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17  Der Sinn vom Sinn des Lebens 

 

Janov 1972

 

 

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Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat nicht nur über Jahrhunderte hinweg das Denken der Philosophen beschäftigt, sie scheint auch in zunehmendem Maße Hauptbeschäftigung neurotischer Menschen zu sein. Jeder neue Primärpatient wird von uns gebeten, vor Beginn der Behandlung einen kurzen Bericht über sich zu schreiben. Viele dieser Berichte handeln von keinem spezifischen Problem; allgemeiner Tenor ist vielmehr ein generelles Vom-Leben-Unbefriedigtsein — eine »Welchen-Sinn-hat-das-alles«-Haltung.

Insbesondere die Existentialisten haben zunehmende Klagen über die von psychiatrischen Patienten empfundene Sinnlosigkeit festgestellt. Das existentielle Thema Victor Frankls zum Beispiel lautet, daß die Suche nach dem Sinn der dominierende Trieb des Menschen sei.* Nach seiner Meinung ist des Menschen Suche nach dem Sinn des Daseins eine primäre Kraft in seinem Leben und keine sekundäre Rationalisierung von Triebregungen. Er sagt weiterhin, der Sinn der Existenz sei nichts von uns Erdachtes, sondern etwas von uns Entdecktes. Frankl weist darauf hin, daß bei einer in Frankreich durchgeführten Meinungsumfrage neunundachtzig Prozent der Befragten angaben, daß sie etwas brauchen, »für das es sich zu leben lohnt«.

Die primärtheoretische Auffassung im Hinblick auf die Frage nach dem Sinn lautet: Es gibt keinen Sinn des Lebens, nur einen Sinn des Erlebens, und das ist der Lebensprozeß selbst. Ich meine, die Suche nach einem Sinn des Lebens ist lediglich ein neurotisches Prärogativ, das einsetzte, als das Kleinkind, um zu überleben, gezwungen war, den Sinn dessen, was es sah und fühlte, zu verändern.

Die primärtheoretische Neurosen-Definition besagt, das Kind unterdrückt den Sinn seines Lebens in der unbewußten Hoffnung, durch seinen Kampf einen angenehmeren Sinn zu finden. Seine Suche wird endlos sein, weil es den wahren Sinn seiner frühen Existenz nicht gefühlt hat.

* Victor Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn; Zur Rehumanisierung der Psychotherapie, Herder, Freiburg 1972.


Mit dem Älterwerden wird oft die Suche selbst zum Sinn seines Lebens, und oft genug besteht kaum Hoffnung, daß der Betreffende je eine endgültige Antwort finden wird. Die Antwort ist vielmehr etwas, was gerade vermieden werden muß, da sie dem Kampf, sie zu finden, ein Ende setzen würde. Die Antwort muß auch deshalb vermieden werden, weil diese Antwort letztlich Schmerz bedeutet. Schmerz zu fühlen bedeutet mithin, den Sinn wieder­zuentdecken.

Der Sinn, entsprechend der primärtheoretischen Auffassung, ist artikuliertes Fühlen. Das Leben trägt seinen Sinn in sich selbst. Je tiefer man fühlt, um so tiefer der Sinn des eigenen Lebens. Nicht zu fühlen heißt, ohne Sinn zu sein. Roboter mögen besser denken können als Menschen, doch sie sind für immer zur Sinnlosigkeit verdammt, weil sie nicht fühlen. Leider sind zu viele Neurotiker von ihren Eltern zu Robotern abgerichtet worden, weil sie ihre Kinder nicht haben fühlen lassen.

Ich stimme Frankls »Willen zum Sinn« nicht zu, weil ich glaube, daß nur diejenigen danach suchen, die den Sinn ihres persönlichen Lebens verloren haben. Postprimarpatienten zum Beispiel machen sich selten Gedanken über den Sinn des Lebens und noch weniger über philosophische Systeme. Die philosophische Frage, die sich der Neurotiker nach dem Sinn des Lebens stellt, ist oft nichts als die subtile Umformulierung der eher persönlichen, psychologischen Frage: »Was ist der Sinn meines Lebens?« Der normale Mensch fühlt meiner Meinung nach einen Sinn in all seinen Erlebnissen und versucht nicht, aus ihnen einen nicht existenten, besonderen Sinn abzuleiten. Das Paradoxe beim Neurotiker liegt in folgendem: indem er die Frage nach dem Sinn auf eine philosophische Ebene erhebt, indem er daraus eine verstandesmäßige, intellektuelle Suche macht, stellt er sicher, daß er keine Antwort finden wird — die Antwort, die, wie ich glaube, einzig in der Fähigkeit zu fühlen liegt.

Der Neurotiker neigt dazu, realen Sinn zugunsten eines zugewiesenen, unrealen Sinnes abzuwehren, weil jeder reale Sinn mit seinem Schmerz verbunden ist und automatisch umgelenkt wird. Er wird spontan durch Pseudosinn ersetzt. Wenn jemand dem Neurotiker sagt: »Du siehst heute aber nett aus«, wird er das sofort zurückweisen, weil er es vielleicht mit dem Gefühl in Verbindung bringen wird: »Niemand hat je gefunden, daß ich nett genug aussehe, um geliebt zu werden, oder um für wirklich vorzeigbar gehalten zu werden.« Anstatt das Kompliment anzunehmen und »Danke« zu sagen, weist er es mit den Worten zurück: »Oh, ich sehe heute aber wirklich nicht sonderlich nett aus.«

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Ein anderes Beispiel: 

Einem konventionellen Therapeuten gelingt auf einer Sitzung eine sinnvolle und zutreffende Deutung des Verhaltens seines Patienten. Der Patient greift diese Einsicht bereitwillig auf und untersucht sie nach allen Seiten hin, das heißt, er »arbeitet sie durch«. Wenn dieser Patient zum Beispiel als Kind hatte klug sein müssen, um geliebt zu werden, kann er jetzt seinen ganzen Intellekt einsetzen, um vor dem Therapeuten klug zu erscheinen und sich geliebt zu fühlen. Auf diese Weise kann er eine möglicherweise sinnvolle Einsicht in eine sinnlose »Masche« umwandeln. Er tut das unter Umständen, um zu vermeiden, das Selbst zu fühlen, das nicht ohne ein Zurschaustellen von Brillanz geliebt werden konnte.

In diesem Fall wird der Sinn vom Schmerz abgewehrt. Damit wird Sinnlosigkeit die Abwehr gegen Sinn. Neurotiker sind oft besessen von der Frage nach Sinn und Bedeutung, sie beschäftigen sich intensiv damit, welchen Sinn und welche Bedeutung ein besonderer Gesichtsausdruck oder eine besondere Redewendung eines anderen Menschen haben könnte, und suchen dahinter nach einer Bedeutung, die sie nicht fühlen können. Oder besser noch, sie setzen diese abgeleiteten Bedeutungen so für sich ein, daß sie verdecken, was sie nicht fühlen können.

Wer nicht fühlt, hat kein sinnvolles Leben, mag er auch in Indien gewesen sein, sich mit einem Guru unterhalten und Gott gefunden haben oder Doktor der Philosophie sein. Der Sinn des Lebens ist nicht etwas, was man ermitteln könnte, nicht etwas, was von weisen Männern entdeckt werden könnte, nicht etwas, was über dem Leben steht, sondern vielmehr etwas, was in dem Lebensprozeß eines jeden von uns eingebettet ist. Ich glaube nicht, daß Rituale, Redewendungen, Gesänge oder Litaneien ein sinnloses Leben bereichern können. Noch würde ich sagen, daß eine konventionelle Therapie, selbst wenn sie die Diskussion über den Sinn des Lebens in den Mittelpunkt stellt, dem Neurotiker dazu verhelfen kann, sein Leben als sinnvoller zu empfinden. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß der Neurotiker dazu neigt, sich in immer stärkerem Maße in Aktivitäten zu verwickeln, um seinen Sinn zu fühlen. Und wenn auch die neuen Aktivitäten ihm nicht zu einem Sinn verhelfen, kann er sich gezwungen sehen, weitere Funktionen zu übernehmen, weitere Pläne zu schmieden, weitere Wege einzuschlagen, weiteren Organisationen beizutreten oder auf noch mehr Partys zu gehen.

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In einer Gesellschaft, die die Produktion von Gütern anstatt von Gefühlen betont, ist das summum bonum, das höchste Gut, den Job zu erledigen, einerlei was man dabei empfindet; und so erledigen zwar viele ihren Job, fühlen jedoch, daß ihnen das, was sie tun, nichts bedeutet. Ein Patient erzählte mir zu Beginn seiner Behandlung: »Ich habe einen faszinierenden Job. Zu schade, daß er mich nicht interessiert.«

Einige Neurotiker haben eine Neigung zur Philosophie, gerade weil sie keine endgültigen Antworten bietet. Offensichtlich wollen sie nicht, daß irgend etwas real und endgültig ist. Sie ziehen es vor, alles von allen Seiten zu betrachten, zu relativieren und abzuwägen, damit sie ständig auf der Suche bleiben können. Es ist bedauerlich, daß die meisten bisherigen psycho­therapeutischen Methoden dazu neigen, Patienten bei dieser Suche zu belassen. Einige Therapien sind nur dürftig verschleierte philosophisch-theologische Systeme, bei denen der Therapeut zum Experten der Frage wird, wie man ein sinnvolles Leben zu führen habe. Gerade weil diese Therapien keine endgültigen Lösungen bieten und zur Vieldeutigkeit neigen, fühlen sich einige Neurotiker von ihnen angezogen. So brauchen sie die Hoffnung auf eine Erlösung nie aufzugeben, sie wartet immer gerade hinter der nächsten Ecke. Psychotherapie tendiert ihrer Natur nach dazu, gerade zu verhindern, daß Hoffnungs­losigkeit und Endgültigkeit gefühlt werden, und meiner Meinung liegt gerade darin die Möglichkeit, zu einem sinnvollen Leben zu gelangen.

Viele existenzpsychologische Therapien konzentrieren sich auf die Frage nach dem Sinn. Frankl behauptet, daß Neurosen nicht aus Konflikten zwischen Trieben und Instinkten resultieren, sondern vielmehr aus Konflikten zwischen verschiedenen Werten, aus moralischen Konflikten, allgemeiner gesagt, aus geistigen Problemen. Frankl setzt sich daher mit seinen Patienten auf geistiger Ebene auseinander. Er sagt, geistige Probleme müssen ernstgenommen werden, und man müsse sie nicht zu ihren unbewußten Wurzeln und Ursprüngen zurückverfolgen. Teil der Hier-und-jetzt-Methode der Existenzpsychologie ist, sich gegenwartsbezogen mit der Sinnlosigkeit auseinanderzusetzen — im Kontext gegenwärtiger Situationen. Wie Frankl es formuliert: »Den Patienten durch seine existentielle Krise zu steuern.«

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Mithin sieht die existenzpsychologische Therapie ihre Aufgabe darin, dem Patienten zu helfen, einen Sinn in seinem Leben zu finden, ihn des verborgenen logos (Sinnes) seiner Existenz bewußt zu machen. Meiner Meinung nach verhilft es nicht zum Fühlen, sich der eigenen existentiellen Leere bewußt zu sein. Im Gegenteil, Bewußtsein hilft die Leere zu verdecken. 

Frankl hat zum Sinn des Daseins noch vieles zu sagen. 

So glaubt er zum Beispiel, die Suche nach dem Sinn erzeuge Spannung, und diese Spannung sei eine »unabdingbare Voraussetzung für geistige Gesundheit«. Das stimmt im wesentlichen mit dem existentiellen Grundgedanken überein, demzufolge Spannung das Ergebnis der Kluft zwischen dem ist, was man ist, und dem, was man erreichen sollte, um zu werden. Die Existentialisten gehen im allgemeinen davon aus, daß der Kampf um den Sinn des Daseins essentiell ist.

*

Um noch einmal auf Frankl zurückzukommen, er sagt, was der Mensch brauche, sei nicht ein spannungs­freier Zustand, sondern das Ringen und Kämpfen um ein menschenwürdiges Ziel. Ich betone erneut, daß dieser Kampf meiner Auffassung nach qua Definition neurotisch ist. Daß gerade Spannung die Erlangung von Sinn (Fühlen) blockiert. 

Ich glaube nicht, daß einem Menschen durch irgend jemanden oder irgend etwas Sinn gegeben werden kann, weder durch Eltern noch durch ein Kind noch durch einen Therapeuten. Ich behaupte vielmehr, daß der Versuch, durch andere zu einem Sinn zu gelangen — zum Beispiel Eltern, die ihrem Leben durch ihre Kinder Sinn zu geben versuchen —, ein vergebliches Bemühen ist. Ich habe die klinische Erfahrung gemacht, daß diejenigen, die den Sinn ihres Lebens zumindest teilweise verloren haben, weil sie sich stets den Wünschen ihrer Eltern fügten, unbewußt erwarten, diesen Sinn wiederzuerlangen, indem sie jemanden finden, in diesem Falle einen Therapeuten, der ihnen sagt, wie sie leben und was sie tun sollen. Manchmal gehen Therapeuten auf diese Erwartungshaltung ein und ermuntern den Patienten, dieses oder jenes zu tun, hierhin oder dorthin zu gehen.

Weil ich nicht der Auffassung bin, daß sich der Sinn des Lebens von klugen Leuten aushandeln läßt, befaßt sich die Primär­therapie nicht mit dem Sinn des Lebens als solchem. Sie gibt weder Empfehlungen noch erteilt sie Ratschläge, was zu tun sei. So gesehen ist sie nihilistisch. Ihr einziger Bezugspunkt ist das, was der Patient innerlich fühlt, nicht, was er morgen tun sollte. 

Es ist eine einsame Entdeckung, wenn man herausfindet, daß es im Leben keinen Sinn gibt, und ich vermute, der gelegentlich aufkommende postprimäre »Kater« hat mit dieser Entdeckung zu tun. Einige Patienten wollen einen Ausgleich für ihr elendes Leben. Ihre Neurosen waren in den meisten Fällen der Versuch, einem sinnlosen Leben einen Sinn zu geben. Sie haben Jahrzehnte, ihr ganzes Leben damit verbracht, einen immer wieder neuen Sinn zu erdenken, um ihren Kampf weiterführen zu können. So erhalten Weihnachten und Ostern besondere Bedeutung, weil sie Gelegenheit bieten, einen vermeintlichen tiefen Sinn zu dokumentieren — »Wir sind eine wirkliche Familie«, »Ich gehöre irgendwo dazu«. Es führt oft zu Depressionen, wenn der Neurotiker aus einem im Grunde sinnlosen Ereignis Sinn zu beziehen versucht. In den meisten Fällen gibt es keine wirkliche Familie.

Neurotiker brauchen den Glauben an eine metaphysische Daseinsberechtigung, ein Ziel oder Ordnungsprinzip, das die Ziellosigkeit und das Chaos, das sie ständig fühlen, transzendieren soll. Sie sind gewillt, nahezu alles zu glauben, um die Erkenntnis zu umgehen, daß wir einzig und allein leben, weil wir am Leben sind — nicht mehr und nicht weniger.

Ich meine, der Neurotiker ist besonders verzweifelt und klammert sich an Religion, Philosophie oder Psychotherapie, weil er fühlt, daß das Leben kurz ist und der Tod wartet; er spürt, daß er nie gelebt hat und nicht zu leben weiß. Er muß glauben, daß seiner leblosen, langweiligen Existenz jenseits des täglichen Arbeitens und Schlafens eine tiefere Bedeutung zugrunde liegt. Er muß glauben, daß es irgendwoanders ein besseres Leben gibt, und sei es im Jenseits. Er ist bereit, sich von anderen den Weg weisen zu lassen, weil er vor Jahren die einzige reale Antwort aufgegeben hat — sich selbst. Die Primärtherapie gibt ihm dieses Selbst wieder zurück.

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