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14  Über Paranoia 

 

Janov 1972

 

 

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Kürzlich kam mir beim Autofahren eine Einsicht zum Thema Paranoia. Aus einer kleinen Seitenstraße bog unvermittelt ein Auto ein und schnitt meinen Wagen. Ich hupte, und der Fahrer begann mich anzubrüllen. Sein Brüllen und seine Anschuldigungen waren seine Art, das Gefühl zu verdecken, Unrecht getan zu haben. 

In dem Augenblick zwischen meinem Gehupe und seiner Erwiderung fand der paranoische Prozeß statt: »Ich habe etwas falsch gemacht. Darum bin ich böse, darum werde ich nicht geliebt.« Er konnte gegenüber seinem Fahrfehler nicht objektiv sein, weil mein Gehupe eine ganze Geschichte wachrief, die Geschichte, unrecht zu haben und deshalb nicht geliebt zu werden. Paranoia — »Du bist es gewesen, nicht ich« — ist mithin eine Art, den Schwerpunkt von innen nach außen zu verlagern.

Dafür bedarf es nicht immer dramatischer äußerer Anlässe. Es braucht lediglich irgendein unerträgliches inneres Gefühl geweckt zu werden — zum Beispiel homosexuelle Neigungen —, und schon wird es nach außen projiziert. Wenn ein Mensch seine jeweiligen Gefühle verkraften kann — wenn mein Fahrer zum Beispiel die Unachtsamkeit seines Fahrens hätte akzeptieren und seinen Fehler eingestehen können —, dann besteht für Paranoia kein Bedürfnis.

Paranoia unterscheidet sich von schizoiden Prozessen, bei denen sich der Betroffene einfach völlig zurückzieht. Paranoia ist eine später einsetzende Entwicklung, die erst eintritt, wenn ein Kind bereits verbalisieren und mithin seine Gefühle entstellen kann. Sagen wir einmal, ein Kind fühlt zum erstenmal im Alter von drei Jahren, daß seine Mutter es wirklich nicht mag, und daß sie es niemals lieben wird. Es beginnt, dieses allumfassende und vernichtende Gefühl der Ablehnung zu fühlen. Es kann dieses Gefühl dann folgendermaßen übersetzen: »Sie liebt mich nicht, weil ...« — »weil ich böse bin«, »weil ich dumm bin«, »weil ich häßlich bin« und so weiter.

Das Kind braucht dieses »Weil«, um die Ablehnung zu rationalisieren und um gleichzeitig der Hoffnung Raum zu lassen, es könne wieder gemocht werden, wenn es die Dinge ändert, die an ihm falsch sind.


Später kann dieses Kind in gesellschaftlichen Situationen das Gefühl haben: »Sie werden mich nicht mögen, weil ...«. Es projiziert seine frühe Ablehnung auf neue Situationen. Noch später kann sich dieses Gefühl dahingehend entwickeln, daß es sich sagt: »Sie mögen mich wirklich nicht, sie machen sich hinter meinem Rücken über mich lustig.« Was zunächst eine Befürchtung war, ist jetzt Realität geworden. Das Entscheidende an dieser Paranoia ist das Blockieren des frühen Gefühls der Ablehnung, das nicht akzeptiert werden konnte.

In der Primärtherapie sehen wir, nachdem ein Großteil des Abwehrverhaltens abgebaut wurde, zum erstenmal die Entwicklung paranoider Gedankenbildung. Nehmen wir als Beispiel einen brillanten Wissenschaftler, der sein reales Gefühl, dumm zu sein, überspielt (ungeachtet seiner tatsächlich vollbrachten Leistungen); wenn er jener frühen Erinnerung, abgelehnt zu werden, weil er etwas Dummes gemacht hat, nahekommt, kann er sich sagen: »Janov versucht, mich als dumm hinzustellen, aber das läuft nicht.« Solange ein Kind noch keine gedanklichen Abwehrmechanismen entwickeln kann, hat es gar keine andere Wahl, als sich angesichts überwältigenden Schmerzes zurückzuziehen. Es kann nicht ausagieren, kann keine Abkommen treffen, keine Leistungen erbringen oder ähnliche Kompromisse schließen. Es kann noch nicht sagen: »In Wirklichkeit liegt es an den anderen, nicht an mir.«

Wenn wir in der Primärtherapie einen Patienten seines Ausagierens, seiner Arrangements und seiner Tricks berauben, geht der Schmerz sozusagen in den Kopf und führt zu Paranoia. So gesehen ist Ausagieren oft eine Abwehr gegen Paranoia. Sich zum Beispiel grenzenlos dumm zu fühlen und daran gehindert zu werden, klug zu handeln, heißt, mit großem Schmerz konfrontiert zu werden. Und dem Verstand bleibt dann nur die Möglichkeit, die Gefühle in eine andere Richtung zu projizieren.

Mithin können wir sagen, Paranoia setzt ein, wenn ein Kind zum erstenmal »weiß«, daß etwas grundlegend falsch ist und daß es dies »nicht wissen« darf, um die psychische Integrität erhalten zu können. Mit der Entwicklung verbaler Fähigkeiten können alle vorhergegangenen psychischen und physischen Schmerzen schließlich gedanklich verarbeitet werden. Ein Geburtstrauma zum Beispiel ist ein erschütterndes Erlebnis. Es hinterläßt eine unaufgelöste hochgradige Spannung.

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Wenn ein Kind zu denken beginnt, kann es seine Denkprozesse als Abwehrmechanismen einsetzen, um dieses Gefühl »fortzudenken«. Es wird paranoid, um eine Stätte und einen Brennpunkt für die unerklärliche Geburtsspannung zu schaffen, unter der es leidet. Es wird seinen Lehrern oder seinen Spielgefährten die Schuld geben, sobald etwas schief läuft und bei ihm Spannung hervorruft — das heißt, die alte Geburtsspannung wiedererweckt. Er brauchte nicht den anderen die Schuld zu geben, wenn er die eigene Dummheit oder die eigenen Fehler in der Schule fühlen könnte. Aber die Kombination, Geburtstrauma plus frühe Zurückweisung, ruft eine Überlastung hervor, die nicht integriert werden kann und folglich projiziert werden muß.

Paranoia muß langsam und systematisch abgebaut werden, indem man dem Betreffenden hilft, jeden seiner Schmerzen, die zu der Überlastungs­projektion beitragen, zu fühlen, damit er im Jetzt leben kann, anstatt eine unerklärliche und unannehmbare Vergangenheit auf die Gegenwart zu projizieren. Um Paranoia zu beseitigen, müssen wir dem Betroffenen helfen, die Geschichte zu fühlen, die er abgeblockt hat, damit diese Geschichte die Gegenwart nicht länger erdrückt.

Nehmen wir ein Beispiel, mit dem ich häufig konfrontiert werde. Ein in der primärtherapeutischen Ausbildung stehender Psychologe kommt nicht voran. Er macht ständig Fehler, Woche für Woche, und schließlich droht ihm Gefahr, von dem Ausbildungslehrgang ausgeschlossen zu werden. Zunächst beginnt er, anderen zu erzählen, ich sei wirklich verrückt und verstehe von Primärtherapie keineswegs so viel, wie ich vorgebe. Mit jeder Woche seines Versagens werde ich in seinen Augen zunehmend unfähiger, bis er den Punkt erreicht, daß er, um das Gefühl abzublocken, ein absoluter Versager zu sein, zu dem Schluß kommt, ich sei tatsächlich verrückt und kritisiere ihn nur, weil ich ihn nicht möge. Oder aber er beginnt zu denken, er habe eine eigene, bessere Methode gefunden, die Therapie durchzuführen, und ich sei im Grunde ein schlechter Lehrer, dem das Gespür für den Fortschritt der Patienten fehle. Und in dem Maße, wie der Schmerz wächst, wird auch die paranoide Gedanken­bildung immer absonderlicher und entfernt sich immer weiter von dem realen Gefühl — nämlich: »Ich bin dumm, ich werde es nicht schaffen, und deshalb wird mich niemand lieben.«

Wir sehen hier, daß paranoide Gedankenbildung einen Kreislauf in Gang setzt; je größer der Schmerz, um so angestrengter die Gedankenbildung. Es kann mit einfachen Phobien beginnen — mit der Projektion einer frühen Angst auf die Gegenwart. Doch die Phobie ist immerhin ein Eingeständnis der Angst! Bei Paranoia geht das verloren; da ist es die Angst vor der Angst und mithin ein Leugnen jeglicher Angst. Mit fortschreitender Paranoia beginnt der Betreffende seine Gedankenbildung auszuagieren. Das ist das gefährliche Stadium.

Was als einfache Angst vor dem Kommunismus beginnt, wird zu dem Bedürfnis, Kommunisten zu töten, »ehe sie uns umbringen«. Was als eingestandene Angst, in der Ausbildung zu versagen, beginnt, wird zu der fixen Idee, Janov sei geistesgestört, und schließlich zu der Entwicklung einer besonderen Theorie, die sich weit von dem entfernt, was man gemeinhin als Primärtheorie bezeichnet.

Wir müssen Paranoia als äußerstes Abwehrverhalten verstehen. Nachdem der Körper alles ihm mögliche getan hat, um ein Urgefühl zu bewahren, übernimmt der Kopf die Führung und verdreht es. Dann paßt sich der Körper dieser Idee an, und der Betreffende agiert danach. Man kann einem Menschen seine Gedankenbildung nicht ausreden, weil sie notwendig war, um den Schmerz abzublocken. Die einzige Antwort liegt darin, ihm zu helfen, den Schmerz zu fühlen.

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