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10  Über Perversion und Mord

 

Janov 1972

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Nahezu jeder aus einem Affekt heraus begangene Totschlag und nahezu jede Perversion ist ein eingekapseltes Urerlebnis. Die verleugneten Gefühle werden nicht gefühlt, sondern direkt und symbolisch ausagiert. Es sind Rituale, temporäre Stadien geistiger Unzurechnungsfähigkeit, in denen gegenwärtige Realität von aufsteigenden früheren Gefühlen überschwemmt wird. Bewußtsein ist abgeflacht, Unbewußtsein dominiert. 

Die Intensität des Zwanges oder des Rituals entspricht der Intensität des unbewußten Schmerzes. Der Zwang ist der Drang weg vom Fühlen, doch die dahinter stehende Energie ist das Gefühl selbst. Entsprechend wird das Bedürfnis eines Mannes, sich zu exhibieren, davon abhängen, wie stark seine Männlichkeit unterlaufen wurde, wie viele Betätigungsbereiche für männliche Aktivitäten (Sport, Sex, Kleidung) blockiert wurden und welche Ansprüche an das Kind gestellt wurden, »wie ein Mann« zu agieren. 

Wenn ein Junge von einem Elternteil seiner Männlichkeit beraubt wurde, während der andere »männliches« Erwachsenenverhalten verlangte, kann er später zu einem neurotischen Kompromiß gelangen, indem er versucht, seine Männlichkeit zu »zeigen«. Wenn der Junge zu »Mutters kleinem Engel« gemacht wurde, sexlos und passiv, dann wird er, die richtigen Umstände vorausgesetzt, den Drang entwickeln, seine Männlichkeit zu beweisen. Die Kraft hinter seinem Exhibitionismus ist die Realität seines Bedürfnisses, er selbst zu sein. Das zu sein, strebt jeder natürliche Organismus an. Einerlei wie das Leben das natürliche, reale Selbst pervertiert, der Drang, man selbst zu sein, wird vorhanden sein und das Zwangs­verhalten antreiben. Wäre dem nicht so, dann wäre »Mutters kleiner Engel« nichts als nur das, ohne jeden Schmerz oder ohne den Drang, sich zu exhibieren. Die Kraft ist demnach immer real, und die Intensität des Zwangsverhaltens hängt davon ab, wie weit ein Kind von seinen eigenen Realität entfernt worden ist.

Aus einem Affekt begangener Totschlag ist ebenso ein Ritual wie sexuelle Perversionen, nur daß die Kraft gewalttätige und nicht sexuelle Formen annimmt.

Ob sie gewalttätige oder sexuelle Formen annimmt, hängt von den Lebensumständen des Kindes ab. Wenn dem Kind alles versagt wird, wenn es geschlagen und gedemütigt wird, sich keinerlei Unartigkeiten erlauben darf, kann es durchaus einen Speicher von Wut ansammeln, der sich später gegenüber anderen Menschen entlädt — zum Beispiel Frauen strangulieren und gleichzeitig erniedrigen. Wenn das Kind andererseits von seiner Mutter auf subtile Weise verführt wurde, kann es homosexuell werden, um die inzestuöse Beziehung zu fliehen. Weil das wirkliche Gefühl unterdrückt ist, wird das Ritual in gewalttätiger wie in sexueller Form immer wieder ausagiert werden müssen. Und zwar weil das Ritual symbolisch und mit seinem wahren Ursprung nicht verknüpft ist. Darum auch ist Gefängnis bei Perversionen, welcher Art auch immer, nie eine Lösung. Um dem Problem ein Ende zu setzen, muß es mit dem ihm zugrunde liegenden primären Ursprung verknüpft werden.

Bei aus einem Affekt begangenen Totschlag spielt sich folgendes ab: Einem Menschen drängt sich eine Primärszene auf, die die ganze latente Kraft des Primärgefühls wiedererweckt, die ihn dann zum Ausagieren treibt. Zum Beispiel kann die Untreue einer Freundin eine unbewußte Erinnerung an die Mutter auslösen, die ihren Kindern gegenüber untreu war und sie im Stich ließ. Auch wenn die tatsächliche Erinnerung an die Szene unbewußt bleiben mag, werden überwältigende Gefühle freigesetzt, und das Ergebnis ist Totschlag. Der Mörder verliert sich in den Primärgefühlen, gegenwärtiges Bewußtsein verblaßt, und die Freundin-Mutter stirbt. Die Freundin war lediglich ein symbolischer Ersatz für eine Realität, der nie gegenübergetreten, die nie gefühlt und nie akzeptiert wurde.

Wenn wir den Akt des Totschlags von dem Geschehen ausklammerten und die Person behandelten, während diese Gefühle aufsteigen, würde sie in ein Urerlebnis geraten, anstatt ihre Gefühle zu externalisieren. Es kommt zum Mord, wenn die Person keine Ahnung hat, was sie fühlt; sie steht diesen überwältigenden Gefühlen hilflos gegenüber und fällt ihrem intensiven Druck zum Opfer.

Perversionen sind ihrer Natur nach nicht einfach sexuell. Der Sexualtrieb läßt sich nicht pervertieren, weil er rein bleibt. Pervertiert wird der Mensch selbst, um geliebt zu werden, und das sexuelle Ritual ist lediglich eine weitere Art, das zu zeigen. Ein Mensch kann nicht nur mit Ausnahme seines Sexualverhaltens völlig gesund sein.

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Sein Sexualverhalten drückt sein Problem nur vielleicht beredter aus als alles andere. Jemand, der sich innerlich versteifen muß, um sich überhaupt sexuell betätigen zu können, mag zu sagen versuchen: »Ich habe mich starr und unbeweglich gemacht, damit du mich liebst.« Oder: »Ich werde mich im voraus bestrafen, damit ich überhaupt Lust empfinde« — weil er in der Tat hatte kämpfen müssen, damit ihm im Elternhaus irgendwelche Vergnügen gewährt würden.

Die Perversion ist die genaue Botschaft. Sie muß nur von den Gefühlen des Betroffenen entziffert werden. Sie kann niemals von einem anderen entziffert werden. Die Gefühle bilden die Basis des ausgeklügelten symbolischen Rituals, und es ist müßig zu versuchen, die Bedeutung des Rituals zu entwirren, weil Gefühle das alles automatisch tun. Das ist leichter verständlich im Hinblick auf Träume. Die Symbolik ist dieselbe. Die Gefühle steigen auf, und in der Nacht wird eine Geschichte erdacht (und am Tage ausagiert). In beiden Fällen, im Traum wie in der Perversion, liegt ein Verlust an Realitätsbeherrschung zugunsten der Symbole vor.

Was nun aber ist der Unterschied zwischen jenen, die perverse Phantasien haben (und das ist die überwiegende Mehrheit der Menschen), und jenen, die sie ausagieren?  

Die meisten Perversen überlassen sich zunächst Phantasien, aber in dem Maße, wie sich Gefühle aufbauen, greifen sie mehr und mehr auf das Gesamtkörpersystem über, so daß der Kopf allein die Impulse nicht mehr kontrollieren kann und der ganze Körper generalisierend von ihm ergriffen wird. Der jeweilige Grad der Krankhaftigkeit wird demnach dadurch bestimmt, wie viele Bereiche des Menschen von dem zugrunde liegenden Bedürfnis betroffen sind. Viele Menschen haben Gewalttätigkeitsphantasien, doch nur wenige agieren sie restlos aus. Und diejenigen, die es tun, werden für geisteskrank erklärt, weil sie nicht unter Kontrolle haben, was die übrige Menschheit unter Kontrolle hat. Ihre Gefühle waren zu überwältigend. In einem dialektischen Prozeß stellen die Perversionen einen Zusammenbruch der Frontlinie neurotischer Abwehr dar und bringen den Menschen seinen Gefühlen näher. Darum lassen sich Perversionen relativ leicht behandeln, im Gegensatz zum phantasiebeherrschten Intellektuellen, der alles (seine Perversionen inbegriffen) im Kopf hat.

Vor einigen Jahren fand man einen Charakterdarsteller aus Hollywood erhängt in seinem Badezimmer. Er war über die Sechzig und stand in dem Ruf, ein kultivierter, humaner, intellektueller Mensch zu sein.

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Er hatte brillante Essays über Kunst und Politik geschrieben. Und doch hatte sich dieser Mann auf die absonderlichste Weise umbringen müssen — angekettet, mit Handschellen und in Frauenkleidern. Seine Intelligenz konnte sein Leben nicht retten. Ich bin überzeugt, er wußte, daß bei ihm eine Abweichung vorlag, doch trotz all seines Intellekts, trotz all seiner Vernunft war er unfähig, dem Einhalt zu gebieten.

Es war, als hätte er sein Bedürfnis all die Jahrzehnte über eingekapselt in sich herumgetragen, und da er seine Gefühle nicht zu fühlen vermochte, war er gezwungen, sich zu verrenken und zu verdrehen, bis er das bedürfniserfüllte Selbst schließlich tötete. Seine Perversion war von seinem Intellekt unbeeinflußt, so daß er, in dem Versuch, ein gewisses Maß an Befriedigung und Spannungserleichterung zu erlangen, gezwungen war, ein absonderliches Ritual ständig zu wiederholen. Das unreale, pervertierte, verdrehte Selbst wurde schließlich vorherrschend und allesbestimmend; und damit starb das reale Selbst.

Das ganze Leben des Neurotikers ist ein Ritual des Ringens um Liebe. Der Perverse hat das auf etwas Spezifisches eingeengt.

Der wahre gesellschaftliche Irrwitz liegt darin, wie wir Perverse und Gewalttäter behandeln. Wir stecken sie in ein Gefängnis — oder, wenn sie Glück haben, in eine Nervenheilanstalt. Dem liegt die magische Vorstellung zugrunde, daß der Betreffende nach fünf oder zehn Jahren Gefängnis seine Lektion gelernt haben und sich künftig richtig verhalten wird. 

In der Zeitung von heute steht die Geschichte von Bertram Greenberg, der wie ein »tollwütiger Hund« in der Wüste nieder­geschossen wurde, nachdem er ein kleines Mädchen vergewaltigt und umgebracht und drei weitere Mädchen ermordet hatte. Er war jahrelang immer wieder in Gefängnissen und Nervenheil­anstalten gewesen; schon früher hatte er wiederholt Gewalt­delikte begangen, und doch hieß es in dem letzten psychiatrischen Gutachten über ihn, sein Verhalten sei inzwischen »gut angepaßt«. Er war in psychotherapeutischer Gruppen- und Einzelbehandlung gewesen, hatte eine Gesprächstherapie mitgemacht, erhielt Unterstützung von Bewährungshelfern — einer der Bewährungshelfer hatte sich mit ihm gerade noch einen Tag, bevor er das kleine Mädchen umbrachte, getroffen. 

Der Fall Bertram Greenberg ist äußerst aufschlußreich: Die Neigung zu Gewalttätigkeiten oder zu sexuellen Perversionen läßt sich niemals dadurch beseitigen, daß man den Betreffenden einsperrt.

Solange die primären Rückkoppelungsschleifen existieren, muß es zu Rückfällen kommen. Und wenn es nicht zu einer Wiederholung des Deliktes oder des Verbrechens kommt, so ist das ein Zufall, oder günstige gesellschaftliche Umstände halten die Dinge vorübergehend im Schach. 

Nichts anderes wäre es, wenn wir einen Menschen mit chronischen Kopfschmerzen ins Gefängnis sperrten und dann erwarteten, die Kopfschmerzen kehrten nach seiner Entlassung nicht wieder. Ich bin überzeugt, die Primärtherapie hätte nicht nur Bertram Greenberg, sondern auch all seine tragischen Opfer retten können.

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11  Gewalttätigkeit und Fred der Mörder  

 

 

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Das folgende Kapitel wurde von einem Menschen geschrieben, der Gewalttätigkeit bestens kennt. Die meisten seiner Familien­mitglieder haben wegen Mordes im Gefängnis gesessen, und er hat eine Gefängnisstrafe wegen Beihilfe zum Mord verbüßt. Das Leben seiner Familie wurde verfilmt, und die von seiner Familie begangenen Verbrechen waren monatelang das Geschäft für die Illustrierten. Ich glaube, er besitzt alle Voraussetzungen, um über Gewalttätigkeit zu sprechen, und was er im Grunde sagt, ist nichts anderes, als daß Gewalttätigkeit daher kommt, daß einem selbst Gewalt angetan wurde — nicht einfach im Sinne von Schlägen und Prügel, sondern auf subtilere Art, wenn das Kind nie es selbst sein darf, wenn es sich nie sicher und beschützt fühlen darf. Seine ersten Urerlebnisse handelten von den offensichtlicheren Verletzungen (Peitschenhiebe) und gingen dann über zu subtileren, »psychischen« Verletzungen — zum Beispiel kämpfen zu müssen, obwohl er es nicht wollte, oder mit einer Vielzahl von »Vätern« zusammen­zuleben, die ihn nicht liebten.

 

  FRED   

 

Soweit ich zurückdenken kann, hat es in meinem Leben immer Gewalttätigkeit gegeben. Als ich zwei oder drei Jahre alt war, hatte meine Mutter mit einer anderen Frau eine Schlägerei. Sie rissen einander an den Haaren, schlugen sich, kratzten und kreischten. Meine Mutter fiel auf den Rücken, und die andere Frau lag auf ihr und schlug mit aller Kraft auf sie ein. Andere Leute setzten diesem Kampf ein Ende. Die Nase meiner Mutter blutete entsetzlich. Ich hatte Angst und weinte. Ich wollte nicht, daß meine Mami verletzt wurde. Ich wollte die andere Frau schlagen und verletzen, weil sie meiner Mami weh getan hatte. Später mußte ich oft für Mami kämpfen. Ich glaube, mein Bruder Dick hat zwei Menschen umgebracht, um nicht fühlen zu müssen, daß mein Vater ihn in Wirklichkeit haßte. Wütend sein ist für mich eine Sache des Überlebens.


Das Gegenteil von wütend sein ist passiv und unterwürfig sein. Papi wollte nie, daß ich wütend wurde. Das war etwas, was sie für sich reservierten. Es ist doch so, wenn du nicht wütend wirst, dann hast du ausgespielt. Die Leute beschimpfen dich, trampeln auf dir rum, machen dich lächerlich, betrügen dich, halten dich zum Narren; und mit so was, da verletzen sie dich. Es ist leichter, diese Sachen anderen anzutun, als den Schmerz zu fühlen, wenn sie es dir selbst antun. Wenn man fühlt, daß die einen für dumm, blöde und unfähig halten, dann ist das ähnlich schlimm. Wütend werden ist alles, was einem übrigbleibt.

Papi hat mir gesagt, daß ich ein böser Junge bin, und hat mich deshalb geschlagen. Er ist mir gegenüber immer gewalttätig gewesen. Dabei waren meine Ungezogenheiten niemals gewalttätig. Ich habe nie jemanden verletzt oder Schmerzen zugefügt. Er hatte beschlossen, mir Schmerz zuzufügen, und tat es auch.

Mein Paps kam nach Hause in die 4. Straße. Er klopfte an die Tür, und ich ging hin, um zu sehen, wer da war. Meine Mutter war gerade mit Sid oben, sie sagte, ich sollte die Tür nicht öffnen. Ich war damals noch keine fünf Jahre alt. Mami tat gerade irgendwas, was sie nicht sollte. Mein Paps rief mir durch den Briefschlitz zu: »Komm, Freddie, mein Junge, mach dem Papi die Tür auf.« Mami schrie: »Mach die Tür nicht auf!« Sid, der sich inzwischen wohl angezogen hatte, kam die Treppe runter und ging zur Hintertür raus. Mein Paps erwischte Sid, als er über den Gartenzaun steigen wollte, riß ihn zu Boden und schlug auf ihn ein. Ich sehe die Szene noch ganz genau vor mir, mein Papi sitzt jetzt auf Sid drauf, zieht sein Taschenmesser hervor und versucht es zu öffnen. In dem Augenblick schlägt meine Mutter meinen Papi auf den Kopf, ich glaube es war mit einer Sodaflasche. Alles weitere ist für mich dann irgendwie verschwommen.

Ich glaube, daß Menschen, die gewalttätig werden, ihren Schmerz ausdrücken oder etwas erleichtern. Die Frage, welche Form Gewalttätigkeit annimmt und gegen wen sie sich richtet, hängt unmittelbar von der Szene des ursprünglichen Schmerzes ab. Der Grund der Gewalttätigkeit (Mord ist gewalttätiger als Schlagen) könnte dem Maß an Schmerz entsprechen, den ein Mensch in sich trägt. Wer Möglichkeiten hat, einen Teil des Schmerzes loszuwerden, wird nicht so gewalttätig sein wie jemand, der das nicht kann. Mein Bruder Dick hat zwei Menschen getötet, und ich habe nie einen umgebracht.

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Woher der Unterschied — Glück? Umstände? Vielleicht habe ich gelegentlich etwas von meinem Schmerz loswerden können. Dick hatte gar keine Möglichkeit, irgendwelchen Scheiß auszudrücken. Er behielt es alles für sich, bis er krank genug war, um zu töten.

Die Person, mit der man sich anlegt, mit der man kämpft oder die man umbringt, ist nicht das eigentliche und beabsichtigte Opfer. Die Männer, die Dick umgebracht hat, waren nur Ersatzpersonen für Papi. Wenn du Papi umbringst, bist du frei. Er kann dir nicht weh tun, wenn er tot ist. Die wirkliche Tragik bei einem Mord ist, daß immer nur die falschen Menschen verurteilt werden. Ich hatte nie das Gefühl, daß Dick schuld hatte an dem, was er tat. Er war einfach ein kleiner Junge, der böse war. Es war Papi, der ihm beibrachte, wie man es macht, und Mami sagte ihm, daß er es tun darf. Da ich nicht genau weiß, warum Dick zum Mörder wurde und ich nicht, hätte genauso gut ich es sein können, der andere Leute umbrachte.

Ich war neunzehn oder zwanzig Jahre alt, als ich aus dem Gefängnis kam. Ich kaufte mir in einem Pfandleihhaus einen 38er Smith and Wessen-Revolver. Dieses Ding trug ich mit mir herum. Einmal habe ich Jules im Gefängnis besucht und ihm die Pistole gezeigt. Man stelle sich das vor, eine Pistole mit ins Gefängnis nehmen. Ich fühlte mich mit einer Pistole mächtiger und stärker. Ich hatte so große Angst, daß ich einfach etwas brauchte, was mich beschützte (mich vor Papi beschützte). 

Eines Abends, als ich mich ganz beschissen fühlte, steckte ich den Revolver ein und ging spazieren. Ich fühlte mich einsam, wütend, richtig beschissen. Mir war danach, jemand weh zu tun. Ich rempelte absichtlich die Leute auf der Straße an und starrte wütend auf alle, die mir entgegen kamen, und sagte mir im stillen: »Komm mir bloß nicht quer, leck mich am Arsch — eine dumme Bewegung, und ich blas dir deinen verdammten Kopf runter, ihr gottverdammten Schweine.« 

Ich hoffte, irgend jemand würde auf meine Provokationen reagieren; dann wollte ich meine Pistole auf sie richten. Damit hätten sie nämlich nicht gerechnet, das hätte sie wirklich überrascht. Dann wären sie endlich nicht mehr so verdammt selbstsicher und stark. Ich richte einfach die Knarre auf sie und sage ihnen, daß ich sie umlegen werde. Dann müssen sie betteln, daß ich sie nicht umbringe. Dann müssen sie betteln, so wie ich betteln mußte.

Ich fand keinen, mit dem ich das hätte machen können. Ich wollte schon jemanden finden, gleichzeitig wollte ich es aber auch wieder nicht. Ich hatte wirklich zu große Angst.

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Papi konnte mich nur darum ungestraft schlagen, weil er mir körperlich immer so haushoch überlegen war. Er war für mich gefährlich und machte mir Angst, er war immer zu groß und zu stark, als daß ich mich hätte wehren können. Die einzige Möglichkeit, ihm Einhalt zu gebieten, wäre es gewesen, ihn umzubringen.

Schläge sind ein Akt der Gewalt. Eine offensichtliche und unmißverständliche Verweigerung von Anerkennung, Liebe und Zuwendung, die ein Kind von seinen Eltern braucht. Es tut so weh, wenn man nicht geliebt wird.

Man ist zu fast allem bereit, um zu verhindern, die uneingeschränkte Konfrontation mit der Liebesverweigerung ertragen und fühlen zu müssen. Wenn jemand diese Gefühle provoziert, ihnen zu nahe kommt, dann kann man nichts anderes machen, als die Provokation zu beseitigen - und das heißt, sich oder denjenigen, den man vor sich hat, zu töten.

Das Kind könnte in der Raserei eines Urerlebnisses einen oder ein Dutzend Menschen töten. Was es dabei in Wirklichkeit zu töten versucht, ist der Schmerz in ihm. Die Konsequenzen, zum Beispiel eingesperrt zu werden, sind überhaupt nicht vorhanden. Man kann sie überhaupt nicht sehen. Das Urerlebnis ist überwältigend. Man hat keine Kontrolle, man steckt restlos drinnen, man spuckt es einfach heraus; und man könnte glatt jemand ermorden — so einfach ist das. Der Unterschied zwischen einem Urerlebnis und einem aggressiven Akt, der sich gegen einen anderen Menschen richtet ... Wissen Sie, da ist es zum Mord nicht weit. Mein Bruder und ich, wir haben zusammen gelebt, wir haben zusammen denselben Scheiß durchgemacht, und irgendwie bin ich besser davongekommen ... und er kam ins Gefängnis, als er siebzehn war, und von ein paar Jahren mal abgesehen, ist er seitdem drinnen geblieben ... und wird für den Rest seines Lebens dort bleiben ... das hat er davon. Ich fühle mich einfach so begünstigt, daß ich draußen bin und nicht im Gefängnis sitze ... daß ich einen Weg gefunden habe, mich von den Gefühlen der Vergangenheit zu lösen. Von der Sache mit meinen Eltern zum Beispiel, die mir so ungeheuerlich erscheint ... so hundsgemein kann doch kein Mensch sein ... wie ist es möglich, daß ein Mensch so verdammt grausam sein kann?

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Ich habe nie bewußt gefühlt, daß ich Mordgelüste hatte. Das ist etwas, was man in sich trägt, ohne wirklich zu wissen, wie es sich ausdrückt. Herumlaufen mit dem Gefühl in sich, daß ... Ich meine, ich bin ein Mensch, ich habe ein gewisses Recht zu leben, auf ein gewisses Maß an Sicherheit, und meine Mutter und mein Vater haben sich bekämpft, und sie haben mich geschlagen, sie haben mir weh getan, sie haben mir auf so gemeine und abscheuliche Art Gewalt angetan, nur weil ich existierte ... und das ist mehr, als man ertragen kann ... Ich finde, das ist einfach mehr, als man ertragen kann ... und da bist du wütend ... einfach ... verdammt noch mal, du bist einfach so beschissen wütend ... 

Ich hab mir eine Pistole gekauft, wissen Sie, und sie mit mir herumgetragen, ich hab darauf gelauert, daß mich irgend jemand oder irgendwas verletzt, damit ich sie dann verletzen kann ... wirklich, ich wollte ehrlich gewalttätig werden ... man muß den Schmerz rauskriegen. Er ist so nah und immer direkt obenauf... er ist so groß, und du weißt, daß du ihn immer nur runterschluckst, du schluckst ihn immer nur runter ... so geht das das ganze Leben lang . . . und du suchst nach einer Möglichkeit, den Schmerz loszuwerden. Du kannst jetzt zum Primärinstitut gehen und ihn loswerden ... da kann man hingehen und ihn rauslassen. Wenn du draußen lebst, so in der richtigen Welt ... da kannst du nirgends hingehen ... da gibt es keine Möglichkeit, es loszuwerden ... da glaubst du dann, die einzig akzeptable Möglichkeit, den Schmerz loszuwerden, ist gewalttätig zu werden ... 

In unserer Gesellschaft ist Gewalttätigkeit akzeptiert... es ist ein akzeptierter Weg, es zu tun ... es ist doch so, man kann sich vollaufen lassen und in eine Schlägerei geraten, die Polizei meint dann zwar, das solle man doch besser nicht tun, aber man hat Verständnis dafür. Das kannst du tun ... deine Frau verprügeln oder in eine Schlägerei geraten oder so was und dann sagen, tut mir leid, ich fühlte mich miserabel ... das verzeihen dir die Leute. Es ist wirklich komisch. Du siehst es überall. Mein Vater, der war gewalttätig ... er ließ es an mir aus ... er ließ es an meiner Mutter aus ... und das wurde akzeptiert ... Ein gewalttätiger Mensch ist jemand, der mit Gewalttätigkeiten aufgewachsen ist... jemand, der früh gelernt hat, daß Gewalttätigkeit eine akzeptable Möglichkeit ist, sich zu befreien. 

Die ganze Gesellschaft ist gewalttätig. Sie führen Kriege und kämpfen die ganze Zeit. So also wird das gemacht. Gewalttätig zu sein ist ein Weg, den eigenen Schmerz loszuwerden; dadurch kommt der Schmerz raus ... und man kann entspannen. Wahrscheinlich ist niemand so entspannt wie der Kerl, der gerade ein paar Leute ermordet hat ... Jemand wie Speck zum Beispiel, der vielleicht fünf oder sechs oder sieben oder acht Frauen schafft ...

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Oder dieser Junge aus Texas, der die Leute einfach umgelegt hat, oder so ein Typ mit einem Maschinen­gewehr in Vietnam. Ich glaube, wer all so was macht, kann wahrscheinlich entspannen und sich schlafen legen. Genau so läuft es nämlich. Man kann vielleicht Angst kriegen, wenn man sich klarmacht, was man da getan hat, aber im Grunde, wissen Sie, im Grunde tut das gar nicht mal so weh. Die können einem doch nichts antun, was so weh tut ... und wenn sie dich in die Gaskammer stecken oder aufhängen, das tut alles nicht so weh, wie der Schmerz, der in dir ist. Darum spielt das keine Rolle. Der eine findet vielleicht einen Weg..... Ich zum Beispiel habe vielleicht einen Weg gefunden, den Scheiß irgendwie loszuwerden..... ich habe immer nur ein bißchen rausgelassen. Ich habe nie ganz nachgegeben und jemanden getötet, ich hatte immer das Gefühl, als ob ich es wollte ... als ob ich es tun könnte . . . denn wenn ich einem anderen wirklich großen Schmerz zufügen könnte, würde ich selbst nicht so starke Schmerzen haben..... Und irgendwie, finde ich, habe ich ein Recht, es zu tun..... irgendwie ist da etwas, als ob man mir was schuldig ist... und vielleicht auch meinem Bruder und den anderen Leuten. Irgendwas ist man dir schuldig, und alles, was du kriegst, ist Gewalttätigkeit...... Du weißt, irgend jemand hat dich so verprügelt, daß dir das Gedärm zu den Ohren rauskam, hat dir Schmerz zugefügt, und da ist es nur gerecht, daß du es zurückzahlst, daß du das Recht hast, es zurückzuzahlen ... du mußt nur herausfinden, wie du das am besten machst. Ich habe es durch meine Frauen gemacht, ich habe geheiratet und Frauen Schmerz zugefügt.

Ich bin wahrscheinlich öfters in Situationen gewesen, in denen ich mich selbst umbringen wollte, was im Grunde wirklich ziemlich dasselbe ist... es ist wirklich ziemlich dasselbe ... du weißt, daß du unheimliche Schmerzen hast, daß du sie einfach beenden mußt.... und du kannst sie an einem anderen auslassen, indem du ihn so verprügelst, daß ihm das Gedärm zu den Ohren rauskommt..... indem du irgend etwas Körperliches machst, indem du andere verletzt zum Beispiel, oder du kannst es dir auch selbst antun.

Der Schmerz ... ich meine, das, was so weh tut, ist, du möchtest, daß Mami und Papi dich lieben, das heißt ... was du möchtest, ist, dich sicher fühlen, du hast Angst, bist verängstigt ... oder du fühlst dich nicht sicher und geborgen ... daß Mami und Papi beide da sind und dich in die Arme nehmen und dich eng an sich drücken und einfach sagen, ist ja alles gut... du mußt keine Angst haben ... es ist alles in Ordnung, und wir alle lieben dich. Das haben sie nie getan.

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Mami und Papi sind da, um für dich zu sorgen und um zu verhindern, daß du Angst hast ... und um die Welt zu einem Ort zu machen, wo dir kein Schmerz zugefügt wird. Das ist wie jetzt mit meinem Kind. Ich glaube, all diese Dinge waren im Grunde immer in mir ... Ich bin mit all diesen Gefühlen durch das Leben gegangen, habe sie aber nie ausgedrückt. All das, was mein Vater gemacht hat, daß er dasaß und seelenruhig eine Peitsche anfertigte, um seine Kinder damit zu schlagen. Das ist schon eine wahnsinnige Situation. Ich glaube, das kann nicht alles auf seinem eigenen Mist gewachsen sein ... Er ist nicht einfach als Ungeheuer geboren worden, er ist zu einem Ungeheuer gemacht worden. 

Aber das spielt im Grunde keine Rolle. Ich kann ihn nicht in Schutz nehmen und ihm verzeihen, weil ihm das angetan wurde. Das bringt mir nichts ein. Soll er doch seine eigene Therapie haben ... Ich muß mit der meinen fertigwerden. Darum ist mir das scheißegal, ich muß ihm trotzdem Vorwürfe machen ... ich muß ihm Vorwürfe machen ... es ist meine Wut ... und ich glaube, die Wut jedes gewalttätigen Menschen hat ihren Ursprung in der Tatsache, daß sie ihren Eltern Vorwürfe machen. Sie werfen ihnen die erlittenen Schmerzen vor ... Sie machen anderen Leuten Vorwürfe für das, was sich abspielt, sie werfen ihnen die erlittenen Schmerzen vor ... man hat ein Anrecht, geliebt zu werden, man hat ein Anrecht, umsorgt zu werden ... man hat ein Anrecht, sich sicher und geborgen zu fühlen ... aber für mich hat es das nie gegeben, ich habe das nie gehabt, ich war nie sicher und geborgen. Ich hatte immer Angst.

Es ist einfach nicht richtig, daß ich wie ein Verrückter arbeiten muß, um liebenswert zu sein, um so phantastisch zu sein, daß Mami und Papi mich lieben, das ist lächerlich. Sie hätten mich lieben müssen, und das haben sie nicht getan; sie haben mir einfach weh getan, und ich mußte mit diesem Schmerz leben. Ich habe das als Kind nicht gefühlt, ich habe nie richtig verstanden, was sich da abspielte. Ich war einfach eine klägliche Gestalt, und wahrscheinlich verdiente ich es, geschlagen zu werden ... Es lag allein schon daran, wie ich lebte ... Ich konnte nie etwas richtig machen. Mein Vater liebte mich nicht wirklich - welchen Unterschied machte es dann schon aus? Ich glaube, die einzigen Male, die er mich wirklich beachtete, waren, wenn ich böse war.

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Manchmal glaube ich auch jetzt noch, daß ich absichtlich böse war, um von ihm beachtet zu werden, um von ihm geschlagen zu werden, um die Bestätigung zu finden, daß ich der letzte Dreck war, der es nicht besser verdiente, als geschlagen zu werden.

Man braucht es schließlich, uneingeschränkt zu fühlen - auf diese Weise agiert man seine Wut aus. Ich bin böse, damit man mich bestraft, vielleicht damit man mich schlägt, das ist der eigentliche Grund. Ich verdiene es, geschlagen zu werden, niemand liebt mich.

Der Prozeß fand in Norfolk statt, er dauerte drei Monate lang. Ich hatte geholfen, die Männer zu vergraben, die Dick umgebracht hatte. Noch heute fühle ich nicht alles, was damals geschehen ist. Ich weiß aber, daß meine Mutter mir in der Nacht sagte, am nächsten Morgen müßt ihr ihn vergraben. Wissen Sie, ich habe nie Fragen gestellt, ich war einfach ein folgsames Kind. Es war halt etwas, was getan werden mußte.

Wenn meine Mutter zum Beispiel sagte, oh, dieser Mr. Kinney, der hat mich heute beleidigt. Er hat zu mir etwas gesagt. Dann steckte ich einen Totschläger ein und ging los, um mit ihm zu reden..... Den schlag ich zusammen..... Und wenn meine Mutter mir je gesagt hätte, ich solle jemanden umbringen, weiß ich einfach nicht, was geschehen wäre — ich kann Ihnen sagen, das ist wirklich beängstigend. Dick hat es gemacht. Ich hatte Angst vor ihr, Todesangst. Nach dem ersten Mord, nein nicht der erste Mord ... Dick und ich haben diesen Mann im Schweinestall vergraben ... wir lebten damals auf dem Bauernhof ... wir haben ihn im Schweinestall vergraben. Und dann haben wir einfach so weitergelebt wie immer.

Meine ersten Urerlebnisse handelten von meinem Vater und davon, wie er mir weh getan hat, zum Beispiel als er meine Katze tötete. Wir hatten einen Kanarienvogel, und eines Tages versuchte die Katze, in den Vogelkäfig einzudringen. Unsere Haushälterin schrie, und mein Vater wurde wütend, schnappte sich die Katze und packte sie am Hals. Die Katze jammerte. Ich dachte, er wollte sie einfach wegjagen. Mein Vater war wütend, und wenn er wütend ist, muß man aufpassen, dann geht man ihm besser aus dem Weg. Er packte die Katze am Schwanz und schlug sie gegen die Wand. Die Katze rührte sich nicht mehr, ihr Rückgrat war gebrochen. Ich war damals zehn Jahre alt. Es war nicht so sehr, daß es mein Lieblingstier war, es war vielmehr das Wissen, daß ich selbst im Handumdrehen auch tot sein konnte. Das Gefühl hatte ich immer, solange ich bei ihnen lebte.

Ich konnte nie entspannt sein, weil ich immer zu Tode geängstigt war; jeden Augenblick konnte er mich zusammenschlagen und mich umbringen. Sobald er nicht gut gelaunt war, mußte ich aufpassen. Wenn er mich schlug, dachte ich immer, er würde niemals aufhören. Ich dachte dann verzweifelt nach, wie ich ihn wohl dazu bringen könnte, aufzuhören. Bitten und Versprechungen, daß ich brav sein wollte, halfen nicht. Vielleicht hörte er nie auf? Da war irgend etwas in mir, das aushielt, das nicht aufgab, das weiter hoffte. Wenn du aufgibst, bist du verloren. Dann bist du nie wieder du selbst. Es ist, als hätte ich mich davon abgehalten, wahnsinnig zu werden.

Vor meiner Mutter hatte ich noch größere Angst, weil sie töten konnte und es auch getan hat; sie war hinterhältiger. Sie war unberechenbar. Sie hat mich benutzt. Sie hat mich nicht geliebt. Wir mußten für sie töten. Herrgott!

Ich habe endlich einen Platz gefunden, wo ich all diese schändlichen Kränkungen fühlen kann, die mir angetan wurden. Ich fühle day Ungeheuerlichste, was einem Menschen überhaupt passieren kann ein ungeliebtes Baby zu sein.

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