18 Über den Unterschied zwischen Intellekt und Intelligenz
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Aus primärtheoretischer Sicht bedeutet Neurose, daß Aspekte des Bewußtseins abgestumpft sind, daß Bewußtsein aufgrund von Urschmerzen vermindert ist. Intelligenz im Sinne der Primärtherapie heißt, ein offenes Bewußtsein zu haben — absolut frei zu sein, um zu sehen, was ist; zu fühlen, was man denkt, und zu denken, was man fühlt. Es bedeutet, von den eigenen Denkfähigkeiten vollen Gebrauch zu machen. Neurotiker können intellektuell sein, nicht aber intelligent. Sie können Fakten und Zahlen speichern oder auch allgemeines Wissen, aber sie können ihr Wissen nicht einsetzen, um ein intelligentes Leben zu führen, und das macht sie aus primärtheoretischer Sicht dumm. Was bedeutet »intelligentes Leben«?
Im Hinblick auf tierisches Leben betrachtet, wäre die Antwort offensichtlich: Intelligenz ist die Fähigkeit zu überleben — für Nahrung zu sorgen, Verfolgern zu entgehen. Bei Menschen sollte die Antwort etwas anders lauten. Was nutzt es, viel zu »wissen«, wenn dieses Wissen nicht zum Überleben beiträgt? Intelligent sein heißt, die eigenen Bedürfnisse zu kennen und zu wissen, wie man sie befriedigt. Neurotisch sein heißt, die eigenen Bedürfnisse nicht zu kennen oder nicht zu wissen, wie man sie befriedigt. Was nutzt es, ein Professor mit universalem Wissen zu sein, wenn man nicht in der Lage ist, zu anderen Menschen eine stabile Beziehung zu unterhalten, wenn man seine eigenen Kinder ruiniert und wiederholt geschieden wird? Wie intelligent ist ein Mensch, der herumreist und Vorträge über Kindererziehung hält, während er seine eigenen Kinder vernachlässigt? Was ist Intelligenz, wenn sie einem nicht dazu verhelfen kann, sich zufrieden zu fühlen?
Mehrere Kräfte verschwören sich, um den Neurotiker dumm zu machen. Zunächst einmal der infantile Urschmerz, der wesentliche Bereiche des Bewußtseins auslöscht — Geburtstraumata, Säuglingstraumata und andere präverbale schmerzhafte Erlebnisse. Diese Verdrängungen beeinträchtigen späteres Denken, auch wenn sie eintraten, noch ehe ein Kind begrifflich denken konnte; sie beeinträchtigen die Fähigkeit, begrifflich frei zu denken.
Alles, was eine frühe Verletzung oder Angst — zum Beispiel vor der Klasse laut vorlesen zu müssen — wiedererweckt, beeinträchtigt das Denken, weil der Schmerz überwältigend ist. Zweitens gibt es früh im Leben eines Kindes Schlüsselszenen, nämlich wenn ihm die Bedeutung gewisser Begebenheiten und Erlebnisse klarzuwerden beginnt. Das sind Szenen, bei denen sich viele vorhergegangene, verschiedenartige Erlebnisse zusammenfinden und eine spezifische Bedeutung annehmen — zum Beispiel: »Ich werde nie gut genug sein.«
Diese Erkenntnisse sind so vernichtend, daß sie aus dem vollen Bewußtsein verbannt werden, noch ehe sie voll erfaßt werden können. Uneingeschränktes Bewußtsein bedeutet demnach, vernichtende Realitäten gefühlt zu haben. So werden wiederum Aspekte des Bewußtseins geleugnet. Die Erfahrungen des Kindes werden fragmentiert, es mag zwar vieles über einzelne Dinge wissen, über Gesteine, über den Mond oder über Bäume, aber sein Bewußtsein ist dennoch selektiv, spezialisiert und in eine Vielzahl kleiner Fächer aufgeteilt.
Die dritte an der Verschwörung beteiligte Kraft, die den Neurotiker dumm macht, beruht auf seiner Unfähigkeit, seinen eigenen Gedanken, sofern er sie kennt, zu vertrauen. Auch wenn er in jungen Jahren nicht bereit ist, gewisse religiöse Auffassungen seiner Eltern zu akzeptieren, wird er es später vielleicht müssen, um sich die Liebe seiner Eltern zu erhalten. Wenn er laut denkt: »Ich hasse meinen Lehrer«, muß er vielleicht wiederum andere Gedanken dafür einsetzen, wenn ihm seine Eltern eingeschärft haben, er solle lieber gar nichts sagen, wenn er über andere nichts Gutes sagen könne. Auf diese Weise wird er Realität leugnen müssen, um sich geliebt zu fühlen, und früher oder später wird sich dieses Leugnen, dieser »Ausverkauf« seiner Intelligenz verselbständigen. Er wird unreale Gedanken denken müssen, um zu verhindern, daß er seinen Schmerz fühlt.
Sobald das Kind durch seinen Schmerz aufgespalten wird, entwickelt es Philosophien und Einstellungen, die sich mit seinem Leugnen vereinbaren lassen. Es wird ein verzerrtes Bild von der Welt haben. Hat es eine wirrköpfige Mutter, so kann es das zu der Auffassung verleiten, Frauen könne man nicht vertrauen, oder zu einer Philosophie, daß Frauen sich zu unterwerfen hätten. So wird der Intellekt in der gleichen Weise zum geistigen Verdrängungsmechanismus, wie der Körper das physische Rüstzeug gegen Gefühle liefert.
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Die Wahrheit zu fühlen — »Meine Mutter ist eine haßerfüllte, lieblose Frau« — bedeutet, den neurotischen Generalisierungsprozeß gegenüber allen Frauen zu beenden. Die Wahrheit zu fühlen bedeutet, intelligentes, gegenwartbezogenes Denken über Frauen freizusetzen. So wird frühe Wahrnehmung durch Schmerz geformt. Schmerzverdrängung schränkt die Wahrnehmung ein, während Schmerz zu fühlen sie befreit und erweitert. Ein Mensch mag gebildet und belesen sein, philosophische Abhandlungen verstehen, doch im Sinne der Primärtheorie wird er dumm sein, solange seine Philosophie nicht aus seinem eigenen Körper erwächst. Wir verstehen jetzt, warum es so schwer ist, die Ansichten eines Neurotikers mit Fakten, Argumenten oder Ratschlägen zu verändern. Er braucht sein ideologisches Polster, und er wird ihm alles einverleiben, was er zu dessen Stärkung braucht. Er wird seine Informationen so auslegen, verfeinern und auswählen, daß seine Ansichten und sein Intellekt sich nicht ändern. Solange er nicht frei ist zu erleben, was real ist — nämlich sich selbst —, wird er durch Erlebtes nicht lernen.
Eine Philosophie braucht nicht durchformuliert zu sein. Sie kann darin bestehen, wie man über Krieg, Militarismus, Sexualität oder nationale Ziele fühlt. Die eigenen Schwächen zu leugnen, weil man nie bei einem starken Menschen hatte Schutz suchen können, kann dazu verleiten, eine Philosophie über die Notwendigkeit von Kraft und Stärke zu entwickeln. Das Bedürfnis nach Hilfe zu leugnen, kann zu einer ablehnenden Haltung gegenüber Menschen führen, die offen um Hilfe bitten. Vernünftige Ansichten entstammen einem vernünftigen System, und wirre Ansichten entstammen einer blockierten inneren Realität. Ein Bedürfnis nach väterlicher Wärme zu blockieren, kann einen Menschen dazu führen, an genetisch bedingte Bisexualität oder Homosexualität zu glauben. Fühlt man jedoch die frühen, vom Vater ausgehenden Entbehrungen, so wird das radikale Veränderungen der Ansichten zu diesem Thema zur Folge haben.
Je mehr Realität ein Mensch in seiner Jugend zu verbergen gezwungen ist, um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß gewisse Bereiche seines Denkens unreal sein werden. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß seine Denkprozesse beschränkt sein werden, und daß er keine gültigen Schlußfolgerungen über das Wesen des Lebens und der Welt anstellen können wird. Frei zu sein und die eigenen Gefühle beim Heranwachsen zu artikulieren führt hingegen dazu, ein artikulierter, frei denkender Mensch zu werden, unbehelligt von jener Angst, die das Denken paralysiert.
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Was sind Ideen anderes als Symbole der Realität? Ein wirklich »aufgeweckter« Mensch kann die Wahrheit in Symbolen sehen, aber ein »dummer« Mensch (mag er auch ein belesener Intellektueller sein) kann diese Symbole nur handhaben und wird sein Leben lang unter seiner Unfähigkeit zu leiden haben, etwas zu »verstehen«. Natürlich ist es möglich, eine richtige Idee aus einem Buch zu lernen — zum Beispiel, daß Sex nicht schmutzig ist —, aber eine Idee wird keinem Menschen helfen, real zu leben, solange sie nicht innerem Erleben entspringt. Bei einem Neurotiker sind Ideen etwas Isoliertes. Sie sind unverankert, dem Gesamtkörpersystem nicht auf reale Weise verwurzelt. Das ist auch der Grund, warum man glänzende Ansichten zur Kindererziehung haben und dennoch als Vater oder Mutter versagen kann; oder warum man, wissend, daß Rauchen Krebs erzeugt, getrost weiterhin eine Schachtel pro Tag raucht. Der Raucher ist dumm, weil er trotz seines Wissens ein unintelligentes Leben führt.
Ein kleiner Junge, der sich von seinen Gefühlen abspaltet, mag sich großartig in allem auskennen, was Technik betrifft. Er mag ein vorzüglicher Ingenieur oder Wissenschaftler werden und an einer Erfindung arbeiten, die dazu eingesetzt werden kann, die gesamte Menschheit zu vernichten. Sein Gehirn kann auf die gleiche Weise korrumpiert werden, wie es korrumpiert wurde, als aus ihm der Neurotiker gemacht wurde. Sein Intellekt ist etwas von seinen Gefühlen Getrenntes und läßt sich daher auf eine den menschlichen Gefühlen, Interessen und Bedürfnissen entgegenarbeitende Weise einsetzen.
Intellekt ist mithin eine aus Angst geborene Abstraktion, während Intelligenz ein einheitliches Körper-Seele-Erleben ist. Nicht neurotisch sein heißt, von der unrealen Verstandeswelt abzulassen.
Wie sehr Angst die Intelligenz beeinträchtigt, sehen wir an den Schwierigkeiten mancher Neurotiker, sich zu konzentrieren. Ein Patient drückte das folgendermaßen aus: »Ich konnte nie richtig klug sein, weil ich mich nie konzentrieren konnte. Ich konnte keine Straßenkarte lesen, ohne nicht gleich nervös zu werden. Mir war alles zuviel. Ich fühlte mich so nervös, daß mein Verstand ständig zu flattern schien. Die halbe Zeit verbrachte ich damit, mich mit Tagträumen glücklich zu machen, so daß ich kaum noch anderes denken konnte.« Schmerz verwirrt. Er hindert den Verstand daran, sich für eine gewisse Zeit ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren.
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Darum auch kann man ein und denselben Absatz fünfmal lesen und jedes Mal wieder feststellen, daß der Verstand in Phantasievorstellungen abgeglitten ist. Ähnlich ist es, wenn einem Menschen Instruktionen mehrfach wiederholt werden müssen. Der neurotische Intellekt ist ein der Realität aufgesetztes Ordnungsprinzip; deshalb haben Neurotiker immer neurotische Psychotherapien ersonnen. Der neurotische Intellekt ist anfällig für Indoktrination und Gehirnwäsche — denn Neurose ist Gehirnwäsche.
Solange der Neurotiker seinen intakten inneren Bezugsrahmen verloren hat, kann sein Verstand leicht falschen Ideen und irrigen Systemen zum Opfer fallen. Solange er neurotisch ist, wird sein Urteilsvermögen dürftig sein; er kann seinen Intellekt nicht so einsetzen, daß er in jeder beliebigen Situation weiß, wie er sich zu verhalten hat. Seine Bedürfnisse werden ihn verführen, so daß diese Bedürfnisse an die Stelle seines Urteilsvermögens treten. Er wird hintergangen und zum Narren gehalten, weil er die Menschen, mit denen er zu tun hat, nicht objektiv sehen kann. Er wird eine übermäßige Heftigkeit an den Tag legen, sobald ihm jemand Bedürfniserfüllung in Aussicht stellt. Oder er wird überängstlich sein, wenn er gewisse entschlossene Schritte unternehmen soll. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein spezialisierter Mensch, er lebt in seinem Kopf, weil er den Kontakt zu seinem Körper verloren hat. Er wird jede Neuigkeit, die er hört, ab isolierte Information behandeln, unfähig das, was er hört und sieht, zu einem integrierten Urteil zusammenzufassen. Das Leben ist für ihn eine Kette isolierter, nicht miteinander verbundener Begebenheiten, ohne Rhythmus und ohne Sinn.
Wenn der Neurotiker aufgespalten ist, flüchtet er sich nicht immer in den Kopf. Oft kann er sich statt dessen auch »dumm« stellen, um nicht wissen zu müssen, was sich in seinem Leben abspielt. Die Wahl seines Abwehrverhaltens hängt zum Teil von den jeweiligen Bedürfnissen seiner Eltern ab. Wenn sie einen naiven, schwachen, leicht zu kontrollierenden Menschen brauchen, kann das Kind dazu gebracht werden, nicht zu denken. Es kann sich in seinen Körper flüchten, wenn sie einen Athleten brauchen. Wenn sie dem Intellekt hohen Wert beimessen, kann es sich seinem Verstand zuwenden und Mathematiker werden und sich in Abstraktionen verlieren. Das soll nicht etwa heißen, intelligente Menschen könnten keine Mathematiker werden. Es heißt lediglich, daß Mathematik zur Abwehr des Neurotikers werden kann; je abstrakter, desto besser.
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Der Superintellektuelle agiert Klugsein aus, während der Dumme Dummsein ausagiert. So wie der überdrehte Mensch Lebhaftigkeit ausagiert (um zu demonstrieren, daß er noch lebendig ist), während der leblose Mensch »Tot«-sein ausagiert.
Nach Urerlebnissen kommt es manchmal zu erstaunlichen Veränderungen der Art und Weise, wie ein Mensch seinen Intellekt einsetzt. Ein Wissenschaftler stellte sich während eines Primais schließlich vor seinen Therapeuten (der für seinen Vater stand) und bettelte um Liebe. Die Verknüpfung, die er herstellte, lautete folgendermaßen: »Ich konnte meinen Vater nie direkt um Liebe bitten. Ich meinte immer, ich müsse sie mir verdienen. Und so wurde ich klug. Das war meine Art zu bitten.« Anschließend war er nicht länger der fleißige Mensch, begierig zu publizieren und »es der Welt zu zeigen«.
Ein anderer Patient, ebenfalls ein Intellektueller, hatte ein ähnliches Urerlebnis: »Erklär du es mir doch, Papi, damit ich nicht alles selbst herausfinden muß.« Wann immer er seinen Vater etwas gefragt hatte, antwortete der Vater: »Finde es selbst heraus, das bildet deinen Charakter.« Darum hörte er auf, Fragen zu stellen, und wurde klug und versuchte zwanghaft, alles selbst herauszufinden. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, beim Autofahren nach dem Weg zu fragen. Er agierte »klug« und versuchte, seinen Weg immer ohne fremde Hilfe zu finden.
Ein anderer Patient hatte ein Urerlebnis, bei dem er ständig aus der Wiege aufgenommen und anschließend wieder zurückgelegt wurde. Er verstand nicht, was da mit ihm geschah, und bei einem späteren Urerlebnis ging es um folgendes: »Ich muß herausfinden, was hier geschieht, sonst werde ich verletzt.« Darum fütterte auch er seinen Kopf mit irrelevanten Fakten, wurde Psychologe, um herauszufinden, warum Menschen mit anderen so umgehen, wie sie es tun. Er entwickelte in seiner Psychotherapie ein Gedankengebäude (Theorie genannt), an dem sich in den gut zehn Jahren, die er praktizierte, nicht das geringste änderte. Er lernte in der Primärtherapie, daß sich seine Auffassungen nicht änderten, solange er die Gefühle, die diesen Auffassungen zugrunde lagen, nicht fühlte. Er konnte zum Beispiel nie von der Auffassung ablassen, Psychotherapie sei ein Prozeß des etwas Herausfindens, bis er schließlich fühlte, warum er alles im Leben »herausfinden« mußte — anstatt die Dinge einfach sein zu lassen.
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Dieser Mann hatte ein anderes interessantes Urerlebnis, nachdem er begonnen hatte, selbst als Primärtherapeut zu arbeiten. Er hatte Schwierigkeiten mit einem Patienten, der mehrere Tage lang nicht zu seinen Gefühlen vordringen konnte. Der Therapeut begann sich »dumm« zu fühlen. Je weniger der Patient vorankam, um so dummer fühlte sich der Therapeut. Er machte Fehler, indem er mit dem Patienten intellektualisierte und sich klug gab. Dann hatte der Therapeut selbst sein Urerlebnis. Er fühlte, daß es in dieser Therapie für ihn keine Möglichkeit gab, sich klug zu geben, so wie er es fast sein Leben lang getan hatte. Er konnte nicht wie üblich seinen Weg aus dem Problem »herausfinden«. Er hatte für seine Mutter zeit seines Lebens klug sein müssen, und er selbst sein war gleichbedeutend mit dumm sein. Er fühlte schließlich, daß er nichts anderes sein könnte als er selbst — das war klug. Vorher hatte er sich selbst verleugnet und klug agiert — und das war, aus der Sicht der Primärtheorie, dumm.
Neurotische Gesellschaften fördern die Zweiteilung Körper-Geist. Es gibt körperliche und geistige Arbeit. Dem populären Mythos zufolge erwartet man von einem Arbeiter keine eloquenten Reden und von einem Intellektuellen nicht, daß er körperliche Arbeit leistet. Beide können aufgrund ihres Gespaltenseins ausgebeutet werden. Ihre Muskelkraft und ihr Verstand werden im Dienst des Systems mißbraucht und korrumpiert. Die Trennung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit bedeutet, daß ein Intellektueller etwas studieren und erforschen und mit Lösungen kommen kann, die für reale Menschen keinerlei Bedeutung haben. Der Arbeiter kann auf eine geistlose Arbeit festgelegt werden und seinen Verstand kein einziges Mal gebrauchen. Intelligente Menschen würden eine neurotische, gespaltene Gesellschaft nicht tolerieren. Sie wären nicht zufrieden, einen Job auszuüben, der kein Denken verlangt. Ich glaube, die neurotische Spaltung ist schuld daran, daß nicht schon viel früher eine wirklich psychobiologische Psychotherapie entdeckt wurde. Geistesarbeiter (Psychologen) haben versucht, »geistige« Lösungen für psychobiologische Probleme zu finden.
Wie kommt es, daß Postprimärpatienten infolge ihrer Behandlung intelligent werden? Ein entscheidender Grund liegt darin, daß sie die Verbindungen zwischen den Ereignissen sehen können. Was sie sehen, fügt sich in einen Bezugsrahmen ein. Ein Großteil ihrer früheren Gedanken und Einstellungen basierte auf blockierten Gefühlen. Die Blockaden zu entfernen bedeutet, diesen Ideen ihre Basis zu entziehen. Und damit ist der Weg für neues, auf Realität fußendes Denken geebnet.
Ein Patient, der zuvor die Arbeit im Peace Corps als »humanitäres« Unterfangen ansah, sah darin später eindeutig das, was es für ihn war: ein Bemühen, andere dazu zu bewegen, ihn zu lieben. Nach mehreren Urerlebnissen, die sich um das Thema »Dienst am anderen« drehten, verstand er, welche Triebkräfte ihn bewogen hatten, als Sozialarbeiter in einem schwarzen Getto zu arbeiten, und er verstand, was Arbeiten dieser Art für den Neurotiker in Wirklichkeit bedeuten.
Autoren mit neuer Erkenntnis menschlichen Verhaltens schreiben mit einem neuen, früher nicht vorhandenen erfrischenden Tiefblick. Geschichtsstudenten verstehen plötzlich die Gründe für Krieg und Armut, weil sie gewagt haben, das »Warum« der Dinge zu fühlen.
Früher mögen sie sich damit zufriedengegeben haben, Daten von Kriegen und wirtschaftlichen Depressionen auswendig zu lernen, in dem Glauben, Geschichte verstanden zu haben, obwohl sie im Grunde nichts anderes als isolierte Fakten verstanden hatten. Ihre eigene Oberfläche durchdrungen zu haben, ermöglichte es ihnen, in die Tiefen anderer Dinge vorzudringen. Weil sie eine neue Ruhe fühlen, lassen sich einige von ihnen nicht mehr durch mathematische und logische Probleme aus der Fassung bringen. Es stellt sich nicht mehr automatisch Angst ein, wenn sie über etwas nachdenken müssen. Sie können neue Daten aufnehmen, weil ihr Verstand nicht von der Vergangenheit vollgestopft ist. Ihr Denken gewinnt eine neue Kreativität, weil sie die Freiheit haben, in neuen Kombinationen zu denken, anstatt in den immer gleichen alten, festgefahrenen Bahnen. Sie werden »klug«, weil sie keinen Grund haben, an bestimmten Denkmustern festzuhalten, die im Grunde doch nichts anderes waren als Abwehrmechanismen im Gewand der Logik.
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