Start    Weiter

16  Manisch-depressive Psychose   

 

 

 

175-178

Eines der unergründlicheren diagnostischen Syndrome ist die manisch-depressive Psychose — jener Zustand, bei dem eine Person von Phasen gesteigerter Überaktivität zu Phasen totaler Depression und Inaktivität wechselt. Es kommt nicht selten vor, daß künftige Patienten anrufen und uns fragen, ob wir Erfahrung mit »Manisch-Depressiven« haben, ein Etikett, mit dem sie von ihren vorherigen Therapeuten bedacht wurden. Wir haben in der Tat einige Erfahrung mit Patienten dieser Art, und unsere Erfahrungen weisen darauf hin, daß es sich dabei nicht um etwas so Unerklärliches handelt, wie wir bislang annahmen.

Das Unerklärliche schien darin zu liegen, daß sich ohne jegliche Vorwarnung irgendein Dämon erhebt, um den Menschen in tiefste Depression zu stürzen, und ohne erkenntliche äußere Veränderungen wieder verschwinden kann. Wissenschaftliche Forschung vermutet die Ursache in genetischen und biochemischen Faktoren. Es gibt eine Lehrmeinung, die davon ausgeht, daß zu kritischen Zeitpunkten irgendein biochemisches Element freigesetzt wird, das diese alternierenden Phasen auslöst, und wenn es gelänge, dieses chemische Element zu bestimmen, könnten wir eingreifen und dessen Freisetzung verhindern oder die Auswirkungen dämpfen. Andere sind der Auffassung, daß dies alles genetisch bedingt sein könne — daß es sich um einen Erbfaktor in den Genen handle.

Ich glaube, manisch-depressiv ist eine diagnostische Scheinkategorie, die im Grunde herzlich wenig erklärt. Manie und Depression sind unbewußte und automatische Abwehrmanöver — Methoden, um mit Urgefühlen fertigzuwerden. Und diese Gefühle sind das, was der Manie und der Depression zugrunde liegt, sie sind die Grundlage für das Verständnis der manisch-depressiven Psychose. Bei diesen Gefühlen handelt es sich meistens darum, daß man sich minderwertig, unwichtig und ungeliebt fühlt. Manisch sein heißt, auf der Flucht vor diesen Gefühlen zu sein. Depressiv sein heißt, sie im Innern eingeschlossen und zusammen­geschnürt zu haben.


Die Energiequelle ist dieselbe; es bedarf großer Energie, um diese Gefühle zurückzuhalten. Kommt es zu einer Entladung nach außen, so steht dieselbe Energie dahinter. Beides sind Abwehrmechanismen — keine speziellen diagnostischen pathologischen Zustände. Beide befassen sich mit denselben zugrunde liegenden Gefühlen; und diese Gefühle sind nicht pathologisch, sie sind real. Pathologisch ist lediglich das, was das Blockieren dieser Gefühle in uns bewirkt. 

Dafür ein Beispiel:

Ein Junge wird mehr oder weniger abgelehnt. Er wächst betrübt und verdrossen heran. Er fühlt sich »wertlos«, denn jeder, der nicht aufrichtig geliebt wird, fühlt, daß er Liebe nicht verdiene, daß er ihrer nicht »wert« sei. Ihm bietet sich jedoch ein Ausweg. Seine Familie ist stark auf akademische Leistungen fixiert. Und so strengt er sich an. Er kommt zur Schule und wird ein guter Schüler. Er studiert Medizin und später Psychiatrie. Das nimmt etwa dreißig Jahre in Anspruch, in denen er ständig kämpfen und auf eine Liebe hoffen kann, die er nie erhalten wird. Er hat Kinder und schafft es, ständig äußerst beschäftigt zu sein. Alles liegt vor ihm. Solange er sein Tempo nicht verlangsamt, kann er Depressionen vermeiden. Er ist jung und hat die Kraft sein manisches Leben durchzuhalten. Nur weiß er nicht, daß er ein manisches Leben führt. Er ist einfach ein »vielbeschäftigter«, praktizierender Arzt. Er verdient Geld, hält Vorträge und ist allgemein ein »bedeutender Mann«.

Eines Tages ist er fünfundvierzig. Seine Kinder entsprechen nicht seinen Vorstellungen. Er kann von ihren Leistungen nicht leben. Er muß sie zwingen, Leistungen zu erbringen, weil sie ihm als Spiegel dienten, mit Hilfe derer er das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit von sich fernhalten konnte. Sie sind nicht mehr bereit, für ihn etwas zu tun. Seine Praxis ist inzwischen kleiner geworden, und er ist nicht mehr fähig, seinen Zehnstundentag durchzuhalten. Er beginnt sich umzusehen; es gibt nicht mehr viel Erfreuliches, was ihn erwartet. Er ist mit seiner von ihm abhängigen Frau nicht übermäßig glücklich. Er war krank und hat nicht mehr die Energie, die er früher einmal hatte, und sein Arzt sagt ihm, er dürfe nur noch halbe Tage arbeiten. Alles, was es zur Depression bedarf, ist vorhanden — alle äußeren Umstände treiben ihn in seine Gefühle der Wertlosigkeit; aber da er von deren Vorhandensein nicht einmal weiß — und selbst wenn er es wüßte, keine Verknüpfung zu ihnen herstellen könnte —, wird er depressiv oder niedergedrückt — er unterdrückt die Gefühle.

176


Wenn dieser Mann plötzlich einen Lehrstuhl an einer bedeutenden Universität erhielte oder zum fachärzt­lichen Berater eines großen Krankenhauses ernannt würde, könnte er wieder manisch werden. Seine Flucht gilt dem Versuch, sich wertvoll zu fühlen. Er flieht die Depression nicht gezielt. Er wird depressiv, sobald er nicht mehr manisch sein kann. Seine Stimmungsschwankungen sind ein Wechsel der Abwehrmechanismen. Wenn er »obenauf« ist, ist er geistreich, überschäumend und aktiv.

Er hat Hoffnung — unbewußt Hoffnung auf Liebe, weil er klug und erfolgreich ist. Er scheint sein altes Selbst zu sein. Sein Therapeut ist mit ihm zufrieden, denn ein produktives Abwehrverhalten ist besser als ein unproduktives, und es gibt kaum ein produktiveres (zumindest im Hinblick auf Umfang oder Quantität) als ein manisches. Der Manische fühlt sich besser, weil er nicht fühlt; er handelt. Seine Abwehrmechanismen arbeiten besser.

Da viele Therapeuten Wohlbefinden an Produktivität und Funktionieren bemessen, erscheint es logisch, daß sich ein Mensch, sobald er aus seiner Depression heraus ist, auf dem Wege zur Besserung befindet. Therapeuten unterstützen Manischsein sogar oft noch —: »Gehen Sie los, und tun Sie etwas. Besuchen Sie Freunde, machen Sie eine Reise«, und so weiter. Dabei ist er in seiner Depression der Gesundheit näher — er ist seinen Gefühlen näher.

 

Einer der Gründe, warum die konventionelle Psychotherapie in der Behandlung Manisch-Depressiver so wenig erfolgreich ist, liegt darin, daß man versucht. Abwehrverhalten auf- anstatt abzubauen. Da das Abwehrverhalten den Urgefühlen immer aufgepfropft ist, ist das sogenannte Wohlbefinden dieser Menschen lediglich Schein.

Jeder Depressive ist potentiell auch manisch und umgekehrt. Manchmal sind die Ursachen für die Stimmungswechsel nicht ersichtlich, jedenfalls nicht hinsichtlich der äußeren Lebensumstände des Betreffenden. Doch wir müssen verstehen, daß es einer Anstrengung bedarf, um depressiv zu sein, einer so großen Anstrengung, daß der Betreffende »angestrengt« agiert. Eines Tages fehlt die Energie, weiterhin zu verdrängen, und der Betreffende zeigt ein agitiertes Verhalten.  

Unter Umständen muß er zu Drogen greifen, um seiner Agitiertheit Einhalt zu gebieten (sie halten ihn auch depressiv). Oder er kann Drogen nehmen, um seiner Depression Einhalt zu gebieten. Bei diesen Drogen handelt es sich meistens um anregende Mittel. Sie bewirken Agitiertheit. Der Betreffende muß diese Verfassung dann in gesellschaftlich akzeptierte Kanäle lenken.

177


Die Wirkung der besagten Drogen liegt darin, daß sie das Abwehrverhalten steuern, indem sie den Menschen entweder aufputschen oder beruhigen. Entweder stülpen sie den Deckel über die Gefühle oder sie nehmen ihn herunter. Mit Gewißheit jedoch ändern sie nichts an der zugrunde liegenden Ursache.

Bei Veränderungen des Abwehrverhaltens finden biochemische Veränderungen statt. Wesentliche Agenzien sind dabei Serotonin, Adrenalin und Noradrenalin. Sich auf diese biochemischen Faktoren zu konzentrieren heißt, den Menschen als Ganzes zu vernachlässigen. Solange eine Mittlerrolle spielende chemische Agenzien allein betrachtet werden, bezweifle ich, daß wir je das ganze Phänomen verstehen werden. Nicht, daß es unwichtig wäre, was bei gewissen Zuständen in unseren Gehirnen und Körpern geschieht; das ist zweifellos wichtig. Aber Chemie gibt keine Antwort auf die Frage: »Ursache oder Wirkung?«

Depression ist der Anfang von Gefühlen. Der davon Betroffene steckt tief in den Gefühlen, wenn auch auf unverknüpfte Art und Weise. Der Manische ist aufgewühlt durch die Angst zu fühlen. Oft ist diese Angst nicht bewußt. Sie mobilisiert und geht in die jeweilige Aktivität über, damit sie nicht gefühlt wird. Würde man einen solchen Menschen zwingen, stillzustehen und allein zu sein, würde er die Panik als das fühlen, was sie ist. Da der Manische noch einen Schritt von der Depression entfernt ist, ist er vom Gesundsein weiter entfernt. Das ist das Gegenteil der konventionellen Auffassung, die Aktivität um der Aktivität willen als psychische Tugend betrachtet.

Wir täuschen uns oft hinsichtlich des vermeintlich »unvermittelten« Eintretens des depressiven Zustands. Ein Wiedersehen mit einem alten, erfolgreichen Freund kann manchmal ausreichen, um sich als Versager zu fühlen und eine Depression auslösen. Oder nur in der Zeitung von einem Gleichaltrigen zu lesen, der es geschafft hat, kann dieselbe Wirkung erzielen. Es bedarf dafür keines erschütternden äußeren Ereignisses; oft bedarf es nur einer Belanglosigkeit, die das erschütternde innere Ereignis auslöst. Urgefühle sind immer vorhanden, so daß geringfügige Veränderungen im eigenen sozialen Umfeld sie auslösen können und sie als endogene gewaltige Erscheinungen auftreten lassen.

All das besagt, daß es keine tiefgreifenden manisch-depressiven Syndrome gibt. Sie sind verschiedene Aspekte ein und desselben Problems, und lediglich die verschiedenen Erscheinungsformen dieses Zustands zu betrachten heißt, die Frage nach seinem eigentlichen Wesen offenzulassen.

178

 

 

 www.detopia.de     ^^^^