh! Ich ertrinke in nicht enden wollendem Schluchzen. Ein Schluchzen, das mich in die Höhe trug, das mich in liebevoller Besorgnis hin- und herschaukelte, und ich weinte und weinte, so wie ich jetzt weine, und als es schließlich vorüber war, weinte ich noch etwas weiter, und dann umgab mich ein Gefühl von Frieden. Ich bat Les um ein Taschentuch. Mein Körper war kraftlos, erschöpft. Meine Beine hatten eine eigenartige, aber bequeme Stellung eingenommen, die Beinhaltung eines schlafenden Kindes.

Sie können meinen Urschmerz nicht wirklich kennen, und ich den Ihren nicht. Wir können uns bestenfalls dahingehend einigen, daß Schmerz ein Fluch und ein Segen ist. Ihn zu erleben tut weh und heilt. Er heilt, das ist es. Ausmaß und Intensität des von Primärpatienten in einer Gruppensitzung erlebten Schmerzes sind erstaunlich. Der Schmerz wird zu einer greifbaren Substanz. Und er heilt. Wenn eine Sitzung beendet ist, spüren wir ihn in uns und in den anderen. Wie ruhig wir sind. Wie freundlich und liebevoll. Wir sind befriedet.

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Heilt die Primärtherapie Alkoholismus? Ich weiß es nicht. Ich habe beschlossen, daß ich nicht weiß, was ein Alkoholiker ist. Ich kenne die Standard-Definition: Ein Alkoholiker ist ein zwanghafter Trinker. Entsprechend dieser Definition bin ich ein Alkoholiker. Ich war jahrelang ein schwerer Trinker und war schließlich an dem Punkt angelangt, daß ich täglich gut einen Liter Wodka trank. Ich mußte ihn haben. Das war ein Zwang. Ich habe meine Gesundheit und meine Karriere ruiniert. Ich kam zweimal wegen Alkoholismus ins Krankenhaus. Ich habe im Delirium tremens gelegen. Ich wäre um ein Haar gestorben. Ich machte eine qualvolle Entziehungskur durch. Ein Jahr lang war ich abstinent und wurde dann wieder rückfällig. Innerhalb eines Monats war ich wieder bei einem Liter Wodka pro Tag angelangt. Wenige Monate später war ich wieder im Krankenhaus. Aber bin ich ein Alkoholiker?

Ich bin ein Mann, der Schmerz kennengelernt hat. Alkohol tötet Schmerz. Mich einen Alkoholiker zu nennen hieße, mich bei dem Namen meiner Medizin zu nennen. Mir lag nichts an dem Geschmack; es ist ein gräßliches Getränk. Ich hatte keine Freude an dem gesellschaftlichen Aspekt des Trinkens, ich trank normalerweise allein. Alkohol war meiner Karriere nicht zuträglich; wenn ich trank, konnte ich bei der Arbeit nicht vernünftig denken. Alkohol ist auch der körperlichen Verfassung nicht zuträglich; mich hätte der Alkohol beinahe umgebracht. Und doch hat er mein Leben gerettet.

Alkohol dämpft psychischen Schmerz. Er verwischt die Kanten der finsteren, eisigen Realität. Er betäubt die endlosen Schmerzen. Er verwandelt Bewußtsein in Schlaf und Schlaf in Nichts. Hätte ich das nicht in einer Schnapsflasche finden können, dann hätte ich es höchstwahrscheinlich in einem Pistolenlauf gefunden. Oder in dem Sprung von einem hohen Gebäude. Oder in völligem Wahnsinn. Auf irgendeine Art mußte ich meinem Schmerz entfliehen.

In der Primärtherapie bin ich meinem Schmerz gegenübergetreten. Ich habe den Kern meines Schmerzes durch das Vergrößerungsglas meiner Tränen erforscht. Und jetzt schmerzt er weniger. Ich bin dem Leben gegenüber offener. Ich habe den Mut, verletzlich zu sein. Ich habe den Mut zu lieben und zu riskieren, nicht wiedergeliebt zu werden. Und all das ohne Alkohol. Ich habe kein Verlangen nach alkoholischen Getränken. Ich mag jetzt keine verschwommenen Umrisse. Ich brauche kein Betäubungsmittel. Ich laufe dem Leben nicht mehr davon. Ich umarme es und freue mich daran.

Ich bin mir bewußt, daß ich in der Primärtherapie noch einen weiten Weg vor mir habe. Die Primärtherapie ist keine Blitzkur; sie ist eine Lebensweise. Sie beinhaltet, für Liebe und Lieben offen zu sein. Sie ist eine Lebensweise, die ich für den Rest meines Lebens beibehalten werde.

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