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7  Homosexualität  

 

Janov 1972

 

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Die folgenden Kapitel wurden von ehemaligen Homosexuellen geschrieben, beide Lehrer. Aus ihren Berichten geht deutlich hervor, daß es so etwas wie den »Homosexuellen« nicht gibt. Es gibt Menschen, die unter Schmerz stehen, die sie aufgrund gewisser Lebensumstände mit gleichgeschlechtlichen ausagieren. Sie unterdrücken Schmerz mit Sexualität, so wie der Heroinsüchtige sich Heroin spritzt. Beide leiden, wenn sie ihren »Stoff« nicht haben. 

Einige Menschen wissen um ihr Bedürfnis nach Liebe und verschaffen sich symbolisch Liebe, in Form homosexueller Akte. Andere leugnen das Bedürfnis nach Liebe, leiden, weil sie sich dafür kein Betätigungsfeld zugestehen, und müssen den Schmerz mit Drogen töten. In diesem Sinne könnte man sagen, daß Homosexualität ein Abwehrmechanismus gegen Sucht ist, und umgekehrt, daß Sucht ein Abwehrmechanismus gegen Homosexualität ist.

Was ist ein Homosexueller? Es ist ein Mensch, der Geschlechtsverkehr mit Gleichgeschlechtlichen hat oder zumindest haben möchte. Das hat, wie bereits in dem Kapitel »Warum es nur eine Heilmethode für psychische Krankheiten geben kann« erläutert, vielerlei Gründe. Bei Männern kann es ein verdrängtes Bedürfnis nach Vaterliebe oder Angst vor der Mutter (und später vor Frauen allgemein) sein. Bei Frauen kann es darauf zurückzuführen sein, daß sie nie eine warmherzige Mutter hatten oder daß sie Männer meiden aufgrund von Angst vor inzestuösen Gefühlen für den Vater (und später für Männer allgemein). Die Gründe für Homosexualität sind höchst persönlicher Art. Viele sind der Auffassung, Homosexualität sei hormonal bedingt. Aber warum sollte das Bedürfnis nach einem freundlichen Vater hormonal bedingt sein? Die Tatsache, daß das Fehlen eines Vaters eine homosexuelle Reaktion hervorruft, ist darin begründet, daß es für das Kind, dem nichts gegeben wurde, der einzig noch gangbare Weg war. Dieser Weg war »sicher«, so sonderbar das auch erscheinen mag. Eine frigide, männerhassende Mutter kann unbewußt wollen, daß ihr Sohn ein Mädchen sei.

Es ist möglich, daß sich das hormonale Gleichgewicht während der Schwangerschaft verschiebt, denn Progesteron-, Androgen- und Östrogenspiegel können sich aufgrund einer Neurose bei einer Schwangeren verändern. Das kann den Fötus in Mitleiden­schaft ziehen und dazu beitragen, Art und Weise, in der auf Umweltfaktoren (wie Fehlen des Vaters) reagiert wird.* 

Aber es ist nicht eine Ursache von Homosexualität. Bei einigen Fällen mag es ein mitwirkender Faktor sein; aber zu glauben, eine Störung des hormonalen Gleichgewichts bewirke Homosexualität, wäre ebenso unsinnig wie die Annahme, ein verdrängtes und nicht erkanntes Bedürfnis nach einem Vater — latente Homosexualität — sei hormonal bedingt. Oder was, wenn ein Mensch mit Tieren ausagiert? Das ist fraglos ein sexuelles Fehlverhalten. Könnte das ebenso hormonal begründet sein? Kaum. Die Tatsache, daß sich Homosexualität in der Primärtherapie als reversibel erwiesen hat, sollte uns veranlassen, die Auffassung von hormonal bedingter Homosexualität fallenzulassen. Es gab kürzlich eine Untersuchung Homosexueller, bei der sich Hör» monstörungen als ein Faktor herausstellten. Später, als körperlich Kranke getestet wurden, stellte man genau dieselben Störungen fest. Folglich können alle Menschen, deren Systeme »aus dem Lot« geraten sind, unter physiologischen Veränderungen leiden.

Ein Typus des männlichen Homosexuellen macht andere Männer zu »Papis« und agiert symbolisch aus, als seien sie die gesuchten Liebesobjekte — da der wirkliche Papi vielleicht unerreichbar war. Aber machen das nicht alle Neurotiker? Machen wir, um ein Beispiel zu nennen, nicht den Boß zum Vater und agieren unsere Angst vor ihm durch beschwichtigendes Verhalten aus? Ist das weniger pervertiert? Der symbolische Trip des Homosexuellen gilt der — jetzt sexualisierten — Erlangung von Liebe. Der nicht homosexuelle Neurotiker kann versuchen, von der gleichen Art Vaterfigur auf komplizierteren Wegen, etwa durch für ihn erbrachte Leistung, Liebe zu erlangen. Ob das Ausagieren sexuell ist, hängt von den jeweiligen Lebensumständen des Neurotikers ab; aber in keinem Falle sollten wir Homosexualität als ein besonderes Übel betrachten, nur weil es ein sexuelles Ausagieren ist und nicht eine der akzeptierteren Formen.

* Diesen Aspekt habe ich ausführlich in meinem Buch Das befreite Kind. Grundsätze einer primärtherapeutischen Erziehung, S. Fischer 1975, erörtert.

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Nicht nur einige Wissenschaftler glauben, Homosexualität sei ein natürlicher Zustand (in Einklang mit einer besonders gearteten Physiologie). Auch viele Homosexuelle glauben das. Es ist Teil des Credos der Emanzipationsbewegung der Homosexuellen. Sie sind in ihrer Pubertät ganz »natürlich« in die Homosexualität hineingewachsen, haben sich homosexuell »gut« angepaßt und sehen sich selbst nicht als neurotisch an. Sie können »gut angepaßt« sein. weil ihre Abwehrmechanismen funktionieren, wie jeder andere Mensch, der durch seine Abwehrmechanismen zusammen­gehalten wird. Homosexuelle, die sich in ihrem Zustand nicht wohl fühlen, begeben sich eher in Behandlung — weniger wegen ihrer Homosexualität, die sie als »gegeben« hinnehmen, sondern um von ihrer quälenden Anspannung befreit zu werden. Dabei handeln sie sich in der Primärtherapie die Beseitigung ihrer Homosexualität ein.

Aus oben Gesagtem folgt, daß es keine Experten für Homosexualität geben kann. Jeder Homosexuelle ist sein eigener Experte. Wenn er in der Primärtherapie zu fühlen beginnt, wird er das Geheimnis seiner Homosexualität enthüllen, wie es kein Psychiater je könnte. Mehr noch, es kann für kein psychisches Syndrom Experten geben.

Zum Beispiel: Eine lesbische Patientin hatte ein Geburtsprimal darüber, daß sie zu früh in die Welt gestoßen wurde. Dadurch war in ihr ein unbewußtes Gefühl entstanden, von ihrer Mutter fortgeschickt worden zu sein, noch ehe sie selbst dem gewachsen war. Während sie das Geburtstrauma wiedererlebte, klammerte sie sich verzweifelt an den warmen Körper ihrer Therapeutin. In diesem Augenblick erkannte sie mit aller Deutlichkeit, daß ihr homosexuelles Ausagieren zum Teil auf das Bedürfnis zurückzuführen war, sich bei der Geburt an ein weibliches Wesen (Mutter) zu klammern. Zu dieser Erkenntnis hätte auch der beste Therapeut niemals gelangen können.

Ein anderes Beispiel ist eine Lesbierin, die Weihnachten zu ihrer Mutter nach Hause fuhr. Im Verlauf des Nachmittags wurde sie unruhig und hatte ein verzweifeltes Bedürfnis, ihre Liebhaberin zu sehen. Sie hatte noch an dem selben Tag ein Urerlebnis, in dem sie fühlte, daß ihre Mutter sie niemals lieben würde und daß sie ein weibliches Wesen finden mußte, das sie lieben könnte.

Homosexualität ist jedenfalls kein sexuelles Fehlverhalten. Es ist das, was ein Mensch tut, der in seinem frühen Leben nicht ganz hatte er selbst sein dürfen. Der Homosexuelle hat ein sexuelles Betätigungsfeld zur Entladung gefunden, ähnlich wie der Clown eine komödiantische und der Intellektuelle eine intellektuelle Entladung findet.

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      ROGER      

 

Als ich mich vor sieben Monaten in die Primärtherapie begab, dachte ich, es werde einfach sein, den Schlüssel zu meiner Homosexualität zu finden. Doch das war nicht der Fall. Die Struktur dieses Abwehrverhaltens ist äußerst kompliziert. Wer glaubt, Menschen werden homosexuell geboren, der irrt, wenngleich er damit in meinem Falle von der Wahrheit nicht weit entfernt wäre. 

Die Grundlagen für dieses Abwehrverhalten wurden gelegt, als ich sechs Monate alt war. Aufgrund dieser Komplexität bin ich überzeugt, daß es kein allgemeingültiges Muster dafür gibt, warum einige Neurotiker ihre Abwehr homosexuell ausagieren, ebensowenig, wie es ein allgemeingültiges Muster dafür gibt, warum einige andere Neurotiker ihre Abwehr durch Rauchen, Trinken, Promiskuität oder zwanghaftes Essen ausagieren. 

Bevor ich mit der Primärtherapie begann, hatte ich Dutzende von »Einsichten« über die Gründe für meine Homosexualität. Jede gewonnene »Einsicht« stellte mich ungefähr ein halbes Jahr zufrieden. Sie änderten weder mein Verhalten, noch machten sie mein Leben leichter — nur verrückter. 

Als ich mit der Primärtherapie begann, hatte ich mich bereits überzeugt, ich sei kein reiner Homosexueller. Ich zog es vor zu sagen, ich sei bisexuell, mit einer starken Feindseligkeit gegenüber Frauen. Durch gelegentliches heterosexuelles Ausagieren konnte ich mich davon »überzeugen«, daß ich nicht wirklich »andersrum« sei. Alles, was ich zu Beginn meiner primärtherapeutischen Behandlung wirklich wußte, war, daß Sex, einerlei welcher Art, meinen Bedürfnissen nicht entsprach. Ein Orgasmus mit einer Frau war so intensiv, daß es schmerzte; Orgasmen mit Männern waren unbefriedigend — bereits zehn Minuten später war die Spannung wieder so stark, daß ich mich erneut auf die Suche nach einem anderen Partner machte.

Ich wurde vor vierunddreißig Jahren als Sohn irisch-katholischer Einwanderer in New York geboren. Neben meinem Zwillings­bruder hatte ich noch drei ältere Brüder. 

Als ich sechs Monate alt war, wurde meine Mutter wegen einer Tuberkulose in ein Sanatorium geschickt. Acht Monate lang, bis meine Mutter zurückkehrte, wurden wir Kinder von Pflegerinnen betreut. Weil meine Mutter Angst hatte, sie könne uns anstecken, vermied sie es peinlichst, uns anzufassen, und tat alles, um das Haus möglichst steril zu halten; zum Beispiel wurde stets alles Bettzeug und Geschirr gekocht. Sie war bis zu ihrem Tod, vierzehn Jahre später, Halbinvalidin.

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Nachdem meine Mutter aus dem Sanatorium entlassen worden war, zogen wir aufs Land. Mein Vater blieb in den folgenden acht Jahren in New York und besuchte uns gelegentlich zum Wochenende. Mein ältester Bruder Bill (neun Jahre älter als ich) versuchte die Vaterrolle zu übernehmen. In meinen ersten Urerlebnissen, in denen ich das Bedürfnis nach Papi zu fühlen begann, ersetzte meistens Bill meinen Vater. Eines Abends in einer Gruppensitzung fühlte ich mich von Jerry, meinem Therapeuten, sexuell sehr stark angezogen. Jerry arbeitete mit mir und half mir, mich ganz in dieses Gefühl hineinfallen zu lassen, und ich kehrte zurück in eine Zeit, in der ich mit Bill herumzuspielen pflegte. Ich wollte, daß er mich in die Arme nahm, daß er mich liebte. Ich wollte ihm einen »blasen« — ich wollte einfach alles tun, nur um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als ich tiefer in das Urerlebnis hineingeriet, schrie ich nicht mehr: »Bill, liebe mich!«, sondern: »Papi, liebe mich!«. Nachdem ich das gefühlt hatte, kam mir die Einsicht, daß ich mich bei meinem homosexuellen Ausagieren fast ausschließlich zu Männern hingezogen fühlte, die mich an Bill erinnerten — stark, supermaskulin und athletisch.

Meine Kindheit war ein rascher Übergang vom Kleinkind zur Verantwortung eines Erwachsenen. Mama, mit ihrer Krankheit beschäftigt, war unfähig, ihre Rolle als Haushaltsvorstand auszufüllen, und lehrte mich diese Pflichten zu übernehmen. Mit acht Jahren war ich verantwortlich für Kochen, Einkaufen, Haushaltskasse, Korrespondenz und für einen Großteil des Sauber­machens, Waschens und Bügelns. Das meiste davon tat ich gern. 

Mama sparte nicht mit Lob und Ermutigungen, um mich anzuspornen. Sie war krank, und mein Kreuz, als ihr braver, kleiner katholischer Junge, war es, all die Verantwortung auf mich nehmen zu müssen. Nachdem ich das eine ganze Zeitlang gemacht hatte, wurde offensichtlich, daß ich Mamas Mutter geworden war — ihr Werk, das ihre Bedürfnisse befriedigen sollte, da sie wirklich ein krankes, hilfloses, kleines Mädchen war.

Dadurch, daß ich eifrig damit beschäftigt war, diese Rolle auszufüllen, brauchte ich mein eigenes Bedürfnis, selbst bemuttert zu werden, nicht zu fühlen. Und diese Rolle hat sich in meinem Leben ständig wiederholt. Ich habe mein Collegestudium finanziert, indem ich als »Hausmutter« und Koch für eine Hausgemeinschaft von vierundzwanzig männlichen Studenten arbeitete. Später habe ich eine Frau geheiratet, die dem Haushalt völlig hilflos gegenüberstand, so daß ich ihn führen mußte.

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Mehrere Male lebte ich in Wohn­gemeinschaften mit Männern, die ich bemuttern konnte. Es macht mich traurig, zu sehen, wie verrückt mein Kampf war. Zu was für einem Hanswurst hat mich das gemacht! Und all das nur, damit ich meinen Schmerz nicht fühlen mußte.

Meine erste homosexuelle Erfahrung machte ich mit meinem Zwillingsbruder, lange vor der Pubertät; wir trennten uns, als ich im Alter von siebzehn Jahren auf ein College kam. Meine zweite Erfahrung machte ich mit einem Freund aus meiner Bruderschaft in meinem ersten Jahr im College. Seitdem hatte ich bis zum Beginn meiner primärtherapeutischen Behandlung einen regen und häufig wechselnden Geschlechtsverkehr. Es schien nie genügend Schwänze auf der Welt zu geben, um meinem Bedürfnis gerecht zu werden. Doch die ganze Zeit über hatte ich die Hoffnung, eines Tages werde ich den magischen einen finden, der mich befriedigte.

Als Siebenundzwanzigjähriger hatte ich mein erstes sexuelles Erlebnis mit einer Frau. Sie war zehn Jahre älter als ich. Das Verhältnis dauerte ein Jahr, in dem ich außerdem auch häufig homosexuelle Kontakte hatte.

Meine zweite heterosexuelle Erfahrung machte ich im Alter von zweiunddreißig Jahren. Sie endete in einer kurzen und katastrophalen Ehe. Beide Male hatte ich das Gefühl, gefangen und eingeengt zu sein. Sosehr ich weibliche Gesellschaft schätzte, so hatte ich doch immer eine entsetzliche Angst, sie könnten mir zu nahe kommen. Eine zufällige Berührung von einer Frau, ohne jede ersichtliche sexuelle Absicht, reichte aus, mich vor Angst erstarren zu lassen. Wenn ich mir körperliche Nähe erlaubte, so geschah das immer nur, um gegen die Angst anzukämpfen. Ich redete mir dann immer ein: »Ich habe gar nicht so große Angst!«

Nachdem ich zehn Wochen in der Primärtherapie war, begann ich ein sexuelles Verhältnis mit Barb. Sie ist dreißig Jahre alt und geschieden. Dieses Verhältnis verhalf mir zu einigen sehr wichtigen Einsichten und zu der Zuversicht, daß meine Sexualneurose sich auf dem Weg zur Besserung befand.

Jedesmal, wenn ich mit Barb schlief, hatte die Erregung in meinem Körper begonnen. Ich hatte nicht mehr, wie früher immer, das Bedürfnis, meinem Körper mit dem Kopf »zuzureden«, sich sexuell zu erregen. Meine homosexuellen Erlebnisse waren immer ein »Kopf-Trip« gewesen; die meisten, wenn auch nicht alle, meiner frühen heterosexuellen Erlebnisse ebenfalls.

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Viele meiner Orgasmen mit Barb haben unmittelbar zu Urerlebnissen geführt. Und aus diesen Urerlebnissen kommen die Einsichten. Während ich »komme«, beginne ich zu schreien: »Mama, Mama«, und ich werde das Kind, das nach der Liebe und Zärtlichkeit weint, die ich nie erhalten habe. Diese Urerlebnisse haben mich erkennen lassen, daß ich Frauen nie gehaßt habe. Mein Bedürfnis nach ihnen war zu stark. Meine Angst, sie könnten mir zu nahe kommen, war in Wirklichkeit nichts anderes als die Angst, ich könnte ihnen zu nahe kommen und müßte dann den Schmerz fühlen, meine Mama zu brauchen. Kurz gesagt, ich war ein latenter Heterosexueller. Als Erwachsener hatte ich selbstverständlich Bedürfnis nach sexueller Spannungsabfuhr. Sie mit Männern zu erreichen war einfach weniger schmerzhaft als mit Frauen. Gleichzeitig befriedigte ich dadurch teilweise mein Bedürfnis nach dem Vater, für den ich buchstäblich Verrenkungen machen mußte, um überhaupt von ihm beachtet zu werden. Einmal erlebte ich die Zeit wieder, als ich betteln mußte, um von ihm auch nur einen Groschen für eine Eiswaffel zu bekommen — und ich habe gebettelt. In meinem späteren Leben habe ich mich sexuell erniedrigt, indem ich auf die Knie gegangen bin und an Penissen gesaugt habe. Vielleicht würde mir Papi dann Aufmerksamkeit schenken.

Mein Leben lang habe ich mich wegen meines Penis geschämt. Ich hatte immer das Gefühl, er sei zu klein und unzureichend. Selbst nachts konnte ich nicht schlafen, ohne eine Bettdecke über mich zu legen. In nicht erigiertem Zustand, dachte ich manchmal, würde er vollends verschwinden. Erigiert ist er überdurchschnittlich groß, aber ich wollte ihn auch in nicht erigiertem Zustand überdurchschnittlich groß haben, vor allem, wenn ich in einer homosexuellen Welt konkurrieren wollte. Mir ist inzwischen klar, daß meine Mutter keinen Jungen wollte — sie wollte ein geschlechtsloses, engelhaftes Wesen.

In der Therapie erinnerte ich mich einmal an eine Szene, in der ich als kleiner Junge meine Mutter nackend gesehen hatte. Ich sah ihr Entsetzen und ihre Scham. Das war ansteckend und griff auf mich über. Ich hatte dieses Ereignis vollkommen aus meinem Gedächtnis verbannt. Wie sie sich ihrer Sexualität schämte, so schämte ich mich der meinen. Sie mißbilligte immer das Interesse meines älteren Bruders. Ich verstand diese Hinweise und wurde die Heulsuse, die sie wollte. Doch es blieb genügend von dem realen sexuellen Ich übrig, auch wenn es sich unreal ausagierte, nämlich homosexuell. Und aus diesem Grunde gelang es meiner Mutter nicht, mich in das Seminar zu stecken, das aus mir den endgültig geschlechtslosen Priester machen sollte, den sie sich wünschte.

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Ich hatte immer Schwierigkeiten, um etwas zu bitten; um Liebe zu bitten, war mir unmöglich. Um etwas zu bekommen, mußte ich immer Umwege gehen. Wenn ich Andeutungen machte, vielleicht sahen andere dann mein Bedürfnis. Nicht das wirkliche Bedürfnis nach Liebe, das erkannte ich selbst nicht, aber irgendein symbolisches Bedürfnis, zum Beispiel ein Darlehen oder ein Kompliment, das das wirkliche Bedürfnis tarnte. Bitten beinhaltete unmittelbar das Risiko, nicht zu bekommen, und das wäre zu schmerzhaft. Um Liebe zu bitten, hätte meine Verletzlichkeit bloßgelegt, und dann wäre ich offen und ungeschützt gegenüber wirklichem Schmerz gewesen. Meine sexuellen Urerlebnisse, die damit beginnen, daß ich Mama bitte, mich zu lieben, enden meistens damit, daß ich Mama bitte, mir nicht weh zu tun.

Eines Nachts hatte ich ein Urerlebnis, in dem ich als Kleinkind im Kinderbettchen lag und mich eingeengt fühlte. Gleichzeitig mit diesem Gefühl fühlte ich auch das Bedürfnis nach meinem Papi. Der Schmerz, so verzweifelt zu wünschen und nicht zu bekommen, wurde fast unerträglich. Ich erkannte, daß ich im Sterben begriffen war. Mein Körper versuchte abzuschalten; wenn ich aufhören könnte zu atmen, würde ich den Schmerz, die Liebe meines Papis nicht zu bekommen, nicht fühlen müssen. An diesem Punkt meines Urerlebnisses dachte ich, ich stürbe, ich fühlte mich taub werden. Ich rollte mich in die pränatale Lage und steckte meine Finger in den Mund und begann daran zu lutschen. Das fühlte sich gut an. 

Am nächsten Abend in der Therapie fiel ich wieder in die Kleinkindszene zurück. Sie nahm jetzt eine neue Dimension an. Mein Nacken begann zu schmerzen. Als dieser Schmerz stärker wurde, merkte ich, daß mein Kopf zwischen zwei Gitterstäbe meines Kinderbettchens geklemmt war, und ich begann vor Schmerz und Angst laut zu schreien. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit erschien, kam mein Papi und befreite meinen Kopf aus dieser mißlichen Lage. Ich konnte seinen Zorn und Ärger über mich spüren; sein Gesichtsausdruck und die rauhe Art, wie er mit mir umging, waren unmißverständlich. Mehr als alles in der Welt wollte ich, daß er mich streichelte und mir versicherte, daß alles in Ordnung sei. Statt dessen bekam ich nichts als seinen Zorn. Und wieder war mein einziger Schutz, mich in die pränatale Haltung zusammen­zurollen und an meinen Fingern zu lutschen.

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Als ich aus diesem Urerlebnis wieder zurückkehrte, war ich von Einsichten überflutet. Sobald mich in meinem späteren Leben etwas dem Gefühl, die Liebe meines Papis nicht zu bekommen, und dem damit verbundenen Schmerz nahebrachte, hatte ich das zwanghafte Verlangen zu lutschen oder zu saugen. Ob es eine Zigarette, etwas zu essen oder ein Schwanz war, spielte keine Rolle - all diese Dinge fühlten sich gut an. Sie alle betäubten mich. Ich fühle mich inzwischen nicht länger gezwungen zu rauchen, übermäßig zu essen oder an Penissen zu saugen. Wenn der Schmerz aufsteigt, fühle ich ihn lieber, als daß ich ihn ausagiere. Heute ist ein Mann für mich nur noch ein Mann — nicht ein Symbol für jemanden, der etwas hat, kein Penis, mit Hilfe dessen ich mich besser »fühle«.

An jenem Abend schrieb ich in mein Tagebuch: »Heute wurde mir klar, daß die Hölle hier auf Erden in mir selbst ist. Dadurch, daß sie mir als Kleinkind nicht gaben, was ich am dringendsten brauchte — nämlich ihre Liebe —, haben Mama und Papi in mir die lebende Hölle entfacht, den Kampf, dieses Bedürfnis nicht zu fühlen. Es ist, als hätten sie die Tore der Hölle in mir verschlossen und dann den Schlüssel fortgeworfen. Erst durch die Primärtherapie wurden die Tore wieder aufgeschlossen, so daß mein wirkliches Ich zum Vorschein kommen konnte. Ich kann nicht länger ihre nette, angstverzerrte, neutrale, deprimierte, einfältige, kleine, unnatürliche Schachfigur sein. Ich bin der, der ich bin, weder euphorisch noch niedergeschlagen, ich existiere einfach — denn das ist alles, was ist.«

Das klingt alles so einfach. Und es zu fühlen, ist tatsächlich so einfach: »Ich brauche ihre Liebe.« Da zu sein, dieses unglaubliche Verlangen zu fühlen, ist eine solche Erleichterung. Dort hinzugelangen ist ein so schmerzvoller Kampf. Manchmal würde ich lieber wahnsinnig werden, als dieses Gefühl zu fühlen. Und warum nicht? Denn das ist, was ich mein Leben lang gemacht habe — kämpfen, um das Gefühl zu umgehen. Als Erwachsener kann ich mit dem Gefühl fertigwerden. Als Kind wäre ich gestorben. Ich weine selbst jetzt beim Schreiben, weil mir so bewußt ist, welch Alptraum mein Leben war, wo sie es so schön hätten machen können. Nur ein bißchen Liebe — »Mama und Papi, war das wirklich zuviel verlangt?«

Das Bedürfnis, den Wunsch nicht zu fühlen, liegt aller Homosexualität zugrunde — und aller neurotischen Abwehr.

 

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TIM

Ich heiße Tim. Ich wurde vor dreiunddreißig Jahren in der Great-Lake-Gegend geboren. Ich habe zwei ältere Brüder und eine ältere Schwester. Mein ältester Bruder und meine Schwester sind Alkoholiker; meine Schwester war außerdem auch noch drogensüchtig. Beide saßen bereits im Gefängnis. Mein anderer Bruder war mehrere Jahre Trappist; er hat einen College-Abschluß. Seit seiner Collegezeit hat er meistens als Ausgeflippter im Untergrund gelebt.

Meine Eltern waren Halb- beziehungsweise Vollwaisen. Ihre emotionalen Entbehrungen sind für den aufmerksamen Beobachter offensichtlich. Mein Vater arbeitete vierunddreißig Jahre als Zahntechniker. Meine Mutter war einfach Hausfrau.

Schon ehe ich in den Kindergarten kam, hatte ich das Gefühl, anders als andere Jungens zu sein. Ich dachte, es sei wichtiger, ein netter, ruhiger kleiner Junge zu sein, als laut und ausgelassen herumzutoben. Meine Eltern sagten oft, daß ich mich mit ganz alltäglichen kleinen Dingen beschäftigen und unterhalten konnte. Mein Lieblingsspiel war, mir mit einer Decke und einigen Stühlen meine eigene kleine Welt zu bauen.

Die Volksschule war für mich qualvoll, weil ich aufgrund mehrfacher Krankheit die vierte Klasse wiederholen mußte. In vieler Hinsicht entwickelte sich die Schule zu einer Verlängerung meines Elternhauses — ein Ort, an dem kleine Kinder getadelt wurden, wenn sie sich nicht wie Erwachsene verhielten. Lob wurde immer äußerst sparsam dosiert, während Tadel ständig als Druckmittel benutzt wurde, um bessere Leistungen und die Aufrechterhaltung einer tödlichen Gesellschaftsordnung zu erzielen. Es wurde alles von einem gigantischen Mischpult aus dirigiert.

In den letzten Jahren auf der Oberschule war ich ein liebenswerter Neurotiker. Ich hatte bescheidene Ansprüche; alles, was ich verlangte, war, daß man mich nicht schlug und daß ich nicht kämpfen mußte. Davon hatte ich zu Hause mehr als genug. Meine schulischen Leistungen lagen über dem Durchschnitt, wenn ich die Lehrer akzeptiert hatte, und darunter, wenn ich es mit strengen, hochgradig neurotischen Lehrern zu tun hatte.

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Meine College-Jahre begannen sehr erfolgreich. Ich nahm an einem Studenten-Austauschprogramm teil und lernte viele der »in-Leute« vom Campus und von der Geschäftswelt kennen. Meine Familie war verblüfft über meine Leistungen. Im ersten Jahr am College zog ich auf den Campus, weil sich meine Eltern mit meinem späten Nachhausekommen und meinen Freundinnen nicht abfinden konnten. Damals hatte ich zum erstenmal Angst, ich sei vielleicht unfähig, eine vernünftige Beziehung zu einem Mädchen zu unterhalten. Ich begann in dem katholischen Newman-Center herum­zuhängen und mit dem Pfarrer über Religion zu diskutieren. Zur Messe gehen und beten vermochte meine Spannung nicht zu lösen. Schließlich gab ich, völlig erschöpft, einem homosexuellen Antrag nach. Allmählich glitt ich dann hinüber in die graue Zwielicht­zone des Nichterlebens und Nichtfühlens.

Das folgende beschreibt in Kurzform meine via Vaterersatz durch Ausagieren verwirklichte Unwirklichkeit. Schwul zu sein ist kein Zustand, der sich in wenigen, einfachen Sätzen zusammenfassen ließe. Es ist eine komplexe Konstellation von Nichtfühlen, Emotionen, Impulsen und Zwängen, zusammengewürfelt in Millionen verschiedener Kombinationen. Ich bin überzeugt, daß es ebenso viele Kombinationen wie Schwule gibt. Mit diesem Wissen fällt es mir etwas leichter, über meinen eigenen Zustand zu schreiben, weil ich weiß, daß ich meine Leser nicht in die Irre führen werde.

Schwul zu sein bedeutet für mich, ein Leben auf der Suche nach Schwänzen zu führen. Meine Suche begann in der Nacht, als mein Vater meine Schwester zusammenschlug, weil sie ihn einen Bastard genannt hatte. Ich war damals noch keine fünf Jahre alt. Ich wußte in diesem frühen Alter bereits, daß mein Vater in der Lage wäre, meine Schwester umzubringen, und daraus folgte, daß er in der Lage wäre, auch mich umzubringen, wenn ich nicht spurte. Der Papi, den ich geliebt und dem ich vertraut hatte, wurde plötzlich zu einem Ungeheuer aus einem Horrorfilm. Schlagartig war ich von Gefühlen der Unsicherheit, Machtlosigkeit und Willkür überschwemmt. Meine Mutter bot mir keinen Schutz; sie hatte in ihrem Umgang mit mir immer etwas Unberechen­bares. Ihre Bemerkungen standen immer im Widerspruch zu meinen kindlichen Gefühlen. »Sieh mich gefälligst nicht so an, oder es setzt was, dann hast du Grund zu weinen.« »Was willst du nun schon wieder? Immer willst du was.« »Was du brauchst, ist eine gehörige Tracht Prügel. Und die kann ich dir gern geben.«

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Diese Bemerkungen erscheinen mir heute völlig unverständlich, weil ich, soweit ich mich erinnern kann, als Kind auch nicht ein einziges Mal Schläge erhalten hatte. Grund dafür war, daß ich alles daransetzte, das brave Kind (der Junge oder das Mädchen) zu sein, das meine Eltern jeweils wollten.

Ich wurde zwar nie wie ein kleines Mädchen gekleidet, noch belohnte man mich, wenn ich mich wie ein kleines Mädchen benahm, doch durfte ich auch nie mit den anderen kleinen Jungens spielen, weil sie »böse« waren.

Meine Suche nach einem großen, starken Papi brachte mich zu meinem sechs Jahre älteren Bruder. Meine Eltern vergötterten ihn, beide behaupteten, er sei absolut typisch für ihren Zweig der Familie. Es dauerte nicht lange, bis ich begriffen hatte, daß ich vielleicht die gleiche Beachtung und Zuwendung erhalten könnte, wenn ich mehr wie er wäre. Mein Kampf, mich entsprechend dem Vorbild meines Bruders neu zu formen, begann, noch ehe ich in die zweite Klasse kam. Ich ließ mich bereitwillig von ihm ärgern, ich wetteiferte mit ihm — alles in der Hoffnung, eines Tages werde der magische Zauber auf mich überspringen und mich aus meiner elenden Lage befreien. 

Als ich meines Kampfes um die Aufmerksamkeit meiner Eltern müde wurde, entdeckte ich, daß mir mein Bruder mehr Zuneigung und Sicherheit gab als die Eltern. Bald war ich auf meinen Bruder fixiert. Ich wurde unleidlich, wenn er mich mit meinen Eltern allein zu Hause ließ. Ich wollte immer und überall bei ihm sein, selbst im Badezimmer. Ich bewunderte seinen athletisch gebauten Körper und seinen großen Schwanz und die Eier. Eines Tages sah ich ihn im Badezimmer masturbieren. Ich verstand damals noch nicht, was er da tat, aber ich wußte, daß ich mit seinem Schwanz spielen wollte und den seinen statt des meinen haben wollte. Später, als ich ein Teenager wurde, fühlte ich mich, verglichen mit meinem Bruder, auch weiterhin minderwertig. Ich war nicht athletisch, sah nicht so gut aus wie er, noch zog ich Leute an, die »in« waren. Ich fühlte mich vielmehr schwach, langweilig, unsicher und hatte vor neuen Erlebnissen fast immer Angst.

Als ich elf Jahre alt war, ging mein Bruder zur Marine. Das war, als liefe ein liebender Papi davon und überließ mich den Wölfen. Ich war todunglücklich, denn nun hatte ich niemanden mehr, der sich um mich kümmerte, der mit mir spielte und der mir die Zuneigung gab, die ich brauchte. Viele Jahre vergingen ohne meinen Bruder, denn gleich nachdem er von der Marine entlassen wurde, ging er in ein katholisches Kloster.

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Meinen Vater akzeptierte ich die ganze Zeit überhaupt nicht als liebende Figur. Ich verachtete ihn, weil er meine Schwester niederträchtig behandelte, weil er ständig wegen irgendwelcher Krankheiten jammerte und klagte, weil er ständig brüllte und sich unmöglich aufführte. Ich lehnte auch meine Mutter weiterhin ab, weil sie mich ständig vor die Frage stellte: »Auf wessen Seite stehst du? Entscheide dich jetzt auf der Stelle, wem gegenüber du dich loyal verhalten wirst!« Ich dachte oft, sie würde mein Essen vergiften. Ich habe mich oft geweigert, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen, weil ich dachte, sie wünsche meinen Tod. Ich wurde so unsicher und neurotisch, daß ich jeden Tag masturbierte, und ich hatte Orgasmen in meiner Hose, wenn meine Lehrer mit mir ungeduldig oder ärgerlich wurden.

Während ich auf der Oberschule war, hatte ich keinerlei sexuelle Kontakte. Ich fühlte mich Gleichaltrigen gegenüber so minder­wertig, daß es mir selbst im Traum nicht einmal eingefallen wäre, ein Mädchen oder einen Jungen zu berühren, sofern ich nicht ausdrücklich vom Lehrer dazu aufgefordert wurde. Mein Vater verstärkte mein Gefühl der Wertlosigkeit, indem er mich wissen ließ, daß ich ein »Versehen« und daß meine Geburt der Grund seines ganzen Elends sei. Er erzählte mir, er habe sich zwei Wochen nach meiner Geburt einer Vasektomie unterzogen, um weitere »Versehen« auszuschließen. Diese Mitteilung schaltete die letzte noch vorhandene Kommunikationsebene zwischen meinem Vater und mir aus. An jenem Tag starb ein wichtiger Teil meiner selbst. Diese Primärszene, die sich abspielte, als ich noch keine fünf Jahre alt war, erlebte ich wieder, als mein Vater meine Schwester zusammenschlug. Mir wurde klar, daß ich für meine beiden Eltern nichts als eine Last war.

Bis zu meinem ersten Jahr auf dem College hielt ich meine Bedürfnisse unter Kontrolle. Eines Tages dann starrte mich auf einer Studentenversammlung ein ausgesprochen sympathischer Typ recht auffällig an. Er erinnerte mich sehr an meinen Bruder. Er hatte den gleichen athletischen Körperbau, das gleiche offene Lächeln. Einige Tage später knüpfte er ein Gespräch mit mir an. Es dauerte nicht lange, bis er herausgefunden hatte, wie unsicher ich war, und wie sehr mir an ihm gelegen war. Noch am selben Tag hat er mir einen geblasen, in einer Telefonzelle im Studentenhaus. Mir gefiel das sehr, mir gefiel es, von ihm beachtet zu werden. Es war, als hätte ich einen großen, starken Papi, mit dem ich mich ringsherum wohl fühlte.

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Ich sah diesen Jungen noch einige Male auf dem Campus, und dann war er spurlos verschwunden. Mein Spannungsniveau begann rasch wieder in die Höhe zu schnellen und damit auch mein Bedürfnis nach einem neuen Trip — nach einem neuen Mann, einem neuen Vaterersatz. Wenn ich rückblickend auf all meine »Typen« schaue, erscheint es mir fast wie ein Rundgang durch ein Haus von Spiegeln. Alle Bilder haben etwas gemeinsam, aber alle sind sie leicht verzerrt. Die Männer, die mich angezogen hatten, waren ausnahmslos immer verzerrte Wiedergaben meines Bruders.

Nachdem ich mein College-Examen abgelegt hatte, begann ich zu unterrichten. Das Unterrichten war für mich ein Beruhigungs­mittel. Meine Schüler waren mein Publikum, das ich in der Hand hatte, sie waren mein »Trip«. Ich war allmächtig — ich konnte, wenn ich Noten verteilte, mit einem Strich meiner Feder über ihr Leben bestimmen. Bald schon konnte ich meine Bedürfnisse nicht mehr kontrollieren. Zunächst organisierte ich außerschulische Aktivitäten für meine Schüler, um meine Stunden des Alleinseins zu füllen. Ich mußte meine »Familie« ständig um mich haben, um mich zu vergewissern, daß ich gebraucht und geliebt wurde. Später wuchs mein Bedürfnis noch stärker an; ich stürzte mich auf Ausschußarbeiten und Curriculumplanung. Ich liebte es, meinen Namen gedruckt zu sehen, weil mich das vergewisserte, daß ich klug war und daß man mich in wichtigen Angelegenheiten nicht umgehen würde. Wie wahr ist doch die Redewendung der Schwulen: »Es gibt keine Schwerkraft, sondern die ganze Welt saugt.«

In dem gleichen Maße, wie mich meine berufliche Karriere zu neuen Höhen trug, wurde ich zunehmend unsicherer. Ich hatte eine Todesangst vor Leuten, die sich außerhalb meiner Einflußsphäre bewegten. Ich war ständig in Alarmbereitschaft, aus Angst, es könne mich jemand bloßstellen und den kleinen Jungen beziehungsweise das kleine Mädchen in mir entdecken.

Müde, erschöpft, von meinen Kämpfen ausgelaugt, wie ich war, griff ich schließlich zu Hasch, LSD, Meskalin und anderen ähnlichen Mitteln, um den Schmerz zu lindern und um wenigstens vorübergehend eine gewisse Erleichterung zu finden. Die Drogen brachten mich mit Leuten in Kontakt, die meine Bedürfnisse akzeptierten. Mit der Zeit begann ich, selbstmörderische Risiken auf mich zu nehmen. Einmal ging ich unter LSD, im vollen Rausch, zur Schule, spielte dort Klavier und leitete eine Schüler­aufführung vor mehreren hundert Eltern.

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Ich begann mit meinen Schülern zu haschen. Ich unterrichtete, während ich völlig »stoned« war. Meine Vorgesetzten zeigten Vertrauen in meine Fähigkeiten, indem sie mich mit weiteren zusätzlichen Aufgaben betrauten und mir die Verantwortung für wichtige Programmbereiche übertrugen.

Wochenends und in den Ferien pflegte ich auf wilde Sexgelage zu gehen. Mein Lieblingstreff waren das Y.M.C.A. und Dampfsaunen. Mir lag mindestens ebensoviel daran, anderen Leuten beim Geschlechts­verkehr zuzuschauen wie mich selbst daran zu beteiligen.

Meine Typen mußten alle überlebensgroß sein ... massiger Körperbau und große Schwänze. Schöne Schwule verabscheute ich, und ich mied deren Bars und Treffpunkte. Einmal war ich in der Dampfsauna so restlos stoned und so erschöpft vom Sex, daß ich unter der Dusche zusammenbrach und in den Ruheraum getragen werden mußte.

Etwa neun Wochen bevor ich mich in die Primärtherapie begab, beschloß ich, einen Arzt aufzusuchen. Ich nehme an, er hielt mich für einen völlig hoffnungslosen Fall, denn er gab mir ein zeitlich unbeschränktes Rezept für Phenobarbital — davon sollte ich viermal täglich nehmen. An einigen Tagen hatte ich das Gefühl, mehr einer wandelnden Leiche zu gleichen, als ein funktionierender Mensch zu sein.

Nachdem ich jetzt zehn Wochen in der Primärtherapie bin, befinde ich mich nun voll auf dem Weg zur Besserung. Ich hatte immer geglaubt, was ich brauchte, sei ein Geliebter oder eine Geliebte. Doch was ich wirklich brauchte, war die Liebe von Mami und Papi. Jetzt, nachdem mein Körper und Geist als ein Gesamtsystem funktionieren, öffnet sich mir eine ganz neue Welt. Heterosexuelle Erlebnisse empfinde ich als erfüllend. Mein Sehvermögen bessert sich, und meine Hände und Fuße sind gewachsen. Jetzt, nachdem ich von Drogen, Zigaretten und Alkohol los bin, fühle ich mich gesunder und lebensfroh. Mein Geschmack, was Musik, Kunst, Film, Literatur und Freunde anbelangt, hat sich gewandelt. Einkaufen zu gehen macht mir inzwischen richtig Spaß, weil ich mir jetzt die Ware anschaue und nicht mehr nur die Verkäufer als Sexualobjekt sehe.

Diese vielen Jahre vor der Primärtherapie habe ich als sexuelles Neutrum verbracht. Ich habe den Homo-Trip mit Männern ausagiert, aber es fehlte das Erleben. Jetzt habe ich eine Alternative zum Ausagieren meiner Kindheitsphantasie gefunden. Augenblicklich bin ich ein latenter Heterosexueller.

In der Therapie dorthin zu gelangen, wo ich jetzt bin, geschah nicht durch Elektroschocks, nicht durch Ausgehorchtwerden mittels kritischer Bemerkungen, nicht durch den Hinweis, ich müsse mich der Realität stellen und vernünftig sein. Mein Therapeut half mir, meinem Schmerz gegenüberzutreten, indem er freundlich war — ein Verhalten, gegen das ich keine Abwehrmechanismen habe.

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