Start    Weiter

15  Über Glück, Depression und die Natur der Erfahrung

 

 

166-174

Die Suche nach Glück ist kein ausschließliches Vorrecht psychisch gestörter Menschen. Sie ist gewissermaßen ein nationaler Zeitvertreib. Für das Verständnis von Glück und Depression möchte ich mit folgender Behauptung beginnen: Erfahrung betrifft Körper und Geist gleichermaßen. Was uns im Leben zustößt, betrifft uns in jeder Hinsicht, nicht lediglich die Psyche. Es ist keine Offenbarung, wenn ich sage, daß der Geist als ein Teil mit dem Gesamtkörpersystem verbunden ist, und doch hat uns das mangelnde Verständnis dieser Tatsache dazu gebracht, Glück und Depression in ihrem Wesen falsch zu verstehen.

Ich habe an anderer Stelle (<Der Urschrei>) darauf hingewiesen, daß frühe Begebenheiten in unserem Gesamt­körpersystem registriert werden, selbst wenn sie uns nicht bewußt geworden sind. So registriert unser Gesamtkörpersystem »Trauma«, während unser Verstand — unser Bewußtsein — »Glück« registrieren mag. Bei Neurosen, bei einer Spaltung von Körper und Seele, kann bewußtes Erleben von körperlichem Erleben erheblich abweichen. Wenn wir neurotisch sind, können wir uns selbst »belügen«. Wir können glauben, wir seien glücklich, während in unserem Innern Schmerz wütet.

Das wird vielleicht verständlicher, wenn wir Hypnosezustände betrachten. Ein Hypnotiseur auf der Bühne kann sich einen mürrischen, verschlossenen Neurotiker vornehmen und innerhalb weniger Sekunden oder Minuten einen überschäumenden, »glücklichen« Menschen »produzieren«. Doch ist dieser Mensch wirklich glücklich? Wenn Sie ihn fragten, würde er sagen: »Ja, ich bin glücklich.« Er scheint so glücklich zu sein, wie ein Neurotiker nur glücklich scheinen mag. Er lächelt, er ist vergnügt und scheinbar sorglos. Die objektiven Kriterien sind vorhanden, doch wir wissen, daß es ein falscher Zustand ist. Mit Hilfe der Hypnose konnte dieser Mensch sich selbst belügen. Aus seiner Hypnose erwacht, kann er durchaus sofort wieder in seine gewöhnliche Depression verfallen.

Das ist das gleiche wie bei Neurosen, unter deren Einfluß Eltern pseudoglückliche Kinder »produzieren«, denen traurig oder mürrisch zu sein verboten ist; denen normalerweise selbst lustlos zu sein verboten ist, weil das die Eltern an ihr eigenes Versagen erinnert. Man könnte diese Kinder fragen, ob sie glücklich sind, und man würde die gleiche bejahende Antwort erhalten, wie sie hypnotisierte Personen geben würden. Obwohl das neurotische Kind wie die hypnotisierte Person sich bewußt als »glücklich« ausgeben mögen, würden ihre Körper dennoch starke Spannung aufweisen. Ihr »Glück« wäre mithin kein Organzustand, sondern ein nur den Kopf betreffender Zustand. »Glück« im neurotischen Sinne wäre somit eine erfolgreiche Flucht vor dem Körper. Der Flucht Einhalt zu gebieten — den Neurotiker von seiner »Hypnose« zu befreien — heißt, Urerlebnisse und die damit verbundenen Leiden hervorzurufen, und das ist ein reiner Organzustand.

Warum geht es dem Neurotiker schlecht?  

Weil er seiner selbst beraubt worden ist. Wie das gemacht wurde, spielt keine Rolle. Wesentlich ist, daß es zu Traurigkeit führen muß, wenn man sich selbst nicht ungehindert und aufrichtig Ausdruck verleihen darf. Primärpatienten weinen, weil sie nicht im Arm gehalten werden, weil man ihnen nicht zuhört, weil ihnen nicht einmal in ihrem eigenen Zimmer eine Privatsphäre zugestanden wird. Als Kinder wurden sie in Vernachlässigung gleichsam ertränkt, ohne sich der subtilen Tragödie, die sich mit ihnen abspielte, bewußt gewesen zu sein. Doch die Tragödie wuchs, Stück für Stück, nur gab es nichts Besonderes, worauf es hätte verweisen können, nichts, worüber es hätte weinen können, nichts, was das Kind wissen ließ, daß es zugrunde ging. Sein Körper speicherte Traurigkeit. 

Später wird dieser Mensch sich ein Arsenal von Hilfsmitteln zulegen, um sich gegen das erdrückende Gewicht seiner erlittenen Entbehrungen zu schützen. Er wird zum Alkohol greifen, hart arbeiten, Kauforgien veranstalten oder sonst was tun. Sobald er jedoch seiner Abfuhrmöglichkeiten beraubt ist, ist er für Traurigkeit anfällig. Jeder Neurotiker ist traurig, ob er es weiß oder nicht. Oft weiß er es nicht, weil der Zweck der Neurose gerade darin besteht, die Tragik des eigenen frühen Lebens zu verbergen. Mittlerweile ist das Gesamtkörpersystem von diesen frühen Gefühlen betroffen — es ist einbezogen —, entweder um sie zu fühlen oder um vor ihnen zu fliehen. Ein guter Ausweg trägt den Namen »Glück«, ein weniger wirksamer den Namen »Depression«.

167


Der Neurotiker ist in der Zeit stehengeblieben. Er ist in seiner Vergangenheit steckengeblieben, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht; so daß alles, was er tut, eine symbolische Beschreibung jener Vergangenheit ist. All die Jahre zwischen der ursprünglichen Spaltung und dem Erwachsenenalter haben nur Bedeutung im Hinblick auf die Urgefühle. Sie werden nie beseitigt (es sei denn durch Primärtherapie). Das beste, was man tun kann, ist, sie abzuwehren. Das heißt, daß wir alle für Traurigkeit anfällig sind, sobald unsere Abwehrmechanismen nachgeben. Plötzlich arbeitslos, allein gelassen oder von Freunden getrennt zu werden — all das bereitet den Boden für Traurigkeit. Das sind Augenblicke, in denen der Neurotiker depressiv wird. Er fühlt sich deprimiert oder niedergedrückt, weil sein Körper die Urtraurigkeit unterdrückt — jene Traurigkeit, die aus zahlreichen frühen Erlebnissen gespeichert wurde, bei denen er unter Entbehrungen litt und vernachlässigt, gedemütigt und seiner selbst beraubt wurde. Wenn der Neurotiker vorübergehend ohne Abwehr ist, fühlt er die Depression und nicht das Gefühl, niedergedrückt zu sein. Er fühlt den Druck gegen jene sich in das Körpersystem drängenden Gefühle. Dieser Druck erzeugt Schwerfälligkeit von Sprache und Bewegung und totale Erschöpfung, die den Depressiven kraftlos und schwerfällig macht.

Gibt man einem Depressiven eine neue Abfuhrmöglichkeit, einen neuen Job, eine Party oder eine Gelegenheit, eine Kauforgie zu veranstalten, dann ergießt sich der nach innen gerichtete Druck in manische Aktivität. Er wird sich buchstäblich in seine Arbeit »stürzen«. Er wird für die Augenblicke »glücklich« sein, in denen ihn seine Arbeit glücklich macht. In Wirklichkeit ist nichts anderes geschehen, als daß er eine Abfuhrmöglichkeit für seine Spannung gefunden hat — eine Abfuhrmöglichkeit, welche die Urtraurigkeit weiterhin unter Verschluß hält. Aber eine große Spannungsabfuhr fühlt sich für den Neurotiker wie Glück an, sie fühlt sich besser an als dieses nach innen gerichtete, mit Depressionen einhergehende Druckgefühl. Wir sehen also, daß sich einige von uns früh im Leben blockieren und, sofern sie keine Abfuhrmöglichkeiten haben, »tot« und depressiv werden, während andere sich blockieren und lebendig »agieren«. Gefällt es den Eltern, wenn ein Kind den »glücklichen Clown« spielt, dann wird es diese Rolle beibehalten. Dennoch wird das Kind traurig sein, weil es nicht es selbst sein konnte.

Wenn es keine Möglichkeit gibt, zu gefallen, wenn man nicht gemocht wird, wenn man unterdrückt und in allem, was man tut, abgelehnt wird,

168


dann wird es unweigerlich zu Leblosigkeit und Depressionen kommen. Nimmt man dem »glücklichen Clown« die Möglichkeit, seine Rolle zu spielen, wird sofort die verborgene Traurigkeit aufsteigen.

Depression ist kein Gefühl. Es ist das, was man mit Gefühlen macht. Es ist die nicht in begriffliche Vorstellungen übersetzte Speicherung von (und Abwehr gegen) Traurigkeit. Will ein Neurotiker überhaupt etwas fühlen, dann muß er zunächst einmal einen Teil dieser Traurigkeit fühlen. Ein normaler Mensch ist niemals depressiv; er hat keine ungelöst im Innern schlummernden Traurigkeitsreserven. Er ist Gefühlen gegenüber offen, und er verdrängt Unerfreuliches nicht. Er wird traurig sein, wenn es angemessen ist. Doch Traurigkeit ist für ihn ein »Jetzt«-Erlebnis, ein reales, auf reale Situationen bezogenes Gefühl. Depression ist ein »Damals«-Erlebnis, auf das Jetzt nur insofern bezogen, als eine gegenwärtige Situation etwas Vergangenes auslöst. Wenn ein Kind jede Traurigkeit sofort fühlen könnte, würde es in seinem späteren Leben nicht depressiv sein.

Um Depression endgültig zu beseitigen, muß der Mensch alle im Innern begrabenen Traurigkeitserlebnisse wiedererleben und erneut lösen. Die Dialektik der Depression besteht darin, daß man sich um so weniger elend fühlt, je mehr man von seinem frühen Elend fühlt. Ein solcher Mensch wird nicht glücklich werden, denn Glück ist eine neurotische Vorstellung, doch er wird zufrieden sein ... ein gesamtkörperlicher Zustand, in dem eine befriedete Seele mit einem befriedeten Körper im Einklang steht. Elend ist der Schlüssel zur Zufriedenheit. Es zu vermeiden bedeutet, es für immer beizubehalten. 

Es kann keine wahre Zufriedenheit geben, solange das Urübel nicht aus dem Weg geräumt ist. Sonst lügt der Verstand und befindet sich nicht in Harmonie mit der Wahrheit des Körpers. Man läßt sein Elend nicht einfach hinter sich. Man »beschließt« nicht einfach, es fallenzulassen, ebensowenig wie man irgendeinen anderen Aspekt seiner Physiologie einfach hinter sich läßt. Das Elend ist zu einem integrierten physiologischen Phänomen geworden. Alles, was die Psyche davon losreißt, ist nur eine flüchtige Ablenkung. Darum auch haben Neurotiker ungute Vorahnungen, wenn sie vorübergehend glücklich sind; sie fühlen, daß es nicht anhalten wird, daß etwas geschehen wird, was es zerstört — und sie haben recht. Ihr Glück ist ein so flüchtiger Zustand, der von nahezu allem zerstört werden kann. Verglichen mit jeder vorübergehenden Beglückung ist das latente Elend so groß, daß der Neurotiker guten Grund hat, ängstlich und mißtrauisch zu sein.

169


Zufriedenheit ist das Gegenteil von Depression. Es ist ein harmonischer Zustand, in dem Körper und Seele im Einklang miteinander stehen. Die Jagd nach dem Glück ist ein neurotisches Bestreben eines unter Schmerzen stehenden Körpers und einer auf der Flucht befindlichen Psyche. Normale Menschen haben Freude an Begebenheiten im Jetzt, doch sie sind nicht auf der Suche nach Glück. Sie wissen, daß es nur einen Zustand des vollen Seins gibt, mehr nicht. Es kann nicht mehr geben als jedes Erlebnis zu fühlen, sich zu freuen über das, was Freude macht. Alles, was über das Sein hinausgeht, ist unreal. Es gibt keine Über-Ekstase, keine »Höhepunkt-Erlebnisse; das sind neurotische Vorstellungen. Allerdings gibt es Zustände intensiven Fühlens, die zu den wirklich stimulierenden Ereignissen in Beziehung stehen.

Erleben im realen Sinne heißt, ein bewußter Mensch zu sein — bewußt der sich innen wie außen abspielenden Dinge. Depression ist ein unbewußter Zustand — unbewußt der körpereigenen Gefühle. Der Neurotiker kann nicht wirklich zufrieden sein, solange er Schmerz hat. Es gibt jedoch einige Zustände, die von vielen Neurotikern fälschlicherweise häufig mit Glück oder Zufriedenheit gleichgesetzt werden. Dazu gehört ganz offensichtlich die Zen-Meditation.

Zen erscheint auf den ersten Blick als komplizierter Weg zur »Glückseligkeit«, doch bei genauerer, gründlicher Betrachtung ist es letztlich nichts anderes als Selbsthypnose, ein Zustand extremer Verdrängung. Glückselig machend ist allenfalls die Wirksamkeit der Verdrängung. Der Seelentrip ist so wirksam, daß der Betroffene seinen Körper tatsächlich verlassen kann. In der Literatur wird dieser Zustand oft als transzendentales Erlebnis bezeichnet. Die ganze Vorstellung von Glückseligkeit und Transzendenz ist offenbar sowohl irreführend als auch falsch. Es stellt sich die Frage: »Gibt es wirklich ein nicht-körperliches Selbst, das transzendiert werden kann, ein Selbst, das ohne Verbindung zu dem Rest von uns im Raum hängt?«, und »Gibt es ein nicht körperliches Selbst, das das Transzendieren vollzieht?« Wenn ja, welches Selbst ist das?

Für den normalen Menschen gibt es nur ein Selbst — das reale Selbst. Es ist körpergebunden und unteilbar. Für den gespaltenen Neurotiker gibt es zwei Arten des Selbst — das reale und das unreale. Das unreale hat das reale tatsächlich auf psychische Weise transzendiert. In Anfällen der Selbsttäuschung kann dieses unreale Selbst sich sogar einen Zustand der Glückseligkeit einbilden.

170


Darum sind Meditation und andere Höhepunkterlebnisse so flüchtig. Die Wahrheit erhebt sich immer wieder, um die Lüge der Seele zu verneinen. Der Neurotiker, der große Geschäfte abwickelt, ist in der gleichen Lage wie der Zen-Anhänger, nur drückt sich sein Mantra, auf das er sich konzentriert und das er bis zum Überdruß wiederholt, in Mark und Pfennig aus. Ist er glücklich? Korrekt wäre zu sagen, sein beschränktes und auf Geld fixiertes Bewußtsein lenkt seinen Verstand von seinem Unglücklichsein ab. Das ist der Grund, warum er immer mehr will und warum Mantras jahrein, jahraus immer wieder aufs neue wiederholt werden müssen.

Die Auffassung von Erfahrung als eines totalen Ereignisses hat andere Implikationen. Sich selbst voll und ganz zu erleben heißt, automatisch maskulin oder feminin zu sein. Eine ganze Frau ist jemand, die sich wie eine Frau bewegt und wie eine Frau spricht. Eine neurotische Frau mag wie eine Frau »agieren«, doch Körper oder Stimme können sie verraten. Sie kann zum Beispiel kindlich sprechen oder körperlich nicht voll ausgebildet sein, weil sie noch immer ein Baby ist.

 

Vielleicht können wir den Begriff des »tiefen Seins« besser verstehen, wenn wir ihn physiologisch erklären. In unseren Körpern gibt es Millionen von Sensoren, die das Gehirn mit Informationen füttern. Sie sagen uns unter anderem, ob wir Schmerzen haben, wo der Schmerz auftritt und andere Einzelheiten. Wenn wir Schmerz vom Bewußtsein abblocken, blockieren wir Sinnes­eindrücke. Wir reduzieren, kurz gesagt, unseren Sinn von uns selbst. Darum gibt es keinen Weg, der zum »Sein« führt, keine psychische Gymnastik, die Erfahrung vertieft, wenn ein anhaltendes Abstumpfen vorliegt.

Wir erfahren uns selbst, indem wir die Welt um uns her erfahren. Erfahrung kann nur dieses Selbst betreffen. Im Hinblick auf den Neurotiker steht mithin fest, daß es für ihn keine Möglichkeit gibt, sich glücklich zu machen. Es gibt Rollen, die er spielen kann und die ihn verwandeln. Ein Schauspieler kann jahrelang auf der Bühne einen befreiten Zorba spielen und dennoch allabendlich, wenn er die Bühne verläßt, deprimiert sein. Neurotiker sind dem Zorba spielenden Schauspieler sehr ähnlich. Sie stehen eine gewisse Zeit im Kampf, arbeiten für ein Examen oder um dicke Geschäfte zu machen, ihre »Rolle« hält sie glücklich. Erst wenn die Rolle beendet ist, übernimmt das reale Selbst die Führung, und das reale Selbst ist traurig.

171


Darum ist ein Depressiver (in der Depression) sich selbst näher als zu jeder anderen Zeit. In einer solchen Verfassung wäre er ein sehr viel besserer Primärpatient als zu einem Zeitpunkt, da seine Rolle funktioniert. Kurz gesagt, die Rolle entfernt uns immer weiter von uns selbst, doch das reale Selbst bleibt diesem unrealen Selbst hartnäckig auf der Spur und wartet auf seine Chance.

Jetzt können wir verstehen, warum Erfolg die Menschen nicht glücklich macht. Warum will ein Sänger, nachdem er endlich Starruhm erlangt hat, plötzlich Schauspieler werden? Weil Erfolg das magische Glück nicht bringt. Diese Leute brauchen einen neuen Kampf. Sie können es sich nicht leisten, nicht zu kämpfen, weil sie in ihrer Kultur gelernt haben, Mühe und harte Arbeit seien der Weg zu Glück und Erfolg. Erfolg ist eine reine Illusion. Wie Prestige und Status ist er nichts anderes als die Vorstellung eines anderen über uns selbst. Als eine äußere Begebenheit kann kein Erfolg reale innere Veränderungen auslösen ... er kann nicht bewirken, daß wir uns geliebt fühlen, wenn wir es nicht sind. Wenn man das Spiel bei seinen Eltern verloren hat, kann späterer Erfolg nichts mehr daran ändern.

Das erklärt auch einiges über konventionelle Psychotherapie. Wie kommt es, daß Menschen jahrelang in einer Therapie bleiben und sie nicht beenden, auch wenn herzlich wenig geschieht? Sie bleiben, gerade weil wenig geschieht und weil sie Hoffnung brauchen. Nach zwei oder drei Jahren Therapie fühlen sie sich noch immer schlecht und müssen einfach daran glauben, daß sich etwas ändern wird, wenn sie noch ein wenig aushaken. Die Tatsache, daß der Therapeut eine Änderung als Möglichkeit in Aussicht stellt, hilft dem Patienten, den therapeutischen Kampf weiterzuführen, in der Hoffnung, trügerisches Glück oder Zufriedenheit zu erlangen. Dieses Glück oder diese Zufriedenheit sind trügerisch, weil der Patient ständig gerade der einen Sache aus dem Wege geht, die ihm wirklich Zufriedenheit bringen könnte, nämlich seinem Urschmerz. Es gibt keinen schmerzlosen Weg, der den Neurotiker zur Zufriedenheit führte. Schmerz ist die Ursache — und die Auflösung seines Elends.

Ein Hauptproblem konventioneller Psychotherapie liegt darin, daß sie Patienten oft zu einer neuen Lebensweise verhilft (zu einer neuen Rolle), anstatt ihnen dazu zu verhelfen, das Leben, das sie leben, zu fühlen. Das ist ein wesentlicher Unterschied, denn der Neurotiker versucht vom Leben etwas zu erhalten, anstatt das reale Leben — jene lebendigen, sich im Körper abspielenden Prozesse — zu erleben.

172


Eine Gesundung ist nur möglich, wenn der Neurotiker zu seiner Vergangenheit zurückkehrt, um die Gegen­wart wiederzuerlangen. Aufgabe der Therapie ist es nicht. Glück zu produzieren. Wir müssen Patienten helfen, diese Vergangenheit als etwas zu fühlen, das von der Gegenwart verschieden ist. Den Patienten in Jetzt-Konfrontationen zu verwickeln, mit ihm über gegenwärtige Beziehungen zu diskutieren, heißt, die Vergangenheit nicht zu berücksichtigen und sie so im Patienten weiterhin toben zu lassen.

Ein mitfühlender, aufmerksamer und verständnisvoller Zuhörer kann einem Patienten vorübergehend Erleichterung verschaffen, kann ihn jedoch nicht zufrieden machen. Weil er in seinem gegenwärtigen Leben alles in bezug auf seine Vergangenheit übersetzt, wird er im Umgang mit anderen Menschen weiterhin ausagieren und versuchen, sie dazu zu bewegen, der gute Papi oder die gute Mami zu sein. Sobald er fühlt, daß er nie gute Eltern gehabt hat, kann er von dem Kampf erlöst werden.

Mit dem Patienten irgend etwas anderes zu machen bedeutet, ihn in eindimensionaler Zeit steckenzulassen, in der alles, was er tut, symbolisches Abbild seiner Vergangenheit ist. Er wird erzählen, wie übel ihm jene Frau mitspielt, wie kastrierend Soundso ist, und er weiß, daß er sie oder ihn verlassen muß, wenn er je glücklich sein will, und so weiter. Aber wir wissen, er wäre auch dann nicht zufrieden, wenn er sie verließe. Wir wissen, daß Ehepartner uns nicht unglücklich machen. Sie verschärfen unser Unglück nur und liefern uns eine Zielscheibe. Wenn ein Mann sein Leben so gestaltet, daß er der kleine Junge sein kann, wird er eine dominierende, »kastrierende Mama« heiraten müssen. Er könnte gar nicht anders. Er heiratet sie, weil er ein kleiner Junge und nicht ein Mann ist. Er ist nicht kastriert — er ist einfach nie erwachsen gewesen. Es ist nicht ihr Fehler — sie kann eine nicht existierende Männlichkeit nicht wegnehmen. Sie ist einfach unbewußt in die Rolle der »Mama« hineingeraten. Das Bedürfnis hält sie beide in einer unglücklichen, unausgeglichenen Situation gefangen.

Manchmal ergänzen sich die neurotischen Bedürfnisse, und die Frau spielt die um das Glück ihres kleinen Jungen besorgte Mama. Sie führen dann eine »glückliche« Ehe. Wenn der kleine Junge seine Mama verliert, empfindet er Schmerz — den Schmerz des frühen Gefühls, nie eine wirkliche Mama gehabt zu haben. Er wird niedergedrückt sein — diese und viele andere Gefühle unterdrückend —, bis er einen anderen Menschen findet, der ihn bemuttert.

173


Seine Depression wird ein vager, begrifflich nicht bewußter Zustand sein. Sein Leid ist das Ergebnis seiner Unfähigkeit, seine Gegenwart im Sinne der Vergangenheit zu manipulieren. Das ist Depression — der Verlust der Hoffnung und des Kampfes. Solange dieser Mensch unbewußt ausagieren kann, eine Mutter zu haben (eine mütterliche Ehefrau zu haben), braucht er sein Leid nicht zu fühlen. Sein Glück ist eine Täuschung — eine Täuschung, die ihm einen frühen Tod bescheren wird, aber er wird »glücklich« sterben.

Ich glaube, wir mißverstehen das Wesen wirklichen Glücks, weil wir uns bisher mit sichtbarem Verhalten und bewußten Berichten neurotischer Menschen beschäftigt haben, für die Glück nichts anderes bedeutet als ungestörtes Weiterbestehen ihrer unrealen Fassade. Die ganze Vorstellung eines Glückszustandes ist eine von Depressiven erdachte Phantasievorstellung. Was sie wirklich wollen, ist im Grunde Entlastung von ihrer Depression.

Die eigentliche Arbeit der Primärtherapie liegt darin, die Stimmungen eines Menschen, zum Beispiel Depressionen, in jene spezifischen Zustände zurückzuübersetzen, die ihnen zugrunde liegen. Das vermag nicht eine einzelne Sitzung, sondern nur eine Vielzahl von Urerlebnissen zu bewirken. Mithin sind Urerlebnisse die Spezifika der Depression, und umgekehrt ist Depression die Verdrängung von Urerlebnissen. Sobald Urerlebnisse einsetzen und das Abwehrsystem (dessen Ergebnis Glück und Depression sind) zusammenbricht, wird der Betroffene überwiegend Traurigkeit fühlen. Er wird auf Ereignisse bezogene Gefühle empfinden und nicht von Stimmungen hin- und hergerissen werden.

Niemand läßt seine Kindheit hinter sich, ehe er sie nicht voll und ganz erlebt hat. Neurotiker versuchen ständig, ihr (kleines) Selbst glücklich zu machen. Sie versuchen auf vielerlei Wegen ihre Kindheitsbedürfnisse zu erfüllen. Sie veranstalten Kauforgien und kaufen sich selbst Geschenke und fühlen sich für den Augenblick überschäumend glücklich. Aber alle Geschenke der Welt können keine Eltern wettmachen, die sich über die Tatsache, daß ihre Kinder am Leben sind, nicht gefreut haben. 

Normale Menschen brauchen keine Dinge, für die sie leben. Sie warten nicht auf diese Party oder auf jenes große Abendessen, damit ihr Leben beginne. Sie leben bereits.

174

 

 

www.detopia.de   ^^^^