19 Betrachtungen über Implikationen der Primärtherapie
Über den Kontext und dessen Bedeutung (193) Über Regression (195) Symptombildung (197) Über Redundanz, Zwänge und wiederkehrende Symptome (201) Über.Kontrollverlust (203) Immer mehr (206) Über den Begriff absoluter Gerechtigkeit (208) Über die Begriffe latent und potentiell (209) Neurose als etwas Physisches (209) Die unreale Fassade (210) Über Phobien und Angst (212) Der Kalte Krieger (214) Über Sprache (218) Ambivalenz (Vivian Janov) (219) Über.Weinen (Vivian Janov) (221) Über Wünsche und Fürsorglichkeit (222) Über die Ehe (223) Über Tod und Trauer (225) Es führt kein Weg zurück (226) Gewalttätigkeit in den Medien (227) Der Mythos der Begegnungszentren (231) Das Wesen des Selbst (232) Über das Wesen der Freiheit (234) Über.Ehrlichkeit (236)
Über den Kontext und dessen Bedeutung
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Kürzlich sprach ich mit einem Patienten, der gerade ein Urerlebnis beendet hatte, in dem er schreiend und trampelnd auf sein Laufställchen eingeschlagen hatte. Er kam aus diesem Urerlebnis und sagte: »Ich fühle mich so gelöst. Jetzt kann ich meinen Körper wirklich frei bewegen.« Ich bemerkte, er habe das doch sicher immer gekonnt. Er war nämlich Mitglied eines <Growth Centers> gewesen, bei dem regelmäßige Körperübungen dazugehörten.
Was war so anders? Er sagte: »Natürlich konnte ich mich als Erwachsener frei und ungehemmt bewegen, aber als Kind habe ich es nie gekonnt.« Solange er nicht fühlte, was ihn in der Vergangenheit einengte, solange er die Szenen nicht fühlte, in denen ihm ständig gesagt worden war, er solle stillsitzen, solange er sich nicht endlich als jenes Baby bewegen konnte, waren seinem Körper Schranken auferlegt.
Ein anderes Beispiel:
Ein homosexueller Patient hatte als Erwachsener Hunderte flüchtiger sexueller Erlebnisse. Er wurde erotisiert, sobald ihm jemand über die Brust streichelte. Er meinte, seine Brust sei bei ihm die erogene Zone. Während eines Urerlebnisses, in dem er ein tiefes Bedürfnis nach seiner Mutter fühlte, legte ich ihm meine Hand auf die Brust. Sein Körper wand sich in schmerzhaften Krämpfen, als er dieses heftige frühe Bedürfnis, von seiner Mutter besänftigt zu werden, erlebte.
Seine Einsicht lautete: »Ungezählte Male haben Liebhaber meine Brust gestreichelt, und ich dachte immer, das sei ein sexuelles Gefühl. Erst als ich in meinem Urerlebnis, als Sie mir die Hand auf die Brust legten, diese Woge von Schmerz fühlte, wurde mir klar, daß alle vorherigen vermeintlichen Sexualgefühle nichts anderes waren als Schmerz, der mir in den Schwanz stieg.« Bevor der die Berührung im Kontext fühlte, rief jede Berührung, die er als Erwachsener empfing, blockierte Gefühle hervor. Das heißt, seine sexuelle Erregung, wenn er von einem Liebhaber berührt wurde, war kein Fühlen, sondern umgelenkte Empfindung. Frühe Gefühle waren blockiert und zu den Genitalien umgelenkt worden, damit dieser Schmerz, sprich Fühlen, umgangen werden konnte.
Solange ein Primärkontext nicht erlebt wird, ist fast alles ein Ersatz für die wirkliche Sache.
Essen, Sex, Geld — das alles sind Dinge, die eingesetzt werden, um Gefühle zu ersticken, und sie sind letztlich unbefriedigend. Aus diesem Grund sind homosexuelle Beziehungen oft so flüchtig, und darum braucht man immer mehr Geld, mehr Macht und mehr Ansehen. Darum brauchen wir immer mehr Komplimente oder Zuwendung. Ein Mensch braucht nach einem Schwall von Komplimenten nur ein einziges Wort der Kritik zu sagen, und das, was hängenbleibt, ist dieses Wort der Kritik. Das ist so, weil die Kritik den Primärkontext ausgelöst hat — das heißt, das reale Fühlen des Betroffenen —: Komplimente sind nur kurzfristig wirkende Beruhigungsmittel, die das Fühlen im Schach halten.
Das bedeutet, daß Urerinnerungen den Körper in seiner Unbeweglichkeit, in seiner Starre, in seiner Frigidität etc. gefangenhalten, bis sie ins Bewußtsein gehoben werden — nicht in das intellektuelle Erwachsenenbewußtsein, nicht in das analytische, einsichtsvolle Bewußtsein, sondern in jenes Bewußtsein, das aus freigesetzten Urerinnerungen erwächst — ein Bewußtsein, das aus Gefühlen aufsteigt. Neurosen Erwachsener sind in diese eingekapselten Erinnerungen eingebettet, und sie sind der Kontext für neurotisches Verhalten.
»Ordnung im Kopf« zu schaffen, ist nur eine bedingte Hilfe, weil es sich dabei um den »Erwachsenenkopf« handelt. Selbst wenn man sich eine neue und gesunde Einstellung gegenüber sexuellen Fragen aneignet, halten die Urerinnerungen den Körper frigide. Die alte, ungesunde Einstellung verläßt uns nicht, auch wenn wir uns als Erwachsene eine neue aneignen. Sie wird lediglich überdeckt. Die alte Einstellung bleibt dem Bewußtsein weiterhin unzugänglich, weil sie in Schmerz gehüllt ist.
Wir sehen daran, wie nutzlos Konfrontations- und Begegnungstherapien sind. Während der Therapeut in der Gegenwart operiert, lebt der Patient aus seiner Vergangenheit heraus. Der Patient bringt in der Gruppentherapie den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber Wut zum Ausdruck, doch seine reale Wut richtet sich gegen seine Eltern. Wut auszudrücken ist mithin keine Lösung, da es außerhalb des Kontextes geschieht. Solange der Therapeut den Kontext nicht versteht und nicht darauf eingeht, verirrt er sich in dem symbolischen, abgeleiteten Labyrinth der Neurose des Patienten. Er hilft dem Patienten krank zu bleiben, obwohl er alles unternimmt, um ihn gesund zu machen.
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Der Kontext ist das Reale in uns. Eine drastische Veränderung ist nicht möglich, ohne sich damit auseinanderzusetzen. Blockierte Gefühle freizusetzen schafft unneurotische, fühlende Erwachsene. Die Dialektik besteht darin, daß wir um so erwachsener werden und als Erwachsene an um so mehr Dingen Freude haben, je mehr wir von unserer Kindheit fühlen. Je weniger wir davon fühlen, um so mehr wird bewahrt, um so mehr hat es Einfluß auf unser Verhalten als Erwachsene und um so mehr muß es auf die eine oder andere Weise besänftigt werden. Das Baby zu sein befreit den Erwachsenen.
Über Regression
Der Begriff der Regression ist in der Psychologie seit Freud geläufig. Generell bedeutet Regression eine Rückkehr zu früherem, unreiferem Verhalten. Ein regredierter Mensch ist infantil, abhängig, und oft ist er unfähig, für sich selbst zu sorgen. In der Psychoanalyse gilt Regression als Zeichen psychischen Gestörtseins. Meine These lautet: Was Psychologen gemeinhin als Regression bezeichnen, gibt es nicht.
Mein Interesse an dem Konzept der Regression wurde geweckt, nachdem ich vor Fachleuten Vorträge gehalten hatte und von ihnen wiederholt mit der Frage konfrontiert wurde: »Ist es möglich, daß jemand in der Primärtherapie zum Säuglingsalter regrediert und nicht wieder zurückkommt?« Sie verwiesen darauf, daß Psychotiker für gewöhnlich infantil sind und nicht für sich selbst sorgen können, und fragten, ob das nicht genau das sei, was wir bewirken.
Ich bin der Auffassung, daß Neurotiker sich in einer permanenten Regression befinden. Das heißt, sie haben nie Fortschritte gemacht. Sie agieren ihr kleines Selbst aus, nur sind sie sich dessen nicht bewußt. Abwehr ist Erwachsenenverhalten. Wir sind symbolisch reif, während wir in Wirklichkeit unreif oder kindisch sind. Unsere frühen Gefühle begleiten uns auf Schritt und Tritt, sie sind als Erinnerungen gespeichert, sie üben ihre Kraft auf uns aus und können jederzeit zum Vorschein kommen, sobald das unreale, symbolische, erwachsene Selbst beseitigt ist. Es ist nicht so, als gingen wir in der Zeit zurück und würden Kinder. Wir gehen zu dem zurück, was in unserem Gesamtkörpersystem jetzt real ist, nämlich diese Kindergefühle. Wir lassen Menschen nicht regredieren, sie sind bereits dort.
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Der beste Beweis für diese These findet sich in Träumen.
Sobald unser bewußtes Abwehrverhalten im Schlaf geschwächt ist, werden wir zu Kindern — wir sind wieder zurück in unserer Kindheit, in der alten Nachbarschaft, in der alten Schule etc. Regredieren wir im Schlaf? Es so zu bezeichnen, wäre nicht zutreffend. Wir gehen zu dem, was real ist. Der gleiche Vorgang spielt sich in der Hypnose ab. Wir können einen Menschen in der Hypnose altersmäßig regredieren lassen und ihn zum Beispiel in das Alter von fünf Jahren zurückversetzen. Er wird sich als Fünfjähriger fühlen, weil die Geschehnisse jener Zeit in der Gedächtnisbank gespeichert sind. Ich erinnere mich, daß ich vor Jahren meine Kinder in Hypnose versetzte, wenn ich aus ihren Händen tiefe Splitter entfernen wollte.
Als mein Sohn acht war, hypnotisierte ich ihn einmal und brachte ihn zu Erinnerungen als Fünfjähriger. Nachdem ich ihn wieder aus der Hypnose zurückgeholt hatte, sagte ich ihm, er solle ins Bett gehen, denn es war schon spät. Versehentlich vergaß ich jedoch, ihm zu sagen, daß er acht war. Er konnte das Schlafzimmer nicht finden; als er fünf war, lebten wir in einem anderen Haus. Das ist mit Sicherheit so ein Fall, wie ihn diese Fachleute im Sinn haben, wenn sie sich über Primärpatienten Gedanken machen, die in der Zeit zurückgehen.
Es besteht jedoch ein sehr wichtiger Unterschied zwischen hypnotischer Regression und Urerlebnissen. In der Hypnose wird das Bewußtsein eingeengt, so daß die Verknüpfung zu späteren Erlebnissen abgetrennt wird. Das heißt, der Hypnotisierte ist fünf Jahre alt. Bei Urerlebnissen hingegen wird das Bewußtsein erweitert, so daß die frühen Erinnerungen letztlich verknüpft werden. Der Grund dafür, daß man Psychotiker als regrediert bezeichnet, liegt gerade in dieser Abtrennung der Verknüpfung. Der Psychotiker war nicht in der Lage, ein reifes, gesellschaftlich akzeptiertes Abwehrverhalten zu schaffen. Er ist voll und ganz das Kind. Bewußtsein ist der ausschlaggebende Faktor, der es Menschen ermöglicht, Reife zu erlangen. Die Abtrennung der Verknüpfung hält uns in der Vergangenheit gefangen.
Um erwachsen zu werden, muß man sich klein fühlen, so widersprüchlich das auch erscheinen mag. Der Mensch, der wirklich in seiner Vergangenheit steckengeblieben (regrediert) ist, ist der gut funktionierende, abgeschirmte Neurotiker, der zu seiner Kindheit keinen Zugang hat.
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Bislang lag das Problem darin, daß Psychologen und Psychiater ihre Patienten unreif und kindlich agieren sahen und sich darauf konzentrierten. Abwehrverhalten dagegen aufzubauen. Sie halfen dadurch gerade die eine Sache zu verdecken, die Reife sichergestellt hätte — Fühlen. Neurotiker erwecken den Anschein der Reife, weil ihr symbolisches Selbst dementsprechend agiert.
In der Primärtherapie nehmen wir den Bart, die Zigaretten und die raffinierte Fassade fort und helfen dem Menschen, sich klein, unwichtig und hilflos zu fühlen. Alles, was bewußtes Abwehrverhalten beseitigt, bringt das Kind zum Vorschein. Hypnose und Schlaf tun das. Und Psychose ist nichts anderes als ein Zustand, der eintritt, wenn ein Mensch unfähig ist, das symbolische, seiner Kultur angemessene Verhalten zu entwickeln. Man kann nur dann in seiner Kindheit steckenbleiben, wenn man sie nicht fühlt. Kurz gesagt, so etwas wie Regression bei psychischen Störungen gibt es nicht. Regression ist im Grunde gleichbedeutend mit »Primär-« oder »Urzustand«. Wenn er gefühlt wird, ist er vorbei. Wenn er nicht gefühlt wird, wird er symbolisiert und bleibt.
Symptombildung
Ein spannungsfreier Körper wird wesentlich länger leben. Wir werden unter Umständen den menschlichen Lebenszyklus neu bedenken und Jahrzehnte hinzufügen müssen, wenn meine Annahmen zutreffen. Ich habe mir darüber gerade kürzlich anläßlich eines seit dreißig Jahren regelmäßig bei mir wiederkehrenden Alptraums Gedanken gemacht. Der Inhalt ist hier nicht von Belang. Was geschah, war, daß ich während dieses Alptraums offen genug war, die Verknüpfung zu dem Schrecken herzustellen; ich hatte im Schlaf ein Urerlebnis, schrie und schlug um mich, hatte Dutzende von Einsichten und wachte dann auf. Ich hatte noch immer heftiges Herzklopfen von dem Urerlebnis. Früher hatte ich diesen Alptraum für gewöhnlich ein- oder zweimal im Monat, wachte jedesmal von dem Herzklopfen auf, lag dann verängstigt eine Weile wach und schlief wieder ein. Ich wußte, daß mein Gesamtkörpersystem Herzklopfen dieser Stärke nicht mehr allzu lange verkraften könnte, ohne daß es irgendwann zu einem Herzinfarkt käme.
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Mit zunehmenden Urerlebnissen hatte sich mein Gesamtkörpersystem geöffnet, so daß ich schließlich die Verknüpfung zu dem Ursprung des Schreckens herstellen konnte. Wäre ich weiterhin blockiert geblieben, hätte dieser Angriff auf meinen Organismus mich eines Tages zur Strecke gebracht, und ich hätte nichts tun können (außer Urerlebnisse zu haben), um das zu verhindern.
Ich möchte diese Nacht unter einem anderen Aspekt erörtern. Ich hatte mich nämlich eine Woche vor dem Alptraum einer Zahnhalsbehandlung unterzogen und wegen der Schmerzen Demerol nehmen müssen. Ich habe das Demerol am Tag vor dem Alptraum abgesetzt. Heute weiß ich, daß der Alptraum durch das Absetzen des Schmerzmittels ausgelöst wurde.
Das bringt mich zu der Annahme, daß schmerzlösende Mittel und Tranquilizer die weitaus gefährlichsten Drogen sind. Dadurch, daß ich den Schmerz die ganze Woche über unterdrückt hatte, staute sich ein Druck an. Als ich das Mittel absetzte, trat ein Rückstoßeffekt ein, bei dem der gesamte Druckschmerz im Schlaf auf einmal freigesetzt wurde. Mein Gesamtkörpersystem konnte all den Schmerz nicht integrieren, und so wurden Symptome gebildet — Herzklopfen. Zum Glück war ich offen genug, um den Schmerz mit dem Bewußtsein zu verknüpfen und ein Primal zu erleben. Der Alptraum stellte sich ein, weil der ganze, auf einmal freigesetzte Schmerz nicht sofort verknüpft werden konnte, ich mußte ihn deshalb teilweise symbolisch verarbeiten. Das heißt, der Körper verarbeitete den Schmerz; der Kopf, unfähig, die angemessene Verknüpfung herzustellen, rationalisierte die Traumgeschichte zu etwas Symbolischem. Solange das Erlebnis unverknüpft und somit symbolisch blieb, konnte es nicht aufgelöst werden, und es wäre wieder und wieder aufgetreten, bis ich meinen Herzinfarkt gehabt hätte.
Dieser aufgestaute Druck war unter anderem darauf zurückzuführen, daß ich in einer normalen, drogenfreien Woche schwächere Träume gehabt hätte, die einen Teil dieser Spannung beseitigt hätten. Diese Träume wären vielleicht beängstigend, aber keine Alpträume gewesen. Aufgrund dieser Zusammenhänge glaube ich, daß Tranquilizer und schmerzstillende Mittel den Tod beschleunigen und, ehe es dazu kommt, psychische Störungen intensivieren. Gewiß, sie beruhigen den Menschen tatsächlich, sie verhelfen ihm dazu, sich besser zu fühlen, und reduzieren oft seine Halluzinationen und Wahnvorstellungen (das heißt, sie reduzieren vorübergehend sein Bedürfnis zu symbolisieren), doch es bildet sich ein Rückstoßeffekt, der nach Absetzen der Drogen zu noch stärkerer Symbolbildung führt als vorher. Das ist so, weil man Wahrheit nicht auslöschen kann; und die Wahrheit des Neurotikers sind seine dem Körper eingeprägten, mit Schmerz verbundenen Rückkoppelungsschleifen. Tod ist der Preis, den wir dafür zahlen, daß wir diesen Schmerz niederdrücken.
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Dazu fällt mir ein weiteres Beispiel ein, das, wie ich hoffe, zum Verständnis von Symptombildung beiträgt. Ein Patient wollte im letzten Monat seiner Behandlung seine Therapie vorantreiben und nahm, ohne seinen Therapeuten zu konsultieren, eine kleine Dosis LSD. Er wurde von Schmerz überflutet. Sein Körper war unfähig, eine derartige Überschwemmung zu absorbieren, und produzierte einen scharfen Schmerz in seinem Magen, der erst Monate später verschwand. Er ging zu einem Arzt, und die Diagnose lautete »Ulcusverdacht«. Er nahm Antacida, Antispasmotica, alles ohne Wirkung. Er hatte auch weiterhin kleinere Urerlebnisse.
Erst Monate später war er dann eines Tages soweit, daß irgend etwas ein sehr frühes Urerlebnis auslösen konnte. Es handelte von der grauenhaften Angst, daß niemand kommen würde, um ihn zu füttern, und war verbunden mit entsetzlichen Magenschmerzen und dem Wimmern eines Babys. Er kehrte aus dem Urerlebnis schmerzfrei zurück und hat seither keine Beschwerden mehr gehabt. Er stellte die Verknüpfung erst her, als sein Körper dazu bereit war. Bis es soweit war, besagte sein Körper, daß er mit mehr Schmerz überflutet wurde, als er handhaben konnte, und so traten die Symptome auf. Und zwar waren es spezifische Symptome. Sie waren auf den Bereich seines ursprünglichen Traumas, seiner ursprünglichen Entbehrungen konzentriert. Das LSD hatte wahllos zu viele Schmerzen freigesetzt, sie konnten nicht integriert werden. Sie konzentrierten sich auf diesen frühesten und verletzlichsten Bereich.
Körperliche Symptome resultieren ebenso wie psychische Symptome — zum Beispiel Halluzinationen, Wahnvorstellungen oder Alpträume — aus einer Schmerzüberlastung. Beide zeigen an, daß das Gesamtkörpersystem mit dem Schmerz nicht fertig wird, daß es ihn abblockt, und der Schmerz wird dann als Druck gefühlt, der in Körper und Geist steigt. Die Symptome sind das natürliche Ergebnis unseres Bemühens, den Schmerz auf irgendeine Weise zu absorbieren. Wenn er nicht in einem Urerlebnis verknüpft werden kann, fühlen wir den Schmerz nicht, wir nehmen ihn nur als Empfindung wahr, als reinen Schmerz im Körper wie einen Messerstich hier und dort.
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Im allgemeinen (wenn auch mit vielen Ausnahmen) zeigt sich der Grad der Verdrängung daran, wie tief die Symptome im Körper verankert sind. Wir haben erlebt, daß bei hochgradig verdrängenden Patienten mit Magen- und Darmgeschwüren eine Besserung eintrat, daß aber später, als ihre Gefühle näher zur Oberfläche kamen, Hautbeschwerden auftraten. Wir hatten Fälle, bei denen sich Magenschmerzen in die Brust verlagerten, während bei wieder anderen Hämorrhoiden verschwanden und dann Magenbeschwerden auftraten. Ohne Frage gibt es Schlüsselorgane, die Zielscheibe besonderer Verletzlichkeit und Schwäche sind, die permanent Schmerzzustände widerspiegeln, so daß jede Spannung ein Symptom in diesem Bereich hervorruft.
Ich möchte noch einiges zu meinem Alptraum sagen. Schlaf im Sinne der Primärtheorie bedeutet nicht notwendigerweise Unbewußtsein. Viele Menschen sind auch im Wachzustand wesentlich unbewußter als Postprimärpatienten im Schlaf. Menschen, die Urerlebnisse gehabt haben, ist es möglich, im Schlaf durch das Medium Traum frühe Urschmerzen zu integrieren. Schließlich bedeutet die Tatsache, daß ich im Schlaf während meines Alptraums Verknüpfungen herstellen konnte, daß ein Bewußtsein dieses Erlebnisses vorhanden war. Das heißt, daß während meines Schlafens Bewußtsein vorhanden war.
Das bedeutet, daß es bei Primärpatienten ein Zusammenfließen von Bewußtsein und Unbewußtsein gibt; das ist ein Kontinuum, das es manchmal schwer macht, zwischen beiden Stadien zu unterscheiden. Es liegt ein Ineinandergehen von Bewußtsein und Unbewußtsein vor, und so sollte es sein. Denn nach Urerlebnissen wird alles, was unbewußt war, bewußt, Tag und Nacht, im Schlaf wie im Wachen. Kurz gesagt, alles ist dem Bewußtsein zugänglich. Keine Geheimnisse des Körpers, keine Träume, die nicht ergründet werden könnten, keine Symptome, die nicht verstanden werden (es sei denn, es handelt sich um seltene, rein körperliche). Ich habe anhand meiner eigenen Urerlebnisse festgestellt, daß meine Träume und Alpträume bevorstehende Urerlebnisse ankündigen. Das heißt, sie betreten mein bewußtes Leben zunächst in meinen abwehrfreien Träumen. Ich kann sie erst einmal symbolisch verarbeiten und lediglich einen Alptraum haben, aber ein oder zwei Tage später kommt es dann zu einem Urerlebnis. Denn ein Alptraum ist nichts anderes als ein symbolisiertes Urerlebnis.
Wenn es allgemein klar wird, daß Urschmerzen töten, daß sie dem Leben viel zu früh ein Ende setzen, dann wird sich der Allgemeinheit mit aller Dringlichkeit die Frage nach der Notwendigkeit der Primärtherapie stellen. Die Gesellschaft wird sich auf ein breit angelegtes Programm zur Behandlung der realen Todesursache — nämlich Urschmerz — einstellen müssen. Herzversagen, Schlaganfälle, Nierenversagen und ähnliche Katastrophen — dies sind die Folgen. Das sind die Bereiche, die letztlich dem unglaublichen Druck zum Opfer fallen, der nichts anderes ist als Urschmerz. Man braucht diesen Druck in einem Urerlebnis bei anderen nur mitzuerleben, oder besser noch, selbst zu erfahren, um zu erkennen, welch gewaltige Energie wir ständig unterdrücken und was für ein Wunder es ist, daß wir Menschen mit diesem Druck herumlaufen können und nicht einmal davon wissen!
Über Redundanz, Zwänge und wiederkehrende Symptome
Meine Frau wirft mir gelegentlich Redundanz vor. Ich komme zum Beispiel abends nach Hause und sage oft etwas wie: »Wirklich, ich mag dieses Haus unheimlich gern. Laß uns die Hypothek abzahlen und es wirklich besitzen.« Das erscheint recht trivial.
Vor kurzem beschloß eine Baufirma, ein großes Areal in unserer Nähe zu erschließen, und das hätte bedeuten können, daß wir umziehen müssen. Das machte mir Angst. In dem Urerlebnis, das ich deswegen hatte, fühlte ich: »Nie hatte ich ein richtiges Zuhause, und jetzt, nachdem ich endlich eins habe, werde ich gezwungen, wieder auszuziehen.« Dieses Gefühl »Ich brauche ein wirkliches Zuhause« resultierte aus einer Unzahl von Erfahrungen, daß ich in einem Haus wohnte, das ich nie als das meine empfand — in dem ich kein einziges Mal auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, das zu essen, was ich wollte (anstatt immer das zu essen, was mir gerade vorgesetzt wurde). Ich lebte in dem Haus der »anderen«. In meinen Gedanken über mein gegenwärtiges Zuhause gab es eine Redundanz (es wirklich besitzen zu wollen), weil ich dieses alte Gefühl nie gefühlt und aufgelöst hatte. Mein Gedanke und das Bedürfnis, mein eigenes Haus besitzen zu wollen, kehrten jedesmal wieder, sobald sich mir dieses alte Gefühl aufdrängte. Ich mag mein Haus noch immer, und ich brauche noch immer ein wirkliches Zuhause, aber ich hänge nicht mehr so übertrieben daran.
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Aufgrund dieser ganzen Geschichte gewann ich ein neues Verständnis für andere Arten der Redundanz wie Zwangshandlungen, wiederkehrende Träume und Symptome. Das ist alles ein und dasselbe. Ein Mensch wird wiederkehrende Kopfschmerzen haben, sooft ihn sein Urgefühl heimsucht, so wie ein anderer aus dem gleichen Grund den Zwang verspüren wird, sich zu exhibieren. Ein wiederkehrender Traum ist ein weiterer Aspekt des gleichen Phänomens. In der Tat bezieht jedes stabile neurotische Verhalten seine Kontinuität aus dem ihm zugrunde liegenden ungelösten Urgefühl. Mithin ist es kein Wunder, daß eine Heilung von Zwängen oder wiederkehrenden Symptomen eintritt, wenn die ihnen zugrunde liegenden Gefühle verschwunden sind.
Die Vorstellung, daß Redundanz an Urgefühle gebunden ist, hilft uns, Kreativität etwas besser zu verstehen. Es gibt Künstler, die jahrzehntelang immer wieder dieselbe (künstlerische) Aussage machen. Sie erleben keine Entwicklung, keine Veränderung. Ein Dixieland-Jazzmusiker kann zum Beispiel fünfzig Jahre lang haargenau dieselbe Musik spielen. Obwohl sich die Zeiten, Stile und Vorstellungen ändern, lebt er immer noch in der Vergangenheit. Vielleicht gibt es gute künstlerische Gründe für dieses Bedürfnis, ein Erbe zu erhalten, doch hier geht es darum, daß dieser Künstler redundant und mithin oft langweilig ist. Daß Redundanz in künstlerische Form gehüllt ist, ändert nichts an der Tatsache selbst. So gesehen ist der wirklich kreative, der sich entwickelnde Künstler derjenige, der frei von seiner Vergangenheit ist.
Das Zwangssymptom (oder die Zwangsvorstellung, zum Beispiel die, mein eigenes Haus besitzen zu wollen) hat die Funktion, das Fühlen zu beruhigen. Ein Patient begann, sobald er ängstlich wurde, Bücher zu lesen. Die Zwangshandlung hat im Gehirn eine sehr ähnliche Wirkung wie ein echter Tranquilizer; die Gehirnrinde wird aktiviert, um Gefühle zu verdrängen. Sobald ich anfing, dieses schmerzhafte Gefühl zu fühlen: »Nie hatte ich ein eigenes Zuhause«, entwickelte ich, anstatt es wirklich zu fühlen, den Gedanken, ich müsse mein eigenes Haus besitzen. Dieser Gedanke beruhigte und unterdrückte das reale Gefühl.
Zwänge, vorausgesetzt sie funktionieren gut, können Tabletten ersetzen. Das ist der Grund, warum ein Mann, der sich von seinem Geschäft oder Beruf verschlingen läßt, so gut klarzukommen scheint. Es wäre sinnlos, ihm zu sagen, er solle die Dinge leichter nehmen; im Gegenteil, würde man ihn von seiner Arbeit entfernen oder pensionieren, nähme man ihm sein natürliches Beruhigungsmittel und Überließe ihn schutzlos eingepferchter Spannung, und das kann leicht zu einem Herzinfarkt führen.
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Eine Tagesliste mit den erfolgten Telefonanrufen drosselt das Gefühl, von niemandem gewollt zu werden. Große Geschäftsabschlüsse unterdrücken das Gefühl, unbedeutend zu sein. Die Auflösung zugrunde liegender Urgefühle beseitigt mit einem Schlag Zwangssymptome, Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen.
Über Kontrollverlust
Eine der häufigsten Fragen künftiger Primärpatienten lautet: »Ist es nicht gefährlich, so die Kontrolle zu verlieren?« Diese Frage bezieht sich zweifellos auf die Tatsache, daß Primärpatienten sich »gehenlassen«; sie lassen die Dinge mit sich geschehen und versuchen nicht, sich unter Kontrolle zu halten. Um die Frage zu beantworten, was passiert, wenn ein Mensch die Kontrolle verliert, bedarf es zunächst einer Antwort auf die Frage: »Die Kontrolle über was?« Und diese Antwort lautet: »Die Kontrolle über das eigene Selbst.«
Für den Neurotiker bedeutet der Kontrollverlust, daß das verdrängte Selbst, die Jahre des Hasses, der Traurigkeit und der Angst plötzlich entfesselt werden. Für normale Menschen besteht darin kein Problem. Bei ihnen gibt es keine unterschwellige Primärkraft, und somit ist ein Kontrollverlust für sie nicht an ein Problem gebunden. Kontrolle ist nur ein Ausweg, weil wir mit psychologischen Theorien aufgewachsen sind, die das Unbewußte von einem Danteschen Inferno umgeben sehen, das nur darauf lauert, durchzubrechen. Diese Theorien wurden anhand von Beobachtungen an Neurotikern entwickelt; wenn Neurotiker die Kontrolle verlieren, steigt die gesamte verdrängte Kraft auf, und zwar mit einer solchen Regelmäßigkeit, daß es den Anschein hat, es handele sich um etwas Genetisches oder Angeborenes. Die Dialektik bei Kontrollverlust in der Primärtherapie liegt darin, daß der Patient um so kontrollierter wird, je stärker der Kontrollverlust ist. Anders gesagt, die Kontrolle fällt leichter, wenn es weniger verdrängte Gefühle gibt.
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Wie hat es zu dieser Kontrolle überhaupt erst kommen können? Warum haben wir Kontrolle so zu einer Tugend erhoben? Und warum haben wir sie in einem so starken Maße internalisiert? Ich werde eine vereinfachte Antwort geben.
Es hat etwas mit Bedürfnissen zu tun. Wenn sich eine Gesellschaft dergestalt formiert, daß es eine Elite, eine Klasse von Ausbeutern gibt, die von der Arbeit anderer lebt, dann werden die Bedürfnisse einiger Gruppen nicht erfüllt, während andere, der Elite Zugehörige, im Überfluß leben. Um die ausgebeuteten Mitglieder daran zu hindern, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und durchzusetzen, bedarf es der Kontrolle. Diese Kontrolle findet auf verschiedene Weisen statt.
Zunächst ist da die brutale Gewalt; Strafandrohung gegenüber jenen, die die Befriedigung ihrer Bedürfnisse fordern. Das ist jedoch eine äußerst plumpe und unsubtile Art. Die subtilere Methode besteht darin, die Bedürftigen zu überzeugen; erstens, daß sie keine unerfüllten Bedürfnisse haben; oder zweitens, daß ihre Bedürfnisse anderen Dingen gelten. Das ist eine Ablenkungstaktik, die den Verstand der Bedürftigen so kontrolliert, daß sie letztlich vergessen, daß sie Bedürfnisse haben oder welche Bedürfnisse sie haben. Wenn sie dieses Ablenkungsmanöver durchschauen, wird wieder zu roher Gewalt gegriffen.
Auf das Individuum übertragen, trifft das Gesagte oft auf Menschen zu, die nicht einmal mehr wissen, daß sie Hilfe brauchen; sie würden nie etwas fordern oder erbitten und kommen gar nicht auf den Gedanken, es könne ihnen etwas zustehen. Sie beschließen früh in ihrem Leben, daß sie ein hartes Los getroffen haben, finden sich damit ab und stellen keine Forderungen. So weiß eine Sekretärin oft nicht, daß sie etwas anderes sein könnte. Die Arbeiter kommen gar nicht auf den Gedanken, daß die Fabrik, in der sie seit zwanzig Jahren arbeiten, zum Teil ihnen gehören müßte. Ein Kind weiß überhaupt nicht, daß es im Arm gehalten und umsorgt werden sollte. Auf subtile Art werden Bedürfnisse verleugnet, unterdrückt und verändert. Anstatt von der Mutter im Arm gehalten werden zu wollen, verlegt sich ein Mann auf Promiskuität. Anstatt seinem Unwillen über die Eltern Ausdruck zu geben, verprügelt das Kind andere Kinder.
Der springende Punkt ist Kontrolle. Elterliche Bedürfnisse werden automatisch zur Kontrollinstanz des Kindes. Wenn ein Elternteil das »Bedürfnis« hat, respektiert zu werden, muß sich das Kind »respektvoll« verhalten, mit allem, was das beinhaltet. Wenn eine Mutter das Bedürfnis hat, für attraktiv gehalten zu werden, darf das Kind nichts Gegenteiliges sagen, ohne Liebesentzug befürchten zu müssen.
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Das Kind wird mithin aus dem subtilen Wechselspiel zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der Eltern als Verlierer hervorgehen, weil es so die Hoffnung auf eine spätere Befriedigung der Bedürfnisse aufrechterhalten kann. Würde den Bedürfnissen aller Kinder entsprochen werden, gäbe es kein symbolisches Ausagieren dieser Bedürfnisse (Gleichaltrige verprügeln) und keine Notwendigkeit für Kontrolle.
Aber weil Bedürfnissen höchst selten entsprochen wird, wurde was zum höchsten Gut unserer Gesellschaft? Kontrolle! Kontrolle der eigenen Bedürfnisse und Gefühle. So wurde eine ehemalige First Lady der Vereinigten Staaten für elegant, würdig und ausgeglichen gehalten, weil sie bei der Beerdigung ihres Mannes nicht zusammenbrach. Nicht nur, daß wir uns dieser Kontrolle beugen und Bedürfnisse leugnen, wir fordern diese Kontrolle. Wir sind stets bereit, in Reih und Glied zu stehen, nicht zu viel zu fordern oder zu verlangen, wenn damit Anerkennung und Liebe verbunden sind. Der loyale Staatsbürger ist derjenige, der hart arbeitet und sich nicht beklagt, derjenige, der nie die »Wohlfahrt« in Anspruch nehmen würde.
»Frag nicht, was dein Land für dich tun kann«, ist zu unserem geheiligten Losungswort geworden. Wer ist heute der beste Patriot? Derjenige, der sich selbst am konsequentesten verleugnet. Wo gibt es eine stärkere Selbstkontrolle als beim Militär? Und von dem jungen Patrioten erwartet man, daß er sich dort hinbegebe, um seinen Patriotismus zu demonstrieren. Diese Kontrolle setzte früh in seinem Leben ein, als der kleine Junge zur Ruhe gemahnt wurde, wenn er zu laut lachte oder redete, als er zurechtgewiesen wurde, wenn er zu lebhaft war. Nach und nach wurde das Leben in ihm unterdrückt und durch Kontrolle ersetzt. Ist es ein Wunder, daß er heranwächst und ohne Bedauern oder Reue das Leben aus anderen buchstäblich herausstanzen kann?
Was ist in Schulen heute das Hauptproblem? Was ist auf Lehrerkonferenzen das meistdiskutierte Thema? Kontrolle! Welcher Bereich wissenschaftlicher Forschung wird in der Psychologie heute am stärksten gefördert? Verhaltenstherapie (Kontrolle)! Was gilt in der Psychoanalyse als eines der Hauptindizien für Reife? Aufschub (Kontrolle) von Bedürfnisbefriedigung! Was tun wir, wenn ein Kind sein Bett näßt? Wir kaufen eine Maschine, die ihm Elektroschocks verpaßt, sobald es das Bett näßt. Was tun wir, wenn ein Exhibitionist sich auf der Straße entblößt? Wir verurteilen ihn und rufen nach Kontrolle. »Gesetz und Ordnung.«
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Überall, in sämtlichen Institutionen haben wir es mit Kontrolle zu tun, weil wir überall den Menschen die Befriedigung ihrer Bedürfnisse vorenthalten. Ohne Kontrolle wäre Ausbeutung nicht möglich.
Das heißt nicht, daß Kontrolle immer deutlich zu erkennen ist. Man beobachte eine beliebige neurotische Mutter (oder einen Vater) nur für wenige Minuten. Sie/er wird das Kind ständig zur Ruhe gemahnen, Tadel und Mißbilligung zum Ausdruck bringen. Man wird kaum sehen, daß sie/er das ausagierende Kind aufnimmt und im Arm wiegt. Und doch ist das der Grund, warum es ausagiert. Wir laufen offenbar alle in die falsche Richtung, wir rennen, um die Folgen erlittener Entbehrungen abzuwehren, anstatt den Entbehrungen selbst ein Ende zu setzen. Wir verstehen offenbar nicht, daß die vielen vielschichtigen Probleme, die ich angeschnitten habe, alle nicht existierten, wenn wir uns psychologisch und soziologisch auf Bedürfnisbefriedigung konzentrierten. Die Primärtherapie ist das Gegenteil von Kontrolle. Sie befaßt sich unmittelbar mit den Bedürfnissen selbst. Und weil sie in ihrer Therapie Kontrollverlust propagiert, wird die Primärtheorie zu einer Bedrohung aller institutionalisierten Kontrolle.
Neurotische Kinder sind ungezügelt und bedürfen der Kontrolle, weil neurotische Eltern sich nur auf Unterdrückung verstehen — nachdem ihre eigenen Bedürfnisse verleugnet wurden, hatten sie keine andere Wahl, als sich selbst zu unterdrücken oder in ständiger Qual der Nichterfüllung zu leben. Sie agieren ihre Entsagungen ihren Kindern gegenüber aus, die dann, wenn sie erwachsen werden, die Frage stellen: »Was passiert, wenn man die Kontrolle verliert?«
Immer mehr
Der Neurotiker will immer mehr. Wovon er mehr will, hängt von seinen symbolischen Bedürfnissen ab. Ist er ein Intellektueller, der sich in seinen Kopf »geflüchtet« hat, dann will er mehr Fakten. Ist Essen sein Abwehrverhalten, will er mehr zu essen haben. Andere wollen mehr Geld oder mehr Macht. Das jeweils Vorhandene ist nie genug, weil ein reales Bedürfnis symbolisch erfüllt wird, anstatt daß gefühlt wird, was es tatsächlich ist.
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Mir ist das besonders klargeworden, als ich versuchte, Intellektuellen die Primärtherapie zu erklären. Einerlei wie viele Daten man ihnen präsentierte, sie wollten immer noch etwas wissen. Wenn ein Mensch nicht fühlen kann, was richtig ist, ist er sich seiner selbst unsicher, und alle Fakten der Welt reichen nicht aus, um ihm dazu zu verhelfen, daß er sich sicher fühlt. Mithin sammelt der Intellektuelle Fakten, um seine Unsicherheit zu überdecken, so wie andere Nahrungsmittel horten, um sich innerlich nicht leer und hohl zu fühlen. Ein Mensch mit einer Primär- oder Urhilflosigkeit kann dazu getrieben werden, immer stärkere Kontrolle über Situationen zu erlangen, um das schmerzhafte Gefühl zu vermeiden. Ist das Urgefühl Machtlosigkeit, dann wird er zu Machtbedürfnissen neigen. »Mehr« ist das Schlüsselwort.
Der Boß und der Arbeiter, beide wollen sie mehr. Keiner von ihnen kann sich je befriedigt fühlen, wenn das basale Gefühl mangelnde Befriedigung ist — weil sie von ihren Eltern nie befriedigt wurden. Gäbe es keine übermäßigen Wünsche, könnte es die heutigen Auseinandersetzungen zwischen Besitzenden und Arbeitenden kaum geben (wahrscheinlich gäbe es kaum Besitzende). Denn es würde niemand mehr wollen, als er braucht. Niemand hätte ein Interesse daran, andere auszubeuten. »Mehr« ist die treibende Kraft der Gesellschaft — mehr Profite, mehr Gebäude, mehr Autos, mehr Zweigniederlassungen. Es ist keine Frage der Erziehung, die Gesellschaft dazu zu bringen, weniger zu wollen. Mit Erziehung schafft man das nicht. Es hängt vielmehr davon ab, ob die Menschen ihre wirklichen Bedürfnisse fühlen. Täten sie das, dann hätten sie keine Ersatzbedürfnisse mehr. Dann wollten sie nicht mehr, daß jeder Mensch, den sie kennenlernen, mit ihnen ins Bett geht — das würde eheliche Untreue und die damit einhergehenden Eheprobleme erheblich reduzieren.
Eltern würden nicht immer mehr Respekt (sprich Angst) von ihren Kindern verlangen, um so ihre eigenen Gefühle der Wertlosigkeit zu beschwichtigen. Politiker würden nicht immer mehr Macht wollen, um sie gegen andere Menschen einzusetzen. Intellektuelle würden ihr Leben nicht mehr in der sinnlosen Jagd auf Fakten um ihrer selbst willen verbringen, um sich nicht dumm, unwichtig und ungewollt zu fühlen. Das Urbedürfnis zu fühlen beseitigt alle Ersatzbefriedigungen, so daß das Leben einfacher, weniger erwerbsorientiert und entspannter wird.
Über den Begriff absoluter Gerechtigkeit
In Los Angeles löste kürzlich ein absonderliches Gewaltverbrechen, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen, in den Medien und bei der Bevölkerung einige typische neurotische Reaktionen aus. Zunächst wurden große Anstrengungen unternommen, um nachzuweisen, daß die Opfer etwas mit Rauschgift zu tun hatten; andere versuchten zu beweisen, daß es sich um Okkultisten handelte. Meiner Meinung nach lag dem die Auffassung zugrunde, daß Menschen nicht grundlos sterben. Diese Leute mußten den Tod auf irgendeine Weise verdient haben. Das entspricht der weitverbreiteten Auffassung, daß wir nicht grundlos leiden, daß es dafür Gründe geben muß. Und, wichtiger noch, daß es für das, was wir erleiden, eine letzte Gerechtigkeit und Entlohnung geben muß, und sei es im Jenseits.
Neurotiker können den Tod nicht akzeptieren, geschweige denn einen unsinnigen Tod. Sie können einfach nicht glauben, daß ein Fremder zu einem unschuldigen Menschen hingehen kann und dessen Leben mit einem Schlag ohne jeden Grund für immer beendet. Es fällt schwer zu glauben, daß es keine Gerechtigkeit gibt, niemanden, der über uns wacht und für den Ausgleich sorgt, niemanden, der uns für unsere Entbehrungen entschädigt. Es ist unerträglich zu denken, daß wir ohne jeden Grund geschlagen, ignoriert und gedemütigt wurden und daß nichts das je ändern wird.
Neurotiker müssen fühlen, daß sie nicht liebenswert sind und darum so schlecht behandelt werden, müssen das Gefühl haben, daß das der Grund ist; denn sich liebenswert zu fühlen und dennoch nicht geliebt zu werden bedeutet, den Schmerz mit aller Wucht zu fühlen. »Du bekommst in diesem Leben, was du verdient hast«, ist das Leitmotiv des Neurotikers; dabei sollte es lauten: »Du bekommst, was du nicht verdient hast.« Zu glauben, ein Mensch sei aus gutem, wenn auch unerklärlichem Grund gestorben, ist analog dem Glauben, daß einem Gutes widerfährt, wenn man leidet und kämpft. »Es fällt einem nichts in den Schoß«, ist ein ähnliches neurotisches Schlagwort. All das besagt nichts anderes, als daß dem Menschen nichts Böses geschieht, wenn er gut ist, denn verhielte es sich nicht so, dann gäbe es für keinen Menschen einen Grund, gut zu sein.
Über die Begriffe latent und potentiell
In der psychiatrischen Literatur liest man ständig »latent homosexuell« oder »latenter psychotischer Prozeß«. In Schulzeugnissen liest man oft: »John verfügt über ein großes Potential, doch er macht keinen Gebrauch davon.« Meine Auffassung über die Begriffe latent und potentiell im Hinblick auf psychische Abläufe lautet: so etwas existiert nicht. Eine Sache gibt es oder es gibt sie nicht. Manchmal sind Bedürfnisse und Triebe unbewußt, aber sie sind nicht latent. Sie sind als Kraft vorhanden, werden nur nicht erkannt. Ein Bedürfnis nach einem Vater ist ein Bedürfnis; nichts wird es stärker oder schwächer machen. Latent soll für gewöhnlich eine schwache Tendenz bezeichnen, die unter den richtigen Gegebenheiten zum Tragen kommt. Aber Tendenzen sind immer so stark, wie sie sind, ob die Gegebenheiten, sie auszuagieren, vorhanden sind oder nicht.
Das gleiche gilt für potentiell. Jeder hat ein Potential — wenn sie nicht krank wären, ginge es ihnen gut, und sie täten gute Dinge. Doch es geht ihnen nicht gut; was also bringt es ein, vom Potential zu sprechen? Ein Mensch ist oder ist nicht, zu jedem gegebenen Zeitpunkt. Potential ist eine sinnlose Floskel, weil sie von einem Seinszustand spricht, der nicht existiert. »John könnte gut sein, wenn er nicht hose wäre. John könnte klug sein, wenn er nicht dumm wäre. John könnte fleißig sein, wenn er arbeiten würde.« John könnte auch ein Mädchen sein, wenn er keinen Penis hätte. Die Sache ist die, daß John ist, was er ist. Zu sagen, John sollte zur Ruhe kommen und fleißig sein, ist ebenso sinnvoll, als sagte man, er solle größer sein.
Neurose als etwas Physisches
Gestern war ich Zeuge des Urerlebnisses eines männlichen Homosexuellen, das mir erneut bestätigte, wie sehr Neurose etwas Physisches ist. Er ist ein bereits recht weit fortgeschrittener Primärpatient. Plötzlich, während einer Gruppensitzung, hatte er entsetzliche Schmerzen im Gesicht. Er hielt sein Gesicht umklammert und schrie immer wieder: »Es verschwindet, es verschwindet.« Sein Gesicht war verzerrt. Das hielt etwa zwanzig Minuten an. Und dann, mit einer einzigen großen Bewegung, entspannte sich sein Gesicht plötzlich und schien uns allen ein völlig anderes Gesicht zu sein. Als er aus
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dem Urerlebnis zurückkam, sagte er: »Ich habe gerade mein unreales Scheingesicht verloren. Es tat weh, ein nicht natürliches Gesicht zu haben, nur wußte ich es nicht, weil das unnatürliche für mich natürlich geworden war.« Und er hatte in der Tat sein unreales Gesicht verloren. Aber das Gesicht war erst nach vielen kleineren Urerlebnissen, die die unreale Fassade abbröckeln ließen, imstande, sich zu ändern. Die Gesichtsveränderung war die Begleiterscheinung einer totalen psychophysiologischen Veränderung.
Obwohl ich ein »Scheingesicht« in den meisten Fällen anhand der Photos, die die Patienten vor Beginn der Primärtherapie einschicken, erkennen kann (auch bei Menschen, denen ich auf der Straße begegne), hätte ich nie gedacht, daß derart charakteristische Gesichtszüge (und Posen) mit all der restlichen Unrealität verschwinden würden. Und doch ist das nur ein weiterer Beweis für die durch und durch physiologische Natur von Neurosen. Wenn sich die unreale »Scheinstimme« und die »Scheinhaltung« ändern, gibt es keinen Grund, warum sich nicht auch das »Scheingesicht« ändern sollte. Das unreale Gesicht löste sich angesichts der Realität buchstäblich auf. Es war etwas, das dem Realen aufgepfropft war. Hier sehen wir, wie elterliche Bedürfnisse und Forderungen unserem realen Selbst buchstäblich aufgepfropft werden — wie das Äußere und Gesellschaftliche etwas Inneres und Organisches wird.
Die unreale Fassade
Ich sagte bereits, daß bei einer Neurose die unreale Fassade das reale Selbst überdeckt. Einige Fälle aus jüngerer Zeit sind ein beredter Beweis für diesen Vorgang. Eine fünfunddreißigjährige Frau kam wegen sexueller Frigidität in die Therapie. Im dritten Monat ihrer Behandlung jedoch begann sie plötzlich so stark zu stottern, daß sie kaum sprechen konnte. Sie hatte versäumt, uns in ihrem Bericht mitzuteilen, daß sie als Kind stark gestottert hat. Ja, sie hatte es völlig vergessen, da sie sich mit elf Jahren der Van Riperschen Stotterkontrollbehandlung unterzogen hatte. Die Van-Riper-Methode war bei ihr ein derartiger Erfolg, daß ihre Sprachkontrolle automatisch und mehr oder weniger unbewußt funktionierte. Als wir ihre Kontrollen beseitigten, kam das ursprüngliche Sprachproblem mit aller Macht wieder zurück. Nachdem wir zu den Gefühlen vorgedrungen waren, die dem Stottern zugrunde lagen, verschwand es für immer. So gesehen hat sie wirklich Kontrolle erlangt, wenngleich Kontrolle nicht das richtige Wort ist; sie sprach jetzt einfach natürlich.
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Dieser Fall ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Symptome können kontrolliert, unterdrückt und versteckt werden, doch das heißt noch lange nicht, daß sie beseitigt sind. Verhaltenskontrolle ist unecht und oberflächlich, solange die Primärkraft nicht beseitigt ist; dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei dem Verhalten um Stottern, Trinken oder Gewaltausbrüche handelt. Da liegt der Ursprung für so haltlose Sprüche wie: »Einmal Alkoholiker, immer Alkoholiker.« Solange ein Mensch sein Symptom nur unterdrückt, wird er immer unter dem möglichen Ausbrechen dieses Symptoms leiden, so wie die stotternde Patientin immer ein latentes Sprachproblem hatte.
Hier noch zwei weitere ähnliche Fälle: Eine kultivierte Englischlehrerin kam in die Primärtherapie. Ihre Sprache war rhythmisch ausgewogen, kultiviert und sehr gepflegt. In ihrer vierten Behandlungswoche, ich leitete an diesem Tag gerade die Gruppe, in der sie war, fiel mir erstmalig auf, daß sie einen breiten Südstaaten-Dialekt sprach. Dieser Dialekt blieb, solange sie in Behandlung war. Sie war in Oklahoma aufgewachsen und schämte sich immer, ein »Okie« zu sein. Sie entwickelte eine »kultivierte« Sprache, um ihren eigentlichen Dialekt zu verbergen. Als die unreale Fassade zusammenfiel, war sie wieder ein »Okie«.
Sehr ähnlich verhielt es sich mit einem Patienten, der in den New Yorker Slums aufgewachsen war und der später Schauspieler wurde und sich ebenfalls eine »kultivierte« Sprache angeeignet hatte. Im Verlauf der Behandlung hatte er oft Schwierigkeiten, richtige Sätze zu bilden. Er fühlte sich wohler als das rüpelhafte Slum-Kind, das so sprach, wie es gerade fühlte, als der Schauspieler, der sich eine kultivierte Fassade zugelegt hatte.
Selbstverständlich funktioniert das nicht immer so. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen deutschen Emigranten, der zu uns in die Behandlung kam. Er lebte seit vielen Jahren in Amerika und hatte noch immer einen stark ausgeprägten Akzent. Einer meiner Mitarbeiter übernahm die Behandlung, und ich machte für einen Monat Ferien. Als ich zurückkam, fiel mir auf, daß sein Akzent lange nicht mehr so stark war. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, er fühle sich in Amerika einsam, und eine Möglichkeit, an seiner Vergangenheit festzuhalten, sei seine Aussprache gewesen.
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Als er aufhörte, sich an seine Vergangenheit zu klammern und mehr in der Gegenwart lebte, verlor sich sein Akzent zusehends. Die unreale Fassade ist ein Abwehrverhalten, das uns von uns selbst entfernt. Wie ich an anderer Stelle sagte, handelt es sich um einen Überlebensmechanismus. Nur wird für gewöhnlich nicht verstanden, daß das Abwehrverhalten das reale Selbst intakt hält und somit zum Überleben beiträgt, und zwar nicht nur auf defensive, sondern auch auf eine das Selbst erhaltende Weise. Zum Beispiel verschwindet das reale »Okie«-Selbst nicht, nur weil es peinlich ist. Es bleibt im Innern in Reinform erhalten.
Gesund zu werden hängt nicht davon ab, ob man gesunde Gedanken hat. Kranke Menschen können manchmal äußerst vernünftige und gesunde Gedanken haben. Psychiatrische Patienten können manchmal höchst gesunde und vernünftige Dinge sagen, und doch fehlt ihnen das Fühlen, das mit diesen Gedanken und Äußerungen einhergehen sollte. Zu sich selbst zu kommen führt zu gesunden, vernünftigen Gedanken, zu gesunden Körpern und zu natürlicher Sprache. Wenn wir verstehen, daß das Gehirn mit der unrealen Fassade verknüpft beziehungsweise falsch verknüpft ist, dann bedeutet gesund zu sein, die richtigen neurologischen Verknüpfungen herzustellen, die die Notwendigkeit für diese Fassade beseitigen.
Über Phobien und Angst
In unserem frühen Leben gibt es entsetzliche Angstgefühle — in der Wiege unbeaufsichtigt allein gelassen, im Stich gelassen, ernsthaft geschlagen zu werden. Das vernichtendste Gefühl für ein kleines Kind ist, daß sich niemand um es kümmert, daß niemand für es da ist;
das allumfassende Gefühl, allein und unbeschützt zu sein. Dieses Angstgefühl ist niederschmetternd, wird verdrängt und führt zu chronischer Angst. Das heißt, daraus entwickelt sich ein vager, diffus ängstlicher Zustand des Angespanntseins. Dieses Angstsubstrat bleibt entweder vage und ungerichtet, so daß sich der Betreffende ohne greifbaren Grund häufig ängstlich fühlt, oder das Angstgefühl wird in Kanäle geleitet, die man Phobien nennt. Angst ist der allgemeine Speicher, der durch zahlreiche verdrängte Angstgefühle gefüttert wird. Der Betreffende kann dann zum Beispiel eine irrationale Angst vor Fahrstühlen entwickeln; wären es nicht Fahrstühle, so wäre es etwas anderes.
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Die Phobie wird aus dem Urspeicher gespeist. Gegen die Phobie anzugehen heißt, lediglich die Überlaufrinne abzuperren. Ehe die Angstgefühle nicht wirklich gefühlt und beseitigt werden, wird es immer Phobien und Angstzustände geben. Angst ist nicht erkannte frühe Furcht, Phobien machen diese Furcht erkennbar und, so hofft man, manipulierbar. Phobien sind in falschem Kontext in die Gegenwart übersetzte Angstgefühle.
Eine der verbreitetsten Ängste ist die Angst vor dem Tod. Vielleicht gibt es eine natürliche Todesangst, vielleicht auch nicht. Um das herauszufinden, müssen wir Befragungen größeren Umfangs bei Primärpatienten anstellen. Bislang sehe ich kaum Anzeichen für eine abnorme Todesangst bei diesen Patienten. Viele Patienten hatten diese Angst jedoch, als sie zu uns kamen, und darauf möchte ich hier näher eingehen.
Wird in der Gegenwart ein Angstgefühl ausgelöst, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit eine ganze Konstellation früher Schrecken aktivieren. Eine der schwerwiegendsten frühen Ängste wird durch den Geburtsprozeß erzeugt (s. die Einleitung zu dem Kapitel »Das Urerlebnis der Geburt« in Anatomie der Neurose). Viele Menschen befinden sich während ihrer Geburt buchstäblich in Todesgefahr — durch Beckenlage, Strangulation durch die Nabelschnur oder Sauerstoffmangel. Das löst die ursprüngliche Todesfurcht aus, noch lange ehe das Kind sie in begriffliche Vorstellungen übersetzen kann. Später kann das Kind oder der Erwachsene ein sein Denken beherrschendes Grauen vor dem Tode haben. Sein Denken kreist um eine unbewußte, reale Erinnerung an eine reale Todesgefahr. Wenn diese reale Gefahr in einem Urerlebnis gefühlt wird, geht die übertriebene Todesangst (primäre Anlage) in dem Patienten erheblich zurück.
Natürlich ist nicht nur die Geburt eine Gefahr für das Leben. Nicht rechtzeitig gefüttert werden, nicht genügend zu trinken bekommen, sich selbst überlassen werden — all das ist lebensbedrohend. Auch diese Erlebnisse bilden einen Restbestand an Todesfurcht, begrabene Erinnerungen, die zu der späteren Todesangst beitragen. Solange die realen Lebensbedrohungen des Kindes nicht gefühlt werden, ist der Betreffende von der Allgegenwart des Todes erfüllt. Daher ist es kein Wunder, daß er davon beherrscht wird. Die Politik einer kranken Gesellschaft bietet ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Urangst manipuliert wird.
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Der Politiker erzählt den Leuten, daß sie guten Grund haben, ängstlich zu sein; er richtet ihre Ängste auf den »Feind«, besteht darauf, daß die Verteidigung verstärkt werden müsse, und verspricht, den Feind zu bezwingen und die Ängste zu lindern, wenn sie ihn wählen. Mit anderen Worten, die Angst vor Schwarzen, Extremisten, Jugendlichen, Kommunisten, Sozialisten sind gesellschaftlich institutionalisierte Ängste. Weil die Ängste den Neurotiker nie verlassen, besteht immer ein Bedürfnis nach einem Feind und ein Bedürfnis, sich zu verteidigen. Wenn der Neurotiker eine gute, solide Phobie aufrechterhalten kann, zum Beispiel vor Schlangen oder Spinnen, braucht er nicht unbedingt eine Feindphobie.
Indem der Neurotiker seine Ängste projiziert, kann er sie vermeintlich einsehbar und manipulierbar machen. Er kann Spinnen, Höhen und Fahrstühle meiden. Er kann den Feind töten. Doch was der Neurotiker auch immer macht, nichts wird ihm je genug sein; er wird neue Feinde erfinden müssen — seien es nun Spinnen oder Kommunisten. Die Dialektik der Angst besteht darin, daß man um so mutiger wird, je mehr man seine Ängste fühlt — mutiger, man selbst zu sein.
Der Kalte Krieger
Vorstellungen entspringen Gefühlen oder deren Verleugnung. Das heißt nichts anderes, als daß der Kopf dem Körper angeschlossen ist und daß die Vorstellungen in diesem Kopf auf die eine oder andere Art die Verfassung dieses Körpers widerspiegeln. Eine einfache Vorstellung, wie zum Beispiel: »Ich reise nicht gern«, kann tiefe Ängste widerspiegeln — Ängste, dem Zuhause fern zu sein; Ängste, in einer Welt voller Fremder zu leben; Gefühle, ein verlorener kleiner Junge zu sein; Ängste sich zu verirren. All diese Gefühle, Abkömmlinge Tausender früher Erfahrungen, helfen später die Vorstellung zu entwickeln, daß der Betreffende nicht gern reist.
Darüber hinaus haben Vorstellungen eine durch Urgefühle bedingte Folgerichtigkeit, eine logische oder unlogische Verkettung (eine Grundeinstellung oder Philosophie). Das wurde mir bewußt, als ich mich mit den diversen Vorstellungen des Kalten Kriegers oder des Superpatrioten eingehender befaßte. Er will sofortige und eindeutige Lösungen. Kooperation hat für ihn keinen Wert; er sieht Beziehungen vielmehr im Hinblick auf Machtverhältnisse — Beherrschung oder Unterwerfung, nicht Gleichheit. Er ist mißtrauisch und zynisch; Schritte anderer interpretiert er als kriegerisch.
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Er ist feindselig und rationalisiert diese Feindseligkeit als Notwendigkeit, dem allgegenwärtigen Feind entgegenzutreten, dem gegenüber er sich permanent verteidigen muß. Er ist nicht willens oder bereit, irgend etwas kritisch zu hinterfragen, und rationalisiert, daß diejenigen, die derartiges tun, »Eierköpfe« seien, weichherzige Intellektuelle. Er ist aus offenkundigen Gründen gegen Projekte, die sich mit psychisch Gestörten befassen, und tut Selbstbesinnung als Schwäche sentimentaler Geister ab. Er hält nichts von Klagen; er ist den Tugenden Loyalität und Gehorsam verpflichtet. Er hat kaum Ideale und noch weniger Hoffnung. Er sieht nur die Praxis des Alltags und verwirft Theoretiker als spinnerte Idealisten. Er ist so von Konflikten zerrissen, daß er Frieden und Harmonie nicht ertragen kann. Er muß an permanente Bedrohung glauben, um seine permanente Verteidigungshaltung zu rechtfertigen. Er leidet an gesellschaftlich institutionalisierter Paranoia. Er ist das Produkt einer kranken Gesellschaft, die seinen Bedürfnissen nicht entspricht und ihn davon überzeugt, das sei nicht Aufgabe der Regierung. Niemand sollte es leicht haben. Niemand sollte einfach etwas bekommen, ohne dafür gearbeitet zu haben. Er glaubt an den Kampf.
Seine destruktive Gesellschaft liefert ihm einen Feind, den er bekämpfen muß, und er wird von jeglicher Schuld freigesprochen, weil er zum Wohle der Gesellschaft tötet; er tötet für abstrakte Begriffe wie Patriotismus. Für ihn sind Gewalttätigkeit und Macht männliche Tugenden, das, was den guten Bürger ausmacht; und wer nicht über ihm steht, steht unter ihm. Versöhnlichkeit ist Verrat. Diejenigen, die Bedürfnisse äußern und Forderungen stellen, sind »Agitatoren«.
Weil er auf sich selbst keinen Einfluß hat und von seinen Gefühlen weit entfernt ist, neigt er dazu, sich vom äußeren Schein der Dinge leiten zu lassen, anstatt sie zu ergründen. Er hält nichts davon, Gefühlen nachzugeben, und er lobt Institutionen wie das Militär, bei denen Individualität und Gefühle systematisch beseitigt werden. Er ist ungemein ängstlich und fühlt sich sicher, wenn ihm seine Vorgesetzten sagen, das sei richtig so; sie richten seine Angst auf Außenstehende, anstatt daß sie ihm zu erkennen helfen, daß sie in ihm selbst ist. Es gibt wirklich einen Feind; er ist hier, und wenn wir ihn ausrotten, brauchen wir nicht länger Angst zu haben. Einerlei wieviel Schutz ihm gewährt wird, es wird nie genug sein, um seine Unsicherheit zu beschwichtigen.
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Er ist das Produkt einer Gesellschaft Kalter Krieger. Er wird von ihr geprägt und trägt seinerseits dazu bei, sie aufrechtzuerhalten. Er ist eine Gefahr, weil er machtlos war, sich als Heranwachsender oft von anderen dominiert fühlte und jetzt sein Vertrauen auf die absolute Macht stützt — auf die Bombe. Angst läßt ihn hartnäckig an seiner Haltung festhalten, so daß Fakten ihn nicht ändern können, und selbst die drohende Vernichtung der gesamten Menschheit wird die monomane Hartnäckigkeit, mit der er an seinen Vorstellungen festhält, nicht aufheben.
Leugnen ist die entscheidende Triebkraft des Kalten Kriegers. Wenn sein Leben damit beginnt, daß er gezwungen wird, alle innere Realität zu leugnen, muß er notgedrungen unreal werden und sich unreale Vorstellungen aneignen. Niemand hat ihm je etwas geschenkt. Er hat immer arbeiten müssen, angefeuert durch die Worte, das bilde seinen Charakter. Nachdem er sich diese irrationalen Vorstellungen einmal zugelegt hat, um seine Entbehrungen ertragen zu können, glaubt er allmählich selbst daran. Er leugnet die Realität mit aller Konsequenz, weil schon eine einzige Bedrohung, ein einziger realer Glaube ihn letztlich zu dem führen könnte, was in ihm real ist — zu seinem Schmerz.
Neurotische Eltern legen das Fundament für den Kalten Krieger, indem sie ihn veranlassen, nahezu alles, was er fühlt, zu verdrängen. Verdrängung wird zu seinem modus operandi; und von der Verdrängung dessen, was innen ist, zur Verdrängung äußerer Begebenheiten ist es nur ein kleiner Schritt. Darum: Verdrängt die Agitatoren, die Extremisten, die Streikenden und so weiter! Eine Untersuchung an der University of California ergab, daß politisch rechts stehende Studenten sexuell stärker gehemmt sind und stärker verdrängen. Aufgrund seiner automatischen Verdrängung ist der Kalte Krieger gegen jegliche repressionsfreie oder repressionsarme Erziehung, in der Schule wie im Elternhaus. Was gut sein soll, muß hart sein. Mithin ist es kein Wunder, daß der Kalte Krieger bei nahezu allen Problemen mit den unrealsten Lösungen kommt.
In einer Befragung an der Cornell University wurde Studenten unter anderem folgende Frage gestellt: »Was halten Sie persönlich für das geeignetere Mittel, um Krieg zu verhindern, die Atombombe oder die Vereinten Nationen?« Zusätzlich wurde jeder der Befragten einem Test unterworfen, der sein Vertrauen zu anderen ermitteln sollte. Zwei Punkte dieses Tests lauteten: »Der Mensch ist von Natur aus kooperativ« und: »Wenn es Ihnen einmal wirklich schlecht geht, kümmert sich kein Mensch darum, was mit Ihnen geschieht.«
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Befragte, die wenig Vertrauen zu anderen hatten, wurden als Misanthropen bezeichnet. Siebenundsiebzig Prozent der Befragten setzten ihr Vertrauen in die Bombe. Diese Studenten wurden befragt, worauf sich die Vereinigten Staaten stützen sollten, um Krieg zu verhindern. Zweiundsechzig Prozent dieser Misanthropen sagten: »Militärische Macht.«
Drei von vier meinten, ein permanenter Kriegszustand könne durchaus vertretbar sein, und zwei von drei bezweifelten, daß Krieg verhindert werden könne. Eine andere Untersuchung am MIT ergab, daß jene, die eher mit Krieg rechneten, bei der Erziehung ihrer Kinder auch eher zu körperlicher Züchtigung neigen. Wer an Gewalt glaubt und zu Gewalt greift, den wird selbst die Beilegung eines Kalten Krieges zu einem betrogenen Krieger machen.
Obwohl der Kalte Krieger sich schwach fühlt, darf er das nie zeigen und darf es auch anderen nicht zugestehen. Er glaubt an die Fassade. Er hat die ganze Unrealität übernommen, weil er glaubte, er werde geliebt. Er sieht sich höchst selten als ungeliebten Menschen, und doch meidet er Gemütsäußerungen, insbesondere unter Männern. »Ein kleiner Junge küßt seinen Vater nicht, er reicht ihm die Hand.« — »Ein kleiner Junge weint nicht und benimmt sich nicht wie eine Heulsuse.«
Oft hat er seine Bedürfnisse auf Religion und auf Gott übertragen. Er sagt: »Vertraue nur Gott. Er wird dich nicht im Stich lassen.« »Er wacht über dich. Er behütet und beschützt dich.« Er tut, kurz gesagt, all die Dinge, die die Eltern hätten tun sollen, aber nicht taten. Dorthin werden die Bedürfnisse gerichtet — an eine Stelle, wo man sie getrost ausdrücken kann, wo sie jedoch nie Befriedigung finden können, außer in der Phantasie. Eine Stelle, die ihre Anhänger dazu anhält, irdische Vergnügen und sich selbst zu verleugnen. Wenn der Kalte Krieger schließlich fühlt, daß er nicht geliebt wird, fallt die ganze, auf Verleugnung basierende Philosophie in sich zusammen. Keiner braucht ihm seine Vorstellungen mehr auszureden. Sie wurden durch den Schmerz zusammengehalten und haben sich mit ihm verflüchtigt.
Über Sprache
Wir alle haben charakteristische Sprachmuster. Sie sind bezeichnend dafür, wie ein Neurotiker seine Vergangenheit tagtäglich auslebt, wie er die Vergangenheit unbewußt in die Gegenwart hineinträgt. Ein Homosexueller gab beim Sprechen immer Zischlaute von sich, bis er eines Tages ein Urerlebnis hatte, in dem er sich bemühte, »Mutters kleiner Engel« zu sein. Er hatte diese Vergangenheit vor dem Urerlebnis nie als etwas Eigenständiges gefühlt. Sein Sprachverhalten war Teil seiner Neurose, seines verzweifelten Bemühens, geliebt zu werden. Er bewegte sich auch wie ein kleiner (falscher) Engel — mit zusammengekniffenem Gesäß, von einem Eisengürtel umspannt, ging er, als trete er auf Eierschalen, so als wolle er nicht zu ungestüm in die Welt hinausgehen.
Jedes Wort des Neurotikers läßt den Kampf um Liebe erneut entbrennen — zum Beispiel indem man für Mami ein Mann mit tiefer Stimme ist. Wenn Sprechmuster ein integraler Teil der Neurose sind, dann werden viele Sprachstörungen automatisch behoben, sobald die Neurose behoben ist.
Selbst die Art, wie wir die Worte formen, verrät die Neurose. Einige Neurotiker sprechen nicht geradeheraus, sondern aus dem Mundwinkel, als könnten sie nicht offen reden. Das ist Ausdruck der Spaltung — die beiden Gesichtshälften sind nicht gleich, die eine Hälfte des Mundes dominiert und übernimmt einen größeren Teil der Last des Sprechens. Sprache ist ein vorzüglicher Indikator für das, was zu sein wir uns bemühen, um geliebt zu werden. Einige von uns sind in ihrem Sprechen unterjocht; und wir wurden in der Tat unterjocht. Neurose kann nicht als etwas von der Sprache Getrenntes behoben werden. Ein Postprimärpatient sollte weder eine hohe, schrille noch eine leblose Stimme haben, sofern nicht zufällig eine physische Behinderung vorliegt.
Die Stimmen von Primärpatienten senken sich beträchtlich. Das ist auf zwei Faktoren zurückzuführen. Der erste und wichtigste ist offenbar die rein quantitative Menge inneren Schmerzes. Die Stimme senkt sich in dem Maße, wie Schmerzen aufgelöst werden. Das läßt sich besser verstehen, wenn wir uns zwei parallele Linien über Brust und Unterleib vorstellen. Jedes stärkere Urerlebnis scheint die Stimme auf eine neue Ebene zu senken, als arbeite das Abwehrsystem in Schichten. Der zweite Faktor ist die Qualität des Urerlebnisses.
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Bei einem Patienten kam es zu einer drastischen Stimmsenkung, nachdem er ein Urerlebnis hatte, in dem er sich als hungrig in der Wiege liegenden Säugling brüllen und schreien fühlte. Er wußte anschließend sofort, daß er eine hohe Stimme beibehalten hatte, weil er unbewußt gehofft hatte, dadurch letztlich doch irgendwie gehört zu werden. Seine Stimme wurde aufgrund eines frühen Traumas an die Kindheit fixiert. Die hohe, schrille Stimme wurde ein integraler Teil seines sich allmählich entwickelnden Abwehrsystems, das den Zweck hatte, ihm beim Überleben zu helfen.
l;s gibt noch andere Aspekte neurotischen Sprechverhaltens. Zum Beispiel beendete ein Patient seine Sätze immer in einer höheren Stimmlage. Als sei jeder seiner Sätze eine Frage. Er hatte entsetzliche Angst, unrecht zu haben, und mit seiner Sprache dokumentierte er, daß er es vermied, je eine direkte Aussage zu machen. Zögernd zu »prechen ist eine andere Variation dieser Angst, unrecht zu haben — jedes Wort, das den Mund verläßt, wird sorgfältig überprüft, um sicherzustellen, daß es keinen Anstoß erregt.
Babyhafte Sprache (Lispeln und ähnliches) ist ein eindeutiges Anzeichen dafür, daß der Betreffende seine Kindheit nicht hinter sich gelassen hat. Mit jedem gesprochenen Wort macht sich die Vergangenheit bemerkbar. Babyhafte Sprache ist wirklich ein Anzeichen dafür, wie wir unsere Kindheit in unserem späteren Leben unbewußt ausagieren. Ein normaler, gesunder Mensch hat eine natürliche, rhythmische Sprache. Er spricht weder zu schnell noch zu langsam. Wie seine Körperhaltung oder seine Bewegung ist seine Sprache ein Index der Integration von Körper und Geist.
Ambivalenz (von Vivian Janov)
Kürzlich sah ich einen Film, in dem der erwachsene Sohn eines alternden Mannes den Satz spricht: »Ich hasse meinen Vater, und ich hasse es, ihn zu hassen.« In diesem Film ging es um einen echten Generationskonflikt. Der Ältere, der selbst unter seiner harten Jugend gelitten hatte, wird zu einem unausstehlichen, unzugänglichen Vater. Obwohl der Sohn seinen Vater versteht, kann er doch nur seine eigenen Gefühle fühlen. Und das ist die Saat der Ambivalenz in uns allen. Es ist der Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach elterlicher Liebe und deren Unfähigkeit, diese Liebe uneingeschränkt zu geben.
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Es ist der Konflikt, ihren Schmerz zu verstehen, doch den eigenen zu fühlen. Es läuft auf den Satz hinaus: »Ich weiß, du hattest eine harte Jugend, aber was ist mit meinen Bedürfnissen?«
Ambivalenz tritt ein, wenn wir für einen Menschen Gefühle zu empfinden beginnen und sofort von gegensätzlichen Gefühlen bombardiert werden. Zum Beispiel quälen sich viele von uns mit dem Gedanken, was unsere Eltern uns angetan haben, wie grausam und gedankenlos sie waren. Und schon im nächsten Augenblick können wir sie verstehen, weil wir um die Entbehrungen, unter denen sie gelitten haben, wissen. Die Qual und das Bedürfnis sind das fühlende Kind in uns, während das Verständnis der »schuldige« Erwachsene in uns ist, der die Gründe für ihr Verhalten sieht und Mitgefühl mit ihnen hat. Ambivalenz ist mithin der Konflikt zwischen den Gefühlen des Kindes in uns, das Bedürfnisse hat, und den Gefühlen des Erwachsenen in uns, der Verständnis hat. Das »Erwachsenen-Verständnis hat jedoch niemals Einfluß auf die kindlichen Bedürfnisse. Darum hört Ambivalenz nie auf, so daß selbst ein reifer, grauhaariger Mensch mit seinen Eltern noch immer im Konflikt liegt.
Das kleine Kind fügt sich den elterlichen Bedürfnissen automatisch, und solange es das tut, wird es sich nicht ungeliebt fühlen und nicht im Konflikt stehen. Erst mit dem Älterwerden taucht die Ambivalenz auf, nämlich wenn es versteht, daß es nicht es selbst und gleichzeitig das sein kann, was die Eltern wollen. Einer wird verletzt werden müssen. Die Entscheidung, wer das sein wird, ist die Quelle der Ambivalenz. Wird das Kind es selbst, so bedeutet das automatisch eine Verletzung der neurotischen Eltern, denn sie haben das Kind zu dem gemacht, was sie brauchten, gerade damit sie nicht verletzt würden. Das Kind mußte begabt, höflich, klug oder was auch immer sein, damit die Eltern sich geliebt fühlen konnten. Wenn das Kind es selbst ist, fühlen sich die Eltern ungeliebt. Wenn das Kind unreal sein muß, ist das reale Selbst ungeliebt. Das ist die Wahl. Zwischen dem realen und dem unrealen Selbst; zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der Eltern. Der Preis, den man zahlt, damit sich die Eltern geliebt fühlen, ist Neurose!
In der Primärtherapie erleben die Patienten ein ständiges Hin und Her der Gefühle für die Eltern. Dann jedoch kommt ein Punkt, an dem dieses Hin und Her zur Ruhe kommt: »Es tut mir leid, euch weh zu tun, aber ich kann euer Leben nicht ändern. Ich habe mein reales Selbst und meine realen Gefühle gefunden, und nichts und niemand wird mir je wichtiger sein.«
Über Weinen (von Vivian Janov)
Als ich eines Sonntags nach einer Gruppensitzung allein nach Hause fuhr, begann ich über all die weinenden Patienten nachzudenken. Ich malte mir aus, wie die Reaktionen Außenstehender aussehen mochten: »Wie schaffen Sie es, daß die Leute so zusammenbrechen?« - »Weinen die immer so viel?« - »Ist das gut für sie?«
Jeder, der mit Primärtherapie zu tun hat, weiß natürlich, daß Weinen eine Begleiterscheinung des Fühlens und des Wiedererlebens früher Kindheitsszenen ist. Als mir diese Gedanken kamen, konzentrierte ich mich auf das Weinen als solches. Für mich war der Körper immer schon eine faszinierende, perfekt konstruierte Maschine. Jedes Organ hat seine Funktion, und jede Tätigkeit des Körpers ist auf das Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen ausgerichtet. Wir essen, wenn sich Hunger einstellt, trinken, wenn wir durstig, und schlafen, wenn wir müde sind. Weinen muß demnach auch eine natürliche Körperfunktion in dem Bemühen um Gleichgewicht haben. Wir weinen als Antwort auf Schmerz und lösen dadurch die Spannung auf. In diesem Augenblick fühlte ich mich völlig frei von jeglicher Spannung — es war alles herausgeweint.
Dann überlegte ich, warum die meisten Menschen schon früh in ihrer Kindheit ihr Weinen hinter sich gelassen haben.
Sie hören doch auch nicht auf zu lachen, zu schlafen oder durstig zu werden. Die Gesellschaft beraubt uns unserer natürlichen Schmerzabfuhr: Weinen. Man sagt Kindern, sie seien zu groß, um zu weinen. Doch man sagt ihnen nie, sie seien zu groß, um zu lachen oder zu lächeln. Eltern bringen Tränen schnell zum Versiegen. Wir alle wachsen heran und schlucken unsere Tränen runter, haben einen Kloß im Hals, wischen uns verstohlen eine Träne aus dem Auge — doch weinen tun wir selten. Die Primärtherapie stellt diese Fähigkeit und Funktion wieder her, und allein das hat, meiner Meinung nach, schon eine therapeutische Wirkung. Natürlich führt die Primärtherapie zu erstaunlichen Einsichten und zu Veränderungen des Körpers und der Persönlichkeit, doch hat man die Wiederherstellung der Fähigkeit zu weinen als großartige Begleiterscheinung übersehen.
Unterhaltungen mit Primärpatienten können ebensogut Weinen wie Lachen beinhalten. Sie weinen im Kino, ohne sich zu genieren. Einen Brief schreiben, Musik hören oder den Weihnachtsmann sehen, kann plötzlich und ohne Vorwarnung zu einer wahren Tränenflut führen. Es hat etwas Gesundes, auf den Augenblick zu reagieren. Und es hat auch etwas Schönes!
Ich konnte nicht umhin zu denken, daß die Menschheit in all den Jahren heruntergewürgter Tränen ein Spannungsreservoir angestaut hat, das zu den körperlichen und seelischen Krankheiten, unter denen wir heute leiden, das seine beigetragen hat.
Über Wünsche und Fürsorglichkeit
Wenn man als Kind nicht erhält, was man braucht, wird man immer Wünsche haben. Wenn man als Neurotiker erhält, was man wünscht, wird man immer etwas brauchen. Das einzige, was man von der Primärtherapie erhält, ist die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu fühlen, zum Beispiel nach Fürsorge und Aufmerksamkeit. Wenn man in einer konventionellen Therapie Fürsorge und Aufmerksamkeit erhält, ohne jenes frühe katastrophale Bedürfnis zu fühlen, dann wird dieses Bedürfnis eingefroren, vergraben und zu einer eingekapselten Triebkraft für spätere Wünsche.
Das einzige, was in erwachsenen Neurotikern real ist, sind ihre Bedürfnisse. Sie sind das, was ihr Inneres ausmacht. Neurotiker werden nie eine Befriedigung der Bedürfnisse erlangen, die auf die Eltern gerichtet sind. Doch wenn sie ihren Wunsch danach fühlen, können sie fühlende Menschen werden, die in der Gegenwart wahre Liebe zu geben und zu empfangen vermögen. Solange dieses abgeblockte frühe Bedürfnis nicht gefühlt ist, wird alle gegenwärtige »Liebe« und Fürsorge dem Fühlen einfach aufgesetzt sein.
Neurotiker unternehmen gewaltige Anstrengungen, um Menschen ihrer Umgebung Liebe zu entlocken, doch wieviel Liebe sie auch immer erhalten, es genügt ihnen nicht, weil das alte Gefühl des Ungeliebtseins weiterhin unbefriedigt ist. Das einzige, was ein Therapeut seinem Patienten geben kann, ist, ihm zu helfen, diesen Schmerz mangelnder Bedürfnisbefriedigung zu fühlen. Gelingt ihm das nicht, dann bleibt ihm nur noch eine Möglichkeit, nämlich dem symbolischen Bemühen eine andere Richtung zu geben — statt Autos stehlen Jura studieren; statt sexueller Triebhaftigkeit akademische Ehren anstreben. Bei konventionellen Therapien wird Erfolg für gewöhnlich daran bemessen, wie gut dieser reale Trieb in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen abgelenkt wurde.
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In der Primärtherapie bemißt sich Erfolg daran, wie tief dieser Trieb gefühlt und aufgelöst wurde. Bedürfnis-Trieb ist der Brennpunkt der Primärtherapie; der Brennpunkt anderer Therapien ist die Frage, wie man den Trieb lenken kann. Mithin wäre bei konventionellen Therapien ein Kriterium für Erfolg: »Die Fähigkeit zu konstruktiver Produktivität zu erlangen.« In der Primärtherapie wäre das Kriterium für Erfolg, ob man fühlt, wie produktiv man sein mußte, um sich geliebt zu fühlen. Mit anderen Worten, Produktivität zu unterstützen heißt bei einigen Patienten, die Krankheit als Heilmittel zu benutzen.
Fürsorglichkeit ist nichts, was sich durch die Luft von einem Menschen auf den anderen überträgt. Fürsorge bedeutet, darauf zu achten, daß den Bedürfnissen des Menschen, den man liebt, entsprochen wird, wie auch immer diese Bedürfnisse aussehen mögen.
Wenn ein Mensch neurotisch wird, werden seine Bedürfnisse umgewandelt und bodenlos, und dann wird Fürsorglichkeit zu einer anderen Sache. Denn für den Neurotiker bedeutet Fürsorge unermüdliche Aufmerksamkeit für krankhafte Wünsche — Prestige, Ehre, Respekt, Loyalität und so weiter. Wenn ein Mensch nicht schon früh in seinem Leben aufgrund seiner Gedanken und Gefühle geachtet wurde, ist er, sobald ihm jemand in seinem Erwachsenenleben Achtung versagt, gezwungen, die frühe, ungefühlte Mißachtung zu fühlen. Somit muß er sich im ständigen Kampf um Achtung und Respekt befinden. Seine Kinder dürfen niemals respektlos zu ihm sein, wenn sie nicht seinen Zorn wecken wollen. Dieser Mensch wird nie genügend Respekt und Achtung erhalten können. Sobald er die frühe Demütigung und die mangelnde elterliche Beachtung fühlt, wird sein Trieb, (symbolisch) Achtung zu erlangen, von ihm abfallen. Und dann kann er ein verträglicher Vater werden und es zulassen, daß seine Kinder ihm gegenüber ihre Gefühle ohne Angst äußern. Er kann ein wirklich fürsorglicher Mensch werden.
Über die Ehe
Ehe ist lediglich eine weitere Beziehung zwischen Neurotikern — mag sie auch noch so formalisiert sein. Neurotiker werden auch in ihrer Ehe weiterhin ausagieren, und es bedarf keines Eheberaters, sondern eines Therapeuten, um einer scheiternden Ehe zu helfen. An einer Ehe »arbeiten« zu müssen ist Unsinn. Normale Menschen sind, das ist alles, und sie lassen andere sein, also auch den Ehepartner. Warum sollte man an einer Beziehung arbeiten müssen? An etwas »arbeiten« bedeutet, zu versuchen etwas zu sein, was man nicht ist; wenn man »ist«, besteht keine Notwendigkeit, an sich zu »arbeiten«.
Menschen in einer Ehe werden von unterschwelligen Bedürfnissen getrieben. Die Tatsache, daß sie verheiratet sind, ändert daran nichts. Eheliche Beziehungen werden durch Bedürfnisse und Schmerz zerrüttet. Man kann einem Ehemann sagen: »Schau dir doch an, wie unglücklich du deine Frau mit deiner Untreue machst. Kannst du nicht etwas mehr Verantwortungsgefühl zeigen?« Doch oft ist es so, daß die Untreue nichts mit der Frau zu tun hat. Der Neurotiker kann seine »Mutter« geheiratet haben und jetzt der kleine Junge sein, der »herumspielt«. Er will seiner Frau nicht absichtlich weh tun; er will einfach sein Vergnügen haben oder sich geliebt fühlen.
Warum kann ihm die Liebe einer einzigen Frau nicht genügen? Weil der Neurotiker sich ungeliebt fühlt, und auch noch so viel gegenwärtige Zuneigung und Anerkennung wird das nicht ändern. Ein Mensch kann untreu sein, weil er unbewußt hofft, sich endlich doch geliebt zu fühlen. Oder er kann, wenn er älter wird und seine Jugend entschwinden sieht, eine nie erlebte Jugend wieder zurückholen wollen. Allein für das Problem der Untreue gibt es Hunderte von Gründen, und dabei handelt es sich nicht um »Ehe«-probleme, obwohl sie Probleme in einer Ehe verursachen.
Wenn ernsthafte Probleme auftauchen, suchen Eheleute oft eine Eheberatung auf. Eheberatung versucht sich mit den offenkundigen Problemen oder Symptomen zu befassen. Beratung ist oft nur ein weiterer Beweis für die Aufspaltung — dafür, wie wir Menschen aufspalten. Der Eheberater befaßt sich mit den oberflächlicheren Aspekten der bei ihm Ratsuchenden, als handele es sich dabei um eigenständige Faktoren, die mit den tiefliegenden, die Verhaltensweisen auslösenden Gefühlen nichts zu tun haben. Ich glaube nicht, daß es zu vernünftigen Ergebnissen führen kann, wenn man ganze Menschen in Teilbereiche untergliedert.
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Ich kann mir kein Eheproblem vorstellen, das nicht im Grunde das Problem einer individuellen Neurose wäre. Eheberater haben oft nicht die Ausbildung, um psychische Störungen ernsthaft zu behandeln. Dahinter steht der Gedanke, daß Eheberater einer solchen Ausbildung nicht bedürfen, weil sie nicht »in die Tiefe« gehen. Jede Verhaltensweise eines Menschen ist an etwas Tiefliegendes gebunden. Sich mit menschlichen Problemen zu befassen heißt, sich mit tiefliegenden Gefühlen zu befassen. Wir können vorgeben. Oberflächenverhalten getrennt zu behandeln, doch damit helfen wir dem Patienten nur, sich selbst von jenen inneren Vorgängen abzutrennen, die der Kern seiner Probleme sind. Fühlende Menschen brauchen für die Ehe keine Anleitungen, keine Ratschläge, denn Ehe bedeutet, daß zwei Menschen ihr eigenes Leben voll leben, ohne aneinander übertriebene Ansprüche zu stellen und ohne einander Entbehrungen aufzuerlegen. Besitzergreifende oder übertriebene Ansprüche, Liebesentzug oder mangelnde Wärme, all das sind Zeichen einer Neurose.
Über Tod und Trauer
Mein Vater ist vor kurzem gestorben. Ich mußte mich ins Bett legen und hatte vier Tage lang ein Urerlebnis nach dem anderen. Ich möchte auf diese Urerlebnisse näher eingehen, weil sie Einsichten über das Wesen der Trauer vermitteln. Ich weinte über den Vater, den ich nie hatte. Ich weinte über mich. Das ist alles, was ein Neurotiker machen kann, wenn er von Schmerz erfüllt ist. Jeden Tag fühlte ich einen Gefühlskomplex, der jeweils von allen anderen Gefühlen losgelöst war. An einem Tag war es: »Sei mein lieber Papi.« An einem anderen Tag: »Sag, daß ich gut bin, bevor du stirbst.« Ein wieder anderes Urerlebnis lautete: »Geh noch nicht fort, ich brauch dich noch«, und so weiter. Jedes Gefühl nahm Stunden in Anspruch und ging einher mit Erinnerungen, neuen Gefühlen und schließlich Einsichten.
Als ich diese vier Tage hinter mir hatte — sie schwächten mich so, daß ich das Bett nicht verlassen konnte —, konnte ich zum erstenmal über ihn weinen, über die Tragödie, die sein Leben war. Solange mein Bedürfnis nicht aus dem Weg geräumt war, konnte keines meiner Gefühle objektiv und nach außen gerichtet sein. Nach jenem Weinen habe ich nie wieder geweint, noch je wieder Trauer empfunden. Ich habe das Gefühl, als sei das endgültig vorbei. Nicht, daß ich mich daran nicht mit aller Traurigkeit erinnerte.
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Hätte ich nicht auf Urerlebnisse zurückgreifen können, wäre ich in eine Depression und Trauer verfallen, die Wochen und Monate hätte dauern können. Es hätte sich nie aufgelöst, weil ich keine Ahnung gehabt hätte, warum ich wirklich weinte und trauerte. Ich brauche noch immer einen guten Papi. Meine Urerlebnisse lassen sich am besten als ein Sich-»Häuten« von Gefühlen beschreiben, weil sie alle vereinzelt und isoliert kamen, als sei jedes einzelne Gefühl eine Bedrohung, die man aus dem Innern zutage fördert und die die ganze für dieses Gefühl relevante Vergangenheit mit sich hervorbringt.
Es mag herzlos und grausam erscheinen, wenn ich sage, daß ich nach seinem Tod zunächst einmal über mich selbst geweint habe, doch ich hatte keine Wahl. Ich habe es nicht willentlich gemacht. Es geschah, weil meine Bedürfnisse alles andere beiseite drängten, wie Bedürfnisse es immer machen.
Später dann machte ich mir Gedanken darüber, wie sich mein Vater gefühlt haben mußte, als er wußte, daß er sterben würde, umgeben von all den Ärzten, allein und verängstigt. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, das sei alles nicht so schlimm gewesen. Schließlich war er ein alter Mann. Doch ich wußte, das war eine Rationalisierung. Er war ein verängstigter kleiner Junge, betroffen von dem, was das Leben für ihn geworden war, und er starb in seiner Kindheit.
Es führt kein Weg zurück
In der heutigen Morgenzeitung stand eine Notiz, daß in Venice die Straßenbahnen nach vierzig Jahren jetzt stillgelegt werden. Ich bin in Venice (Kalifornien) aufgewachsen, und ich hatte zunächst ein »komisches« Gefühl bei dieser Nachricht. Dann fühlte ich das Gefühl — ein weiteres Stück meiner Vergangenheit war beseitigt worden, und das stellte sicher, daß ich diese Vergangenheit nie haben würde, was immer passierte.
Das veranlaßte mich, mir über Veränderungen im allgemeinen Gedanken zu machen, über persönliche wie umweltbezogene.
Offenbar hat eine Veränderung der Landschaft für Neurotiker etwas Bestürzendes, weil es uns unbewußt daran erinnert, daß wir nie wieder einen Versuch mit unserer verpaßten Kindheit aufnehmen können. Wenn sich graue Haare, kahle Stellen und Falten einstellen, muß das ein ähnliches Gefühl auslösen.
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Ich spreche in doppeltem Sinn von einer »verpaßten« Kindheit. Erstens waren so viele von uns aufgrund unserer Angst so weit von ihr entfernt, so unbewußt und nicht vorhanden, daß wir unsere Jugend nie wirklich erlebt haben. Zweitens war Jugend für viele von uns reinster Schmerz, wir waren hilflose Opfer elterlicher Launen und Grausamkeiten. Sie war oft bestimmt durch Hausarbeiten, Pflichten und strenge Schulung, so daß es keine glückliche Jugend gab, auf die wir nun zurückblicken könnten. Das ist das Wesen von Reminiszenzen. Wir können von unserer Vergangenheit nicht ablassen, weil wir sie nie gehabt haben. Wer eine lange und gute Kindheit hatte, beschäftigt sich nicht mit Reminiszenzen und Sehnsüchten. Er wird von Veränderungen nicht überwältigt. Er hat seine Kindheit gehabt und hat nicht das Bedürfnis, sie wiederzuerleben.
Gewalttätigkeit in den Medien
Das Überhandnehmen von Gewalttätigkeit in unserer Gesellschaft schreibe ich der Neurose zu. So viele von uns können nicht sein, was sie entsprechend ihren Bedürfnissen sein müßten, und erhalten von ihren Eltern nicht, was sie brauchen, so daß Feindseligkeit und Gewalttätigkeit als allgemeine und universale menschliche Eigenschaften erscheinen. Wenn die Gesellschaft Zeuge eines jähen Gewaltaktes wird, zum Beispiel der Ermordung eines Politikers, wächst das Interesse für dieses Phänomen schlagartig an, und man sucht Erklärungen und Gründe dafür zu finden. Doch statt unser Augenmerk auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zu richten, neigen wir dazu, unseren Blick auf etwas Aktuelles und Greifbares zu konzentrieren, beispielsweise auf Film und Fernsehen.
Dabei sind die Gewaltergüsse in Film und Fernsehen nur ein weiteres Anzeichen eines allgemeinen Anwachsens von Gewalttätigkeit. Gewalt und Brutalität im Alltagsleben wie in den Medien sind nichts anderes als Manifestationen, keine Ursachen. Eine Reduzierung der Manifestationen von Gewalttätigkeit kann sich kaum auf das Ausagieren von Gewalt und Brutalität auswirken. Eine Änderung der Fernsehprogramme wäre lediglich ein Herumdoktern an den Symptomen. Eine Unterdrückung der Symptome hilft allenfalls den Anschein zu erwecken, wir seien auf dem Weg zur Besserung, doch das Übel selbst würde mit seiner ganzen ursprünglichen Kraft erhalten bleiben.
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Ich habe mich früher (vor gut zehn Jahren) einmal in einem Interview mit einem Senatsausschuß dafür ausgesprochen, daß man im Fernsehen weniger Gewalt und Brutalität zeigen solle; doch heute überlege ich mir, ob es nicht ein vorübergehend erforderliches Hilfsmittel ist, das einer neurotischen Gesellschaft ihre Feindseligkeit entziehen könnte. Zweifellos richtet es weniger Schaden an als Krieg. Vielleicht könnte man durch diese ersatzweisen Entziehungsmethoden im Alltagsleben verübte Gewalttätigkeiten reduzieren. Jedenfalls halte ich es für unwahrscheinlich, daß Gewalt und Brutalität in den Medien in dem Zuschauer Feindseligkeit erzeugen; es könnte allenfalls sein, daß dadurch eine bereits bestehende innere Wut in Bahnen gelenkt wird.
Man könnte mithin über das Wie der zu zeigenden Gewaltergüsse diskutieren, nicht aber über die Tatsache selbst. Ich möchte mit allem Nachdruck betonen, daß Gewalttätigkeit nicht durch Reden, Beispiele oder durch Dramen auf dem Bildschirm erzeugt werden kann. Haß ist eine Reaktion auf erlittenen Schmerz. Ich sehe einfach nicht, wie ein Mensch einen anderen ohne erlittenen Schmerz dazu bringen kann, ständig erzürnt zu sein, sei es über einen anderen Menschen, eine andere Rasse oder ein anderes Land.
Als möglicher Beweis für meine These, Gewalt und Brutalität im Fernsehen als Hilfsmittel einzusetzen, mögen die Ergebnisse gelten, die in Dänemark nach der Legalisierung von Pornographie verzeichnet wurden.* Es wurde festgestellt, daß nach der Legalisierung sowohl der Kauf pornographischen Materials als auch Sexualdelikte zurückgingen. Das besagt, daß die größere Zugänglichkeit einer von der Gesellschaft verdrängten Sache das Bedürfnis, ehedem verborgene Gefühle auszuagieren, verringert. Das heißt, je offener die Dinge ans Tageslicht kommen, um so geringer die innere Krankheit.
Ich glaube, Gewalt und Brutalität in den Medien sind eine Widerspiegelung der in vielen Menschen vorhandenen neurotischen Wut. Wie sonst lassen sich die Vorankündigungen und die Reklame verstehen, die unweigerlich Kampf, Mord und Totschlag zeigen? Es ist kaum anzunehmen, daß Filmgesellschaften mit millionen- oder milliardenschwerem Kapital ihre Werbung auf Gewalt und Brutalität einstellen, wenn sie nicht das Urprinzip begriffen hätten, nämlich daß Neurotiker auf ihre Bedürfnisse ansprechbar und daran interessiert sind, sie zu befriedigen. Diese Unternehmen investieren Riesensummen, um in der Werbung die brutalen Aspekte eines ansonsten vielleicht harmlosen Films anzupreisen, weil sie genau wissen, daß man mit Gewalt und Brutalität Karten an den Mann bringt.
* <Los Angeles Times> vom 14.12.1968
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Was diese Werbung den Leuten offenbar bietet, ist die Hoffnung, das freizusetzen, was in vielen von ihnen gärt. Der Mechanismus, mit Hilfe dessen das erreicht wird, ist »Identifizierung«. Der Zuschauer »identifiziert« sich mit dem Filmhelden und koppelt dadurch seine inneren Gefühle an die Aktion der Darsteller auf der Leinwand. Das Drama (und die Träume) wird zur Rechtfertigung des bereits vorhandenen latenten Gefühls. Und das ist das Gefühl, das den Zuschauer überhaupt dazu gebracht hat, sich den Film anzusehen.
Die Beliebtheit, der sich Zeichentrickfilme bei Erwachsenen erfreuen, scheint sich auf ein immer gleichbleibendes Thema zurückführen zu lassen: Der Große, Starke wird letztlich von dem Kleinen (der in dem Zuschauer steckt) fertiggemacht, zur Strecke gebracht und überlistet. Dabei ist es völlig egal, ob der Kleine ein Eichhörnchen oder ein Kaninchen ist. Offenbar ist alles willkommen, was es dem Zuschauer erlaubt, seine Feindseligkeit zu externalisieren. Vielleicht ist es sogar angenehmer, wenn diese Typen Tiere sind. Dann braucht man nichts groß auszutüfteln oder zu kombinieren; es gibt dann keine komplizierte Handlung, sondern reine, unverfälschte Gewalttätigkeit.
Die Tatsache, daß Menschen sich immer wieder brutale Filme ansehen, ist offenbar ein Zeichen dafür, daß sie an einem Gefühl festhängen, das sie nicht auflösen können. Ich glaube nicht, daß das, was sie sehen, sie »verhärtet«. Auf eigenartige Weise können sie dadurch vielleicht sogar »weich« gemacht werden. Das heißt, sie können sich von ihrer umfassenden, drückenden Wut zumindest teilweise befreien — gewissermaßen ihr Bedürfnis, Gewalt auszuagieren und zu sehen, reduzieren. Wenn sich ein Mensch gegen Gefühle verhärtet hat, weil er von seinen Eltern erbarmungslos angegriffen wurde, sobald er ehrliche Gefühle zeigte, glaube ich nicht, daß sich dieser Zustand ändern wird, und mag er sich sämtliche Disney-Filme anschauen.
Ich bin der Auffassung, daß sadistische Filme bei dem feindseligen Neurotiker wie ein Magnet arbeiten, sie ziehen ihn Jahr um Jahr zurück, schalten ihn in eine falsche Verknüpfung nach der anderen ein, bieten Erleichterung, solange er eingeschaltet bleibt. Ein solcher Mensch kann dreißig oder vierzig Jahre lang Filme dieser Art sehen, ohne daß sich sein Bedürfnis auch nur im geringsten ändert. In gewissem Sinne gleicht das nahezu allem Zwangsverhalten, das ein Bemühen um die richtige Verknüpfung ist.
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Der Filmemacher muß nur aufpassen, daß er die Situationen für den Zuschauer nicht zu ambivalent gestaltet, damit er ihn nicht verwirrt. Ein handfester »Motorradbanden«-Kampf, der sich über neunzig Minuten sinnloser Gewaltakte erstreckt, ist offenbar ein Kassenerfolg. Der dramatische Aufbau muß meiner Meinung nach den Träumen des Neurotikers ähneln, und die sind vom Neurotiker eigenhändig maßgeschneidert, um seine verleugneten Gefühle zufriedenzustellen. Ferner muß die Handlung auf einem möglichst sorgfältig konstruierten, Spannung aufbauenden Grundprinzip fußen, das am Ende verborgene Gefühle freisetzt. Die Handlung muß die Wut auf irgendeine Weise rechtfertigen, um dem Zuschauer einen Gefühlsausbruch zu ermöglichen, ohne daß er Schuldgefühle entwickelt. Denn Primärwut kommt ja gerade oft daher, daß der Betreffende in seiner Jugend Gefühle nicht ungehindert ausdrücken durfte. Folglich muß er im Kino das Gefühl haben, der Gefühlsausbruch sei »Rechtens«.
Ich überlege, ob es nicht möglich wäre, eine willkürliche Zusammenstellung der Träume einer beliebigen Auswahl von Menschen zu machen, sie einer Faktorenanalyse zu unterziehen, um die Gemeinsamkeiten von Handlung, Form und Substanz herauszufiltern, und dann einen sich an diesen Angaben orientierenden Film herzustellen. Ich glaube, das würde ein todsicherer Erfolg. Das würde meiner Meinung nach die Raterei beim Filmemachen abschaffen und die Meinungsumfragen, welche Art von Filmen am besten ankommt, drastisch reduzieren. Die beste Empfehlung in meinen Augen ist die Art von Film, die sich die Menschen allnächtlich in ihrem Schlaf selbst vorspielen. Würden sich Menschen jede Nacht den gleichen Film vorspielen, wenn er sie nicht interessierte?
Filme, die Gewalt und Brutalität zeigen, bergen möglicherweise für nicht fühlende Kinder eine Gefahr, die in der Suggestibilität dessen liegt, was sie sehen. Wenn ein Kind zu Hause nicht fühlen darf, besteht unter Umständen die Gefahr, daß es die romantisierten und idealisierten Verhaltensweisen, die es im Film sieht, nachahmt. Wenn ein Kind seinen Gefühlen entsprechend handeln darf, sehe ich diese Gefahr nicht als gegeben. Suggestibilität besteht meiner Meinung nach nur, wenn ein heranwachsendes Kind gezwungen wird, sich dem Willen seiner Eltern zu fügen, so daß es nicht dazu kommt, sich auf seine eigenen Gefühle zu verlassen. Und hier möchte ich meinen Standpunkt erneut betonen: Filme, die Brutalität und Gewalttätigkeit zeigen, erzeugen keine gefühllosen, verhärteten Menschen. Das bringen nur neurotische Eltern zustande.
Es mag eine starke Wechselbeziehung bestehen zwischen tatsächlich verübten Gewaltdelikten und solchen, die das Fernsehen zeigt, und es mag durchaus verführerisch sein, daraus zu folgern, Gewalttätigkeit in den Medien erzeuge Gewalttätigkeit im Alltagsleben. Ich bin jedoch der gegenteiligen Auffassung, nämlich daß die Wechselbeziehung darin besteht, daß erzürnte Menschen sich diese Programme anschauen und erzürnte Menschen Verbrechen begehen. Ich bezweifle ernsthaft, daß, wenn man zum Beispiel von einem Tag zum anderen jegliche Gewalttätigkeit aus dem Fernsehen verbannte, eine solche Maßnahme auch nur einen Deut an den Wutgefühlen der Neurotiker ändern würde; sie würden schnell genug Ersatz finden.
Um einmal kurz von dem eigentlichen Thema abzuschweifen: Film und Fernsehen sind auch Systeme, oder besser, Manifestationen ökonomischer Systeme. Sie produzieren, was sich verkauft. Offensichtlich verkauft sich Brutalität, weil sie ein offenkundiges Bedürfnis vieler Zuschauer befriedigt. Man mag bitten, beschwichtigen, erziehen, mit Fakten kommen, doch es ist zu bezweifeln, ob das langfristig zu einer nennenswerten Reduzierung der Gewalttätigkeit führen wird. Wenn sich neurotische Bedürfnisse ändern, glaube ich, wird mit Gewalt kein Geschäft mehr zu machen sein, und das wird meiner Meinung nach diktieren, welche Filme beim Publikum ankommen.
Der Mythos der Begegnungszentren
Ein durchschlagender Erfolg sind in Amerika augenblicklich die sogenannten <Growth Centers> oder Begegnungszentren — Orte, an denen man ein Wochenende oder eine ganze Woche verbringt, um an Vorträgen, Begegnungsgruppen, Nacktbaden oder Massagetherapie teilzunehmen und um sich generell zu entspannen.
Das Begegnungszentrum orientiert sich im großen und ganzen stark an der bioenergetischen Methode (Ausführlicheres darüber in <Anatomie der Neurose>, S.173 ff.) und an Körpermanipulationen. Den Höhepunkt eines solchen Wochenenderlebnisses bildet die sogenannte Begegnungsgruppe, ein Gruppenerlebnis, das bis zu vierundzwanzig Stunden dauern kann. Dabei werden die Teilnehmer ermutigt, einander körperlich und verbal zu begegnen.
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Diese Begegnung basiert auf mehreren Mythen — Ehrlichkeit, Selbstenthüllung, Freiheit und die Absage an innere Zwänge. Dahinter steht der Gedanke, daß es durch eine ehrliche Selbstenthüllung zu einer Befreiung und zu einem Wachsen des Selbst kommt. Wir müssen also zunächst einmal wissen, was Ehrlichkeit und Freiheit bedeuten, und was genau dieses Selbst, das alle Welt verbessert, eigentlich ist.
Das Wesen des Selbst
Bei Begegnungsgruppen wird viel vom »Selbst« geredet — Selbstbewußtsein, das Selbstvertrauen verbessern, die Selbstauffassung steigern, Selbstachtung aufbauen etc. — Wir sollten wissen, was das Selbst ist, ehe wir darangehen, es zu verbessern, aufzubauen und zu stärken. Ist das Selbst einfach Gedanken? Ändern wir es, indem wir unsere Gedanken darüber ändern? Können wir es ändern, indem wir ihm mehr vertrauen? Und, was ist es?
Das Selbst sind wir meiner Auffassung nach in unserer Gesamtheit; es ist unser gesamtes psychobiologisches Sein, inklusive Leber, Gehirn, Augen, Zunge, Vorstellungen, Gefühle, Muskeln, Blutkreislauf und so weiter. Heißt Selbstvertrauen, mehr Vertrauen zur Leber zu haben? Wenn nicht, was dann?
Ich halte die ganze Auffassung vom Selbst, von dem diese Begegnungszentren ausgehen, für unrichtig. Das Selbst ist nicht etwas, was sich anderen enthüllen läßt; es wird erlebt. Das Selbst ist nicht etwas, dessen wir bewußt werden müssen; Selbstbewußtsein und Ich-Bewußtsein sind neurotische Zustände. Wie Ray Bradbury sagt: »Realität faßt sich niemals selbst zusammen.«*
Ein gesunder, normaler Mensch ist einfach er selbst. Ja, die Gelegenheiten, bei denen wir uns unserer selbst am bewußtesten sind, zum Beispiel wenn wir vor einem großen Kreis eine Rede halten, sind die Augenblicke, in denen wir am wenigsten wir selbst sind; gerade dann sind wir am stärksten gespalten und fühlen uns am wenigsten wohl.
Ist ein Kojote sich seiner selbst bewußt? Hat er Selbstvertrauen? Natürlich sind das, auf einen Kojoten angewandt, unsinnige Begriffe. Der Kojote ist nicht in zwei Hälften gespalten, in eine, die fühlt, und in eine andere, die über seine Gefühle nachdenkt.
* <Los Angeles Times> vom 24.10.1971.
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Wie baut ein Therapeut in einem Menschen Vertrauen auf? Erzählt er ihm Lügen, und bringt er ihn dazu, ihnen zu glauben? Ermuntert er den Menschen, anders zu denken, als er wirklich fühlt? Wenn ein Mensch sich verhält, als sei er unwichtig, weil er glaubt, es kümmert sich niemand um ihn, so tut er das, weil das zweifelsohne in seinem frühen Leben der Fall war. Sollen wir ihn überreden, sich ein neues Image zuzulegen, oder ist es besser, ihm fühlen zu helfen, daß sich niemand um ihn gekümmert hat?
Es kommt vor, daß ein Neurotiker Vorstellungen von sich selbst hat, die von der Wahrheit erheblich abweichen. Er mag unerschrocken und überlegen agieren und sich in Wirklichkeit verängstigt und minderwertig fühlen. Seine Handlungen und Gedanken sind seine Art, eine im Hinblick auf seine Lebensgeschichte notwendige Abwehr auszuagieren. Einige Worte der Entmutigung oder der Aufmunterung in seinem Erwachsenenleben ändern nichts an diesen tausend und abertausend Malen, die er von seinen Eltern verspottet, ignoriert und gedemütigt wurde.
Das Selbst reagiert auf Begebenheiten im Leben als eine Gesamtheit gedanklicher und körperlicher Prozesse. Wenn ein Mensch ein neues Selbstverständnis gewinnt, aber immer noch unter verengten Blutgefäßen, verkrampften Muskeln, Blässe, mangelndem Bartwuchs und ähnlichem leidet, können wir kaum sagen, das Selbst habe sich verändert.
Das Selbst beginnt im Mutterleib, mit Begebenheiten, die sich in dieser Zeit ereignen. Es baut auf einem genetischen Erbe auf. Es wird jede einzelne Minute durch Lebensereignisse erzeugt. Es wird von tausendfach multiplizierter Wechselbeziehung entstellt und geformt. Kann es bei einer Gruppenbegegnung einen Durchbruch in dieses Selbst geben? Nein. Weil es keinen Kern gibt, in den man eindringen könnte — keine einzige Größe, keinen Augenblick, der »Selbst« hieße. Alles, was wir je tun können, ist, unser Gesamtkörpersystem zu öffnen und unser Selbst so viel wie möglich zu fühlen, damit wir, was immer im Leben geschieht, voll und ganz als Selbst erleben können. Das reale Selbst ist nicht mehr als ein einheitlicher, offener psychobiologischer Organismus, der als ein Ganzes funktioniert.
Über das Wesen der Freiheit
Eine neue Patientin hatte in einem namhaften Begegnungszentrum kürzlich ein, wie sie es nannte, »befreiendes Erlebnis«. Einige dieser Leute saßen gerade beim Abendessen und fragten die Frau, was sie im Augenblick am liebsten haben oder machen wollte. Sie sagte, sie würde gern zwei Penisse halten und mit einem Löffel gefüttert werden. Woraufhin die Gruppenleiter ihren Hosenstall öffneten und ihr gefällig waren, während ihre Frauen sie fütterten. Sie taten das unter der Schutzherrschaft der Freiheit.
Diese Episode veranlaßte mich, die Frage nach dem Wesen der Freiheit zu stellen. Heißt Freiheit wirklich tun, was man will? Keine Zwänge oder Regeln? Ein totales Sichgehenlassen?
Es ist leicht, Sichgehenlassen mit Freiheit zu verwechseln, denn für gewöhnlich versteht man unter frei sein, frei von Zwängen zu sein, freie Wahl zu haben. Die Dialektik persönlicher Freiheit besteht darin, daß die einzige Möglichkeit frei zu sein die ist, zu fühlen, was uns Zwänge auferlegt. Man wird nicht frei durch völliges Sichgehenlassen (denn diese Patientin war anschließend weiterhin verkrampft, ungelöst und angespannt), noch wird man durch symbolische Spiele frei (zum Beispiel einen Kreis von Menschen, die einen umzingeln, zu durchbrechen); es hat überhaupt keinen Sinn, solange man nicht genau weiß, welche Wahl den eigenen Bedürfnissen tatsächlich entspricht. Je tiefer man in diese alten, geschichtsbezogenen Gefühle sinkt, die einem die Zwänge auferlegt haben, um so freier wird man.
Was bringt es ein, zu tun, was immer man möchte, wenn man nicht weiß, was man braucht?
In dem oben erwähnten Erlebnis in dem Begegnungszentrum wurde symbolisches Ausagieren unterstützt, als würde das einen Menschen frei machen. Es bewirkt nichts als eine Intensivierung der Neurose. In der Primärtherapie lernte diese Frau später, wie sehr sie ihren Vater brauchte. In dem Begegnungszentrum gab sie sich mit greifbaren Symbolen eines Vaters zufrieden. Freiheit ist also keine Frage unbegrenzter Wahlmöglichkeiten; freie Wahl ist sinnlos, wenn ohnehin nichts befriedigt. Freiheit kann das Fehlen jeglicher Wahl bedeuten — man kennt einfach die eine Sache, die man zur Befriedigung braucht und wählt sie.
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Vor allem setzt Freiheit das Wissen um die Möglichkeit der Wahl voraus — das Wissen, daß es eine Wahl gibt, eine Alternative zu dem, was man tut. So viele Neurotiker können sich nicht einmal vorstellen, daß es eine andere Seinsweise gibt. Für sie ist es keine Frage der Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten; erst in dem Wissen um die Möglichkeit einer Wahl kann eine Wahl getroffen werden.
Wir haben uns daran gewöhnt, unsere Auffassung von Freiheit zu externalisieren, ohne zu verstehen, daß Freiheit ein psychischer Zustand ist; man kann sich im Gefängnis persönlich frei oder in einem Wald von engen Schranken umgeben fühlen. Man kann ein Leben lang in der Welt herumschweifen, ohne sich je frei gefühlt zu haben. Man kann lauthals Freiheit für die Frauen fordern, ohne sich jemals mit gesellschaftlichen Zugeständnissen zufriedenzugeben, weil diese Forderung lediglich eine umgemodelte, externalisierte Projektion ist.
Ist Freiheit ein Augenblickserlebnis? Oder ist es eine Lebenshaltung?
Viele Menschen sind offenbar bereit, sich mit der Augenblicksfreiheit, wie sie zum Beispiel Drogen verschaffen, zufriedenzugeben, nur um dann, wenn die Wirkung der Drogen verebbt, wieder in ihr persönliches Gefängnis zurückzufallen. Andere glauben, Freiheit finde sich in Begegnungszentren, im »Sichgehenlassen«. Sie sind nie dahintergekommen, daß man seine Geschichte nicht »gehenlassen« kann.
Es gibt Menschen, die ein Leben lang damit verbringen, eine Freiheit auszuagieren, die sie nicht zu fühlen vermögen. Sie tragen verrückte, malerische Gewänder, haben ein abwechslungsreiches Sexualleben, nehmen jede Droge, die ihnen in die Hände gerät, machen sich auf und davon, wann immer sie das Verlangen danach haben, und das Ganze trägt den Anschein von Freiheit. Wir hatten solche Leute in Behandlung, und einige von ihnen haben herausgefunden, daß ihr Ausagieren der Versuch ist, eine religiöse Vergangenheit abzuschütteln. Es ist unwichtig, in welcher Form dem Menschen Zwänge auferlegt wurden. Es gibt viele Möglichkeiten, das Denken eines Menschen zu vergiften, damit es die Gefühle des Körpers nicht zuläßt. Und diesen Körper frei agieren zu lassen, ändert nie etwas an diesen frühen, internalisierten Verboten. All das heißt nichts anderes, als daß die einzige Freiheit darin liegt, ein fühlender, von seiner Vergangenheit unbehinderter Mensch zu sein.
Über Ehrlichkeit
Eines der Ziele der Konfrontations- und Begegnungsgruppen besteht darin, Menschen zu helfen, ehrlich zu werden; ihnen zu helfen, sich selbst offen und ehrlich auszudrücken. Das wird gemacht, indem man den anderen Gruppenmitgliedern offen und ehrlich sagt, was sich im eigenen Kopf wirklich abspielt; indem man lernt, in der Gruppensituation einen anderen verbal anzugreifen oder zu kritisieren oder ihm gegenüber Zärtlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Ehrlichkeit bedeutet, die Wahrheit zu sagen. Wenn einer sagt, wie sehr er ein anderes Gruppenmitglied liebt, ist das dann wahr? Wenn einer einem anderen gegenüber, den er nicht mag, offen Feindseligkeit zum Ausdruck bringt, ist das dann wahr? Kaum.
Meistens handelt es sich dabei um eine Verschiebung, um symbolische Gefühle. Wie kann ein Mensch ehrlich sein, wenn er über seine Gefühle nur denkt und sie nicht wirklich fühlt? Neurotiker befinden sich in einem Zustand permanenter Selbsttäuschung; andernfalls ginge es ihnen gut. Man enthüllt sich anderen nicht; man fühlt sich, und das macht jede Enthüllung überflüssig — insbesondere was konstruierte Situationen wie Marathon-Begegnungen und Gruppenpsychotherapie anbelangt. Gefühle werden nicht »offenbart«; sie werden gefühlt! Ist es ehrlich, in einer Gruppensitzung zu sagen: »Ich mag dich«? Weiß ein Neurotiker wirklich, was das bedeutet? Sind diese Worte eine Wahrheit? Oder verbirgt sich dahinter das Gefühl: »Wenn ich nett zu dir bin, magst du mich dann?« — was stimmt wirklich?
Die Antwort liegt bereits auf der Hand. Ehrlichkeit bedeutet die Fähigkeit, die eigenen Motivationen zu fühlen, so daß das, was man sagt, der eigenen Gesamtverfassung entspringt. Ehrlichkeit liegt viel tiefer als das, was man gerade verbalisiert.
Der Neurotiker macht in Begegnungsgruppen normalerweise nichts anderes, als daß er in der Gegenwart aus seinem Urspeicher der Vergangenheit heraus verbalisiert. Seine Aussagen sind unverknüpfte Begebenheiten, ohne Beziehung zu ihren geschichtlichen Wurzeln. Der eine ärgert sich über einen anderen, weil der zu viel redet, anstatt zu fühlen, welche Wirkung das ständig nörgelnde Geschwätz seiner Mutter auf ihn ausübte, als er klein war. Sobald dieses alte Gefühl einmal gefühlt ist, gibt es keinen Grund mehr, in einer Begegnungsgruppe die Konfrontation mit einem anderen Schwätzer und Vielredner zu suchen. Das könnte man ein Leben lang machen, ohne je zu einer ehrlichen Lösung zu gelangen.
Wenn sämtliche Verknüpfungen richtig hergestellt sind, ist man sich selbst gegenüber ehrlich. Wenn keine Verknüpfungen bestehen, gibt es keine Möglichkeit, ehrlich zu sein, weil die Motivationen versteckt, rationalisiert und wegerklärt werden. Man sagt: »Ich liebe dich«, wenn man im Grunde meint: »Ich brauche dich.« Man sagt: »Ich hasse dich«, wenn man im Grunde meint: »Du machst mir Angst«, und so weiter. Allein schon zu sagen, man sei »sich selbst gegenüber ehrlich«, ist irreführend. Man selbst sein ist Ehrlichkeit. Wie viele von uns haben von ihren Eltern immer wieder gehört, wie sehr sie uns lieben? Und wie viele von uns fühlten sich wirklich geliebt? Was sie im Sinn hatten, war nicht unsere Wirklichkeit. Waren diese Eltern ehrlich? Sie glaubten, es zu sein, aber die Wahrheit sah anders aus.
All das heißt lediglich, daß man nicht ehrlich sein kann, wenn man die Wahrheit nicht zu fühlen vermag, und mag die Absicht auch noch so gut sein.
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