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8  Heterosexuelle Perversionen 

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Janov 1972

 

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Es erscheint als begrifflicher Widerspruch, einen Heterosexuellen einen »perversen« Menschen zu nennen, doch man darf nicht den Fehler machen, heterosexuelle Akte mit Normalität gleichzusetzen. Normalität ist nicht die Frage eines »Aktes«, sondern die Frage der Natur und Qualität inneren Erlebens. Sonst müßte man einen Menschen, der normal handelt, als normal bezeichnen; dabei wissen wir, daß einige der gestörtesten Menschen die besten Akte vollführen können.

Der heterosexuelle Akt kann auf vielerlei Weise pervers sein. Ich weiß aus meiner klinischen Erfahrung, daß der latente männliche Homosexuelle dem wirklichen Sexualverkehr Cunnilingus vorzieht. Obwohl er mit einer Frau sexuell verkehrt, kann das Erlebnis das Vermeiden des genitalen Eindringens sein. Dieses Vermeiden kann vielerlei Gründe haben. Der Betreffende kann zum Beispiel symbolisch Inzest treiben, und das Nicht-Eindringen ist der Weg, den tabuisierten Akt zu vermeiden. Wir haben das häufig bei Männern mit verführerischen Müttern beobachten können. Diese Frauen haben ihre Söhne auf vielerlei Weise erregt (zum Beispiel, keine Unterhose tragen und die Beine spreizen, so daß der Sohn alles sehen kann) und haben dadurch eine Situation geschaffen, in der der inzwischen erwachsene Sohn sich von Mutterfiguren angezogen fühlt, ohne jedoch jemals sexuelle Beziehungen herzustellen, oder, wenn er es tut, impotent ist.

Der heterosexuelle Akt kann durch Phantasie pervertiert werden. Eine Frau kann sich bei jedem Sexualakt einbilden, sie habe den idealen Liebespartner gefunden, nur um sich hinterher jedesmal betrogen und enttäuscht zu fühlen, weil es nicht »Papi« war. Diese Frau mag in ihrer Phantasie den Mann dominieren, ihm den Penis wegnehmen und ihn für sich behalten — damit sie selbst der »starke Mann« sein kann. Eine Patientin hatte beim Geschlechtsakt immer dieselbe Phantasie, nämlich daß sie ihrem Partner den Penis fortnahm.

In ihrem Urerlebnis fühlte sie dann, was dahinter stand — sie wollte ihren Mann kastrieren, damit er nicht groß und stark sei und sie nicht verletze, wie es ihr Vater getan hatte. Das ist fraglos eine Pervertierung einer vermeintlichen Zweierbeziehung in der Liebe. Recht betrachtet ist der »Akt« nicht heterosexuell, auch wenn er als solcher erscheint. Ein homosexueller Patient zum Beispiel hatte, wenn er Männern »einen blies«, immer das Gefühl, er kastriere sie, indem er sie entkräftete — symbolisch entkräftete er seinen Vater und nahm ihm etwas von dessen Bedrohlichkeit. Er war zwar in einen homosexuellen »Akt« verwickelt, doch das, was er dabei erlebte, war etwas ganz anderes.

Kurz gesagt, »Erleben« ist nicht einfach etwas, was der Körper vollzieht. Es ist ein psychisch-physisch verknüpftes Geschehen. Abgeblockte Menschen können viele sexuelle Erlebnisse haben, ohne .etwas zu fühlen; das heißt, sie haben den sexuellen Akt nicht wirklich erlebt. Daher lernen Neurotiker nicht aus Erfahrung, weil sie nicht erleben. Erleben ist nicht, wo wir gewesen sind und was wir tun; es ist, was wir fühlen. Wenn ein Mensch nicht uneingeschränkt fühlen kann, muß er in irgendeiner Weise pervertiert sein. Er muß das Erlebnis im Dienste seines Bedürfnisses pervertieren. Folglich werden seine sexuellen Begegnungen nicht ganz normal sein. Seine Heterosexualität wird keine reine Heterosexualität sein. Sie ist vielmehr das Bestreben, ein Bedürfnis (nach Liebe) durch einen »Akt« zu erfüllen.

Ist es nicht eine Perversion eines lustvollen Aktes, wenn man beim Sexualakt Schmerz statt Lust empfindet? Wenn Sinneseindrücke, die an sich gute Gefühle auslösen sollten, tatsächlich schlechte Gefühle mit sich bringen? Eine Frau kann heterosexuell sein, oder versuchen, heterosexuell zu sein, und sich dennoch beim Sexualakt zurückgewiesen fühlen oder Schmerz empfinden. Das ist dann kaum als Heterosexualität zu bezeichnen.

Nur die Tatsache, daß ein Mensch Gefühle heterosexuell und nicht homosexuell ausagiert, macht ihn um nichts gesunder. Wenn er ausagiert, indem er versucht, die Wärme eines Elternteils symbolisch durch Sex zu erlangen, ist er nach wie vor neurotisch. Zufällig akzeptiert die Gesellschaft heterosexuelles »Macho«-verhalten. folglich neigen wir dazu, zu übersehen, daß es krankhaft ist. Bedauerlicherweise kann man, wenn man das Bedürfnis nach dem gleichgeschlechtlichen Elternteil ausagiert, ins Gefängnis kommen; wenn man hingegen das Bedürfnis nach dem andersgeschlechtlichen Elternteil ausagiert, kann man ein Held werden — das Namath-Syndrom.

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Wir sollten über das Anwachsen neurotischer Hetero­sexualität ebenso besorgt sein, wie wir es über neurotische Homosexualität sind. Beides sind Zeichen einer kranken Gesellschaft.

Wir müssen begreifen, daß Sexualität ein Gefühlserlebnis ist; daß es kein reines Sexualgefühl gibt, das getrennt von anderen Gefühlen existiert. Die Fähigkeit, überhaupt etwas zu fühlen, auch Lust, entscheidet, ob wir sexuell empfinden oder nicht. Die sexuelle Dimension ist offenbar etwas der Gefühlsbasis Hinzugefügtes, so wie Geschmack die zum guten Essen gehörende Dimension ist. Das heißt, Gefühle können wir sowohl verstandesmäßig wie körperlich unterscheiden. Wir sehen ein Sexualobjekt, fühlen uns erregt, bestimmte Hormone beginnen ihre Sekretion, und unser Verstand weist uns den Weg zu dem Brennpunkt dieser Erregung. 

Wenn wir normal aufwachsen, ohne ein übermäßiges Bedürfnis nach der Liebe des gleichgeschlechtlichen Elternteils und ohne übermäßige Angst vor dem andersgeschlechtlichen Elternteil, dann wird der Brennpunkt unserer Erregung heterosexuell sein. Wenn jedoch verzerrte Beziehungen zu den Eltern vorlagen, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen verlangten, bevor sie das Kind akzeptierten, dann werden diese Verzerrungen ihren Weg in die Sexualität finden, denn Sexualität ist Teil des gesamten Gefühlserlebens. Wenn ein Elternteil verlangt, ein Kind müsse »tot« und leblos sein, wenn es ohne Strafe und Tadel davonkommen solle, dann wird dieser Mensch mit großer Wahrscheinlichkeit in der Sexualität leblos sein.

Selbst die Wahl des heterosexuellen Partners ist bezeichnend. Ein Mann, der zu tief im »Macho«-Spiel steckt, der zu stark daran interessiert ist, der »große, starke Mann« zu sein, und dennoch das Verlangen nach väterlicher Liebe hat, kann eine Frau wählen, die im Grunde ein Mann ist. Auf diese Weise kann er behaupten, heterosexuell zu sein, während er eigentlich ein homosexuelles Erlebnis hat. Maskuline Frauen hingegen können aus dem gleichen Grund effeminierte Männer wählen. Das ist keine voll bewußte Wahl; das Bedürfnis treibt den Menschen vielmehr genau an jene Stellen, an die man sich begeben muß, um sich selbst zu erfüllen, unabhängig von dem, was der Verstand sagt. Wenn der Neurotiker versehentlich einen mehr oder weniger gesunden Menschen heiratet, wird er ihn so umformen müssen, daß er zu seiner Neurose paßt.

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Der gesunde Partner wird Teil einer Phantasie oder eines Spiels werden, das der neurotische Partner Tag für Tag, Jahr für Jahr spielen muß. Dieses Spiel ist eine Perversion, so pervers wie Homosexualität oder Exhibitionismus. Nur ist die Form der Perversion eine andere. Vielleicht wird der gesunde Partner vorgeben müssen, ein anderer zu sein, oder er muß sich herrisch und stark geben und dem neurotischen Partner Befehle erteilen.

Manchmal kann der Neurotiker diese Perversion für sich behalten. Er mag phantasieren und die Phantasie­vorstellungen während des Sexualaktes für sich behalten. Aber er ist trotzdem pervers, weil das Erlebnis pervertiert ist, auch wenn nach außen hin nichts geschieht, was auf eine Perversion schließen ließe.

Die Auffassung, Neurotikern sexuelle Techniken beizubringen, ist irrig, denn das Wissen, wohin man seine Hand legen und welche Körperhaltung und -position man einnehmen muß, kann das sexuelle Erlebnis selbst nicht ändern. Wir wissen, daß Primärgefühle unsere Träume, Tagträume und Phantasien bestimmen. Wir können den Körper mit Hilfe von Sex-Anleitungs­büchern alle möglichen richtigen Bewegungen ausführen lassen, doch die Primärgefühle bestimmen das geistige Erlebnis. Normale Menschen müssen in den seltensten Fällen Techniken erlernen, und wenn sie unter diesem Gesichtspunkt erlernt werden, sind sie für normale Menschen, die fühlen können, eine wirklich große Hilfe.

 

Die geheime Verrücktheit der Neurotiker 

Ein Fußballstar verläßt das Spielfeld und geht, um sich auf der Straße vor einem kleinen Mädchen zu entblößen. Ein Jurist trägt bei der Arbeit die Schlüpfer seiner Frau, während ein Soziologe ständig an den Schlüpfern seiner Freundin schnuppert. Ein Richter hat einen Schokoladentick und ißt bei Gericht täglich zehn Tafeln Schokolade. Ein gefeierter Schauspieler belästigt kleine Kinder; ein bekannter Geschäftsmann ändert seinen Namen, tritt zur Religion der Christian Science über und verweigert seine Zusage zu einer lebenswichtigen Operation seiner Tochter. Ein Lehrer geht nach Hause und masturbiert seinen Hund; ein Zahnarzt besteht auf einem weiblichen Zuschauer, wenn er mit seiner Frau schläft. Die Liste geheimer Verrücktheiten ist endlos. Alle oben genannten Fälle sind nicht frei erfunden, sie entsprechen Tatsachen.

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Ich glaube, daß es qua Definition in jedem Neurotiker irgendeine geheime Verrücktheit gibt — irgendeine verborgene Krankheit, die hervorbricht. Der Psychopath steht mit seiner Geisteskrankheit in der vordersten »Kampflinie«. Er kann sich nicht hinter einer guten, gesellschaftlich akzeptierten Fassade verbergen. Und genau das hat der Neurotiker gelernt; er agiert. Er agiert perfekt und unbewußt. Aber die früh verstümmelten Bedürfnisse und Impulse finden verschlungene Auswege. Und jeder dieser Wege hat eine spezifische Bedeutung. 

Der Schlüpferschnüffler erinnerte sich daran, daß seine Mutter den ganzen Tag arbeitete, ihre Kleidung und deren Gerüche waren die einzige Erinnerung an sie, an der er festhalten konnte. Er hatte keinen Vater, und verzweifelt wie er war, entwickelte er eine sogenannte »Perversion«. Der Fall des Richters war einfach. Er stammte aus einem strengen, religiösen Elternhaus, in dem alle weltlichen Vergnügen verboten waren. Darum gestand er sich später ein erlaubtes Vergnügen zu, das keine überwältigenden Schuldgefühle erwecken konnte. Der Exhibitionist fühlte sich als kleiner Junge, er versuchte, sich auf dem Fußballfeld als Mann zu behaupten, aber selbst diese Abwehr reichte nicht aus. Er mußte sich darüber hinaus auch vor kleinen Mädchen beweisen.

Perversionen haben immer vielschichtige Gründe; und nicht jede Perversion ist sexuell. Man kann die Eßgewohnheiten pervertieren und von morgens bis abends unentwegt Süßigkeiten essen. Der Organismus kann pervertiert sein, so daß er nicht mehr richtig funktioniert; hinter einer glatten Fassade kann sich im Innern eine schwere Kolitis verbergen. Wir können allgemein sagen, wenn ein Wertsystem (die elterliche Gehirnwäsche) nicht einmal das Hervorbrechen einer geheimen Verrücktheit zuläßt, dann wird die »Verrücktheit« tief im Innern bleiben und kann zu einer psychosomatischen Krankheit führen.

Der Neurotiker ist ein Perverser. Seine natürlichen Gefühle sind unterdrückt und pervertiert worden. Welche Form sie letztlich annehmen werden, ist aus primärtheoretischer Sicht von geringer Bedeutung.

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9. Über Nacktheit und Sexualität

 

 

Eine heute geläufige Methode ist die Nackt-Therapie. Ein Ziel dieser therapeutischen Methode ist die Befreiung von sexuellen Hemmungen. Dieses Ziel impliziert die Auffassung, daß es eine von vornherein gegebene Beziehung zwischen Nacktheit und Sexualität gibt. Die Tatsache, daß beides in einer Psychotherapie miteinander verbunden wird, spiegelt jedoch eher den Puritanismus der Therapie und des Therapeuten wider, als daß es ein Zeichen von Befreiung wäre. Man könnte durchaus anderer Meinung sein und sagen, Ziel der Nackt-Therapie sei — weit mehr als sexuelle Befreiung — vielleicht die totale Befreiung des eigenen Körpers. Aber wenn das das Ziel ist, warum ist es dann erforderlich, sich vor anderen auszuziehen? Warum kann man nicht nackt zu Hause herumtanzen und Freiheit erlangen? Offensichtlich ist das Ausschlaggebende die Tatsache, den eigenen Körper anderen Menschen zu zeigen.

Dem muß man entnehmen, daß es hilft, sich seines Körpers weniger zu schämen und folglich sexuell freier zu sein, wenn man seinen Körper in der Nackt-Therapie anderen Gruppenmitgliedern zeigt. Wir müssen uns noch einmal die primärtheoretische Grundthese in Erinnerung rufen: Probleme, die sich im Laufe vieler Jahre bilden, die auf frühen Erlebnissen beruhen, können nicht im Hier und Jetzt gelöst werden. Frigidität zum Beispiel ist das Endergebnis, ein Symptom von vielleicht Tausenden voraus­gegangener Erlebnisse. Diese Erlebnisse müssen nicht sexuell repressiv gewesen sein. Allein die Ausgelassenheit eines Kindes wieder und wieder zu dämpfen, reicht aus, das Kind gegen jegliche spontane Erregung zu verschließen.

Der Körper eines Neurotikers ist der Sarkophag für verdrängte Gefühle aller Art. Für einen Patienten bedeutete überhaupt etwas zu fühlen, den Schrecken drohenden Todes zu fühlen, nämlich von der Nabelschnur stranguliert zu werden. Anzunehmen, sich seiner Kleider zu entledigen, würde ihm helfen, sexuell zu fühlen, obwohl er sich bereits bei der Geburt abgeblockt hat, hieße, Sexualität unnötigerweise isoliert zu betrachten.

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Um ein sexuelles Symptom wie Frigidität oder Impotenz zu beheben, ist es erforderlich, die entscheidenden, diesen Symptomen zugrunde liegenden Gefühle aufzulösen. Darum muß Nacktheit im Rahmen einer Therapie immer auf Erfahrung beruhen — sie muß aus einem Gefühl fließen und darf kein mechanischer »Dreh« sein, den man aus dem Zusammenhang herausgelöst anwendet. In der Primärtherapie kommt es gelegentlich zu Nacktheit, aber diese Nacktheit ergibt sich aus einem bestimmten Gefühl, und in den meisten Fällen hat dieses Gefühl mit Sexualität wenig zu tun.

Zum Beispiel zog sich eine Frau aus, um ihren »fetten Arsch« zu zeigen. Sie wollte ihre »unannehmbaren Teile« zeigen, weil sie nicht mehr fühlte, geliebt zu werden hinge davon ab, einen vollkommenen Körper zu haben. Ein anderer Patient zog sich am Ende seiner Therapie aus und sagte: »Das ist alles, was von mir übriggeblieben ist, aber das bin ich. Ich habe keine Angst mehr vor mir, Mama.« Eine Frau entblößte ihre Brüste, während sie tief in einem Urerlebnis war. Sie schrie immer wieder: »Ich bin nicht Georg, Papi, ich bin Georgia. Ich kann nicht länger für dich ein Junge sein«. Sie hatte seit Beginn ihrer Pubertät ihre Brüste versteckt, aus Angst, die Liebe ihres Vaters zu verlieren — er wollte einen sportlichen Jungen.

Eine andere Frau hatte ein Urerlebnis darüber, daß sie ihre Brüste versteckte, seit sie vierzehn Jahre alt war, weil sie spürte, daß ihr Vater, der endlich ein Interesse für sie zu zeigen begann, im Grunde nur sexuell an ihr interessiert war. Sexlos zu sein, war ihre Art, ihren Vater dazu zu bewegen, sie väterlich zu lieben. Ein Mann brachte sich zur Erektion und brüllte »Es ist in Ordnung, Mama, es ist schon in Ordnung. Es ist nicht schmutzig, erregt zu sein. Ich bin nicht schlecht, Mama, ich bin ein Mensch.«

Wir sehen also, daß Nacktheit für jeden dieser Menschen eine besondere Bedeutung hatte. Und diese Bedeutung war immer historisch, nicht gegenwarts­bezogen. Diese Urerlebnisse allein haben die Körper der Betreffenden nicht befreit, noch haben sie ihre sexuellen Probleme gelöst. Nur zusammen mit vielen anderen gefühlsbefreienden therapeutischen Erlebnissen haben diese Nackt-Primals sie befreit. Sexuelles Fühlen ist Teil allgemeinen Fühlens. Es ist kein von einer allgemeinen Gefühlsfähigkeit getrennter und isolierter Bereich.

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Wichtig ist, daß diese Nackt-Primals auf nichts und niemanden im Hier und Jetzt bezogen waren. Sie wären genauso gewichtig und befreiend gewesen, wenn sie allein zu Hause erlebt worden wären. Nacktheit in der Primärtherapie war ein auslösender Mechanismus, um jene mit Nacktheit verbundenen Primär-Gefühle wiederzuerwecken. Nacktheit kann bei dem einen Menschen eine Erinnerung daran wiedererwecken, wie er als Säugling in Windeln gewickelt und dabei grob behandelt wurde. Für einen anderen kann sie das alte Gefühl freisetzen, ausgelacht zu werden, weil er zu Hause nackt herumlief. In puritanischen Familien gilt es oft als schändlich, den eigenen Körper zu zeigen. Das erste Mal, da man es offen darf, ist für manche der Sexualverkehr. Auf diese Weise wird der Körper aus einem natürlichen in ein rein sexuelles Objekt verwandelt. In einer eigenartigen Dialektik macht gerade sexuelle Verdrängung den Körper zu einem reinen Sexualobjekt, während sexuelle Freiheit ihm erlaubt, etwas Menschliches zu sein.

Normale Kinder, die in einer freien, nicht repressiven Umgebung aufwachsen, werden sich beim Anblick eines nackten Körpers nicht automatisch sexuell erregen. Ihre heterosexuellen Beziehungen werden sich eher zwischen zwei Menschen und weniger zwischen Teilen von Menschen abspielen. Sexualität wäre für sie eingebettet in eine Beziehung und nicht ein nebenher bestehender, isolierter Faktor. Sexualität wäre für sie menschlich statt antimenschlich, wie sie es für so viele Neurotiker ist.

Therapeutische Methoden, die sich allein auf den Körper konzentrieren — ob sie die Zurschaustellung des Körpers beinhalten oder Instruktionen für Sexualtechniken verabreichen —, erschweren das Problem, indem sie Sexualität isolieren und entmenschlichen. Denn Nacktheit kann bei einem Neurotiker nicht nur das Gegenteil von Befreiung bewirken, sondern die Abwehr­mechanismen noch zusätzlich verstärken. Das kann leicht eintreten, wenn das Entblößen als mechanische Geste ausgeführt wird, wobei Schamgefühle und Angst intensiviert werden. 

Innere Befreiung muß daher immer von innen nach außen fließen und nicht umgekehrt. Mit Nacktheit verbundene Urerlebnisse sind oft sehr komplex. Eine Frau zum Beispiel hatte während eines Primais ständig den Drang, sich auszuziehen, schreckte jedoch jedesmal davor zurück. Schließlich begann sie sich auf einer Sitzung doch zu entkleiden, und mit jedem Kleidungsstück, das sie auszog, weinte sie heftiger, bis sie schließlich völlig nackt war und in ein qualvolles, schmerzhaftes Urerlebnis geriet, in dem sie jammerte: »Papi, ich weiß, daß du mich nicht mögen wirst, wenn ich ein Mädchen bin, aber ich muß ich sein!«

Sich nackt zu zeigen, ließ sie die ganze Wucht seiner Ablehnung fühlen — etwas, das sie immer vermieden hatte, indem sie sich immer lange Hosen angezogen hatte. Was sie an diesem Tag von sich selbst zeigte, war nicht einfach ihr Körper — sie zeigte ihre Gefühle, und das war die Bedeutung davon, sich ihrem Vater zu zeigen.

Die Einsichten, zu denen dieses Urerlebnis führte, waren aufschlußreich. In ihrer vorhergegangenen Analyse hatte sie gelernt, daß sie unter Penisneid litt. Und sie wünschte sich in der Tat, einen Penis zu haben. Ihre Promiskuität beruhte darauf, daß sie einen Penis in sich haben wollte und dann phantasierte, er gehöre wirklich ihr. Aber dieser Penisneid war nicht basal. Sie fühlte in ihrem Urerlebnis, ein Mädchen zu sein, war gleichbedeutend damit, nicht geliebt zu werden. Irgendwie hatte sie früh in ihrem Leben die Folgerung gezogen, einen Penis zu haben (wie ihr »geliebter« Bruder einen hatte), bedeute, geliebt zu werden. Das als Kind erlebte Nichtgeliebtwerden schließlich zu fühlen, befreite sie von ihrem sogenannten Penisneid und letztlich auch von ihrer Frigidität — jedes sexuelle Erlebnis hatte sie vorher daran erinnert, daß sie war, was sie nicht sein wollte, nämlich ein Mädchen. Um sich geliebt zu fühlen, und sei es auch nur vorübergehend, mußte sie phantasieren, sie sei beim Sexualakt ein Junge.

Hätte diese Frau sich außerhalb dieses Gefühlszusammenhangs entkleidet, so wäre das fraglos eine bedeutungslose Übung gewesen, die sie bis zum Ende ihres Lebens hätte wiederholen können, ohne daß sich irgend etwas ändern würde.

Hinter all dem steht, daß man Sexualität nicht »lehren« kann. Man lehrt kein triebhaftes Verhalten — Säuglingen muß man nicht beibringen zu saugen. Sexuelle Probleme entstammen einer Verkümmerung der Natürlichkeit auf allen Gebieten. Und Natürlichkeit zu »lehren« ist oft lediglich eine Intensivierung des Verkümmerungs­prozesses.

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