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20. In der Primärtherapie auftretende Veränderungen    

 

Janov 1972

 

 

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Für gewöhnlich kommen Menschen zur Primärtherapie, weil sie unter Spannungen oder Depressionen leiden. Im Verlauf ihrer Behandlung verändert sich dann jedoch wesentlich mehr als nur ihre Spannungen und Depressionen. Es gibt für uns normaler­weise keine Möglichkeit vorauszusagen, welcher Art diese Veränderungen sein werden. 

Wir konnten zum Beispiel nicht wissen, daß ein Sänger seinen Stimmumfang um eine Oktave erweitern oder daß ein Patient einige Zentimeter wachsen würde. Wir konnten nicht wissen, daß jemand zum erstenmal in seinem Leben Baßtöne hören oder daß ein anderer zum erstenmal transpirieren würde. Noch konnten wir wissen, daß eine Patientin ihre Operation wiedererleben würde — doch all das und vieles mehr hat sich tatsächlich ereignet. Das ist im Grunde das, was diese Therapie so aufregend und interessant macht, denn die Vielfalt und die Verschiedenheit der Veränderungen überrascht uns selbst immer wieder.

Einige Veränderungen sind bedeutsamer als andere. Eine dauerhafte Befreiung von schwerer Arthritis ist auch für viele andere von Bedeutung, die unter dieser Krankheit leiden. Es ist Monate her, seit die ehemalige Arthritikerin uns ihren Brief schrieb, und ihre Beschwerden haben sich bis heute noch nicht wieder eingestellt. Wir hätten unmöglich im voraus wissen können, was mit der Arthritis geschehen würde, oder ob sie überhaupt psychosomatisch bedingt war. Das wußten wir erst hinterher, und zwar fanden wir es heraus, indem wir die Patientin beobachteten und ihr zuhörten, und sie sagte es uns.  

Ich habe keine Ahnung, wie viele Krankheiten in Wirklichkeit psychisch bedingt sind. Aber ich bin überzeugt, daß viele körperliche Leiden auf Urschmerzen zurückzuführen sind. Wir werden im Laufe der Jahre weiteres Material gesammelt haben und mehr darüber wissen, welche Krankheiten auf primär-therapeutische Behandlung ansprechen. Wir werden Gelegenheit haben, Fälle wie den der Arthritikerin längerfristig zu verfolgen und werden dann wesentlich mehr über Krankheit im allgemeinen zu sagen haben.


 Martin 

 

»Ich sinke. Ich kann nicht atmen. Da ist Papi, sieht er mich nicht? Hört er mich nicht? Bitte, sieh mich, Papi.« Das waren meine Gefühle, als ich im Schwimmbecken unterging. Ich war damals vier Jahre alt. Diese Szene hat mich sehr nachhaltig beeinflußt, denn von diesem Zeitpunkt an begann ich auf jede erdenkliche Art und Weise »Papi, sieh mich!« auszuagieren.

Bis zu diesem Ereignis hatte ich eine relativ behütete Kindheit verbracht. Als Einzelkind wurde mir von der ganzen Familie sehr viel Aufmerksamkeit entgegengebracht. Alle Welt sagte ständig, was für ein braver kleiner Junge ich doch sei, und deshalb nahmen meine Eltern mich überall mit hin. Da ich immer nur mit Erwachsenen zusammen war, lernte ich sehr früh, wie ich sie für mich einnehmen konnte — vor allem dadurch, daß ich nie schrie.

Diese Schwimmbadepisode ereignete sich in den Sommerferien, als meine Eltern mit mir in Palm Springs Ferien machten. Mein Vater und ich waren zum Schwimmbecken gegangen und saßen auf den Stufen am flachen Ende und spielten miteinander. Plötzlich fiel ich ins Wasser, das ich zunächst einmal nur sehr blau und sehr schön fand. Doch dann fühlte ich, daß ich nicht mehr atmen konnte, und ich konnte die Beine meines Vaters vor mir sehen. Ich bekam keine Luft da unten, aber ich war sicher, mein Vater würde mir zu Hilfe kommen, ehe etwas Schlimmes passierte. Ich versuchte im Wasser zu schreien, doch niemand konnte mich hören. Mein Vater kam mir nicht schnell genug zur Hilfe, um verhindern zu können, daß ich die Angst fühlte, ich würde sterben.

In den ersten drei Wochen meiner Behandlung bat mich mein Therapeut, Kinderbilder von mir mitzubringen. Und jetzt erst, nachdem ich mir die Photos aufmerksam angeschaut hatte, fielen mir die körperlichen Veränderungen auf, die sich nach der Schwimmbecken­episode eingestellt hatten. Erst danach hatte ich begonnen, mich so zu verhalten, wie meine Eltern es gern wollten, nämlich als »kleiner Erwachsener«, denn sie selbst waren zwei sehr unreife Erwachsene. Ich habe kaum je geweint, schon gar nicht in Gegenwart meines Vaters, nicht einmal, wenn er mir weh getan hat. Ich spielte meine Rolle als »großer Mann« in jeder nur denkbaren Weise — in der Schule, beim Spielen, und selbst körperlich wurde ich sehr stämmig und untersetzt.

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Mit achteinhalb Jahren kam ich wie viele jüdische Kinder auf die Judenschule. Und dort begegnete ich dem Mann, der den größten Einfluß auf mein Leben haben sollte; dem Mann, der mein Vater wurde, dem Kantor. Ich begann meine Ausbildung als Chorknabe und entwickelte eine langjährige Beziehung zu diesem Mann, der mich bei allem, was immer ich tat, akzeptierte. Mir war damals nicht bewußt, wieviel Vergnügen es mir machte, lauthals zu singen, so laut ich nur konnte. Allerdings gab es da eine Schwierigkeit, die ich überwinden mußte, ich war nämlich tontaub (ich konnte keinen Ton halten), außerdem hatte ich keine gute Stimme.

In den folgenden Jahren gelang es mir, diese Probleme zu überwinden. Ich wurde der beste Chorknabe. Gleichzeitig war ich auch der beste Schüler. Das hatte zur Folge, daß mir die Achtung der ganzen Gemeinde, meiner Familie und meiner Freunde sicher war. Mein Vater kam allerdings nur ein einziges Mal, um mich singen zu hören — am Tag meines Bar-Mizwa*. Doch ich sang auch weiterhin. Als ich in die Pubertät kam, nahm ich auch an musikalischen Veranstaltungen der allgemeinen Schule teil. Da mein Vater mich nie ansah (zurückzuführen auf die Schwimmbeckenepisode), wollte ich, daß mir die ganze Welt zuschaute und zuhörte, aber das befriedigte mich nie richtig.

Wie die meisten dreizehn- und vierzehnjährigen Jungen kam ich in den Stimmbruch. Mit meiner Stimme geschah etwas Interessantes; ich hatte bereits sehr früh einen Baß. Das heißt, ich hatte eine dunkle, volle Stimme. Für einen Jungen meines Alters eine ungewöhnlich reife Stimme (ich habe noch Bandaufnahmen); allerdings kann ich erklären, mit Hilfe welcher Technik ich diesen dunklen Ton erzeugen konnte. Darauf werde ich später noch ausführlicher eingehen.

Als ich dann auf dem College war, hatte ich vor, Anwalt zu werden; meinen ursprünglichen Plan, Berufsmusiker zu werden, hatte ich aufgegeben. Trotzdem übte ich meine Stimme, indem ich regelmäßig im Chor mitsang, und so hielt ich meine Verbindung zum Gesang aufrecht. Meine Stimme hatte eine interessante Eigenart; trotz aller Stimmausbildung, die ich genossen hatte, war es mir nicht möglich, leise zu singen.

* Im Judentum Feier zur Erlangung der religiösen Mündigkeit, entspricht etwa der christlichen Konfirmation.

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Das hing unmittelbar mit der Schwimmbeckenepisode zusammen, denn hätte ich leise gesungen, hätte ich das Gefühl fühlen müssen, mich sähe niemand, und das bedeutete, ich hätte fühlen müssen, daß meine Eltern mich nicht liebten. Meine Stimme hatte daher, trotz aller Stimmausbildung, aufgrund dieses ungefühlten Gefühls einen erheblichen Schönheitsfehler. In der Primärtherapie fühlte ich dann neben vielen anderen Gefühlen auch jene ungefühlten Todes- und Angstgefühle, die ich im Schwimmbecken nicht gefühlt hatte, und das befreite mich aus der stimmlichen Zwangsjacke, in die mich meine Neurose gezwängt hatte. 

Nachdem ich mich in die Primärtherapie begeben hatte, begannen viele Dinge mit mir zu geschehen. Ich will hier nur von den Veränderungen sprechen, die mir am bemerkenswertesten erscheinen. Im Hinblick auf meine körperliche Verfassung kam es zur Gewichtsabnahme — ich bin schlanker und schmaler geworden — und zu weiteren Veränderungen wie Temperaturrückgang und niedrigerer Blutdruck, der bei mir immer etwas zu hoch gewesen war. Andere Symptome, wie zum Beispiel Rauchen, waren nicht mehr erforderlich, nachdem ich die Gefühle, die mich zum Rauchen zwangen, gefühlt hatte. Die größte Veränderung machte sich allerdings in meiner Stimme bemerkbar. Nachdem ich zwei Monate in der Primärtherapie war, konnte ich leise und verhalten singen und hatte daran Freude. Ich hatte nicht mehr das Bedürfnis, ständig im Mittelpunkt zu stehen und alle Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Meine Stimme verlor an Tiefe und wurde sehr viel lieblicher, da ich es nicht mehr nötig hatte, symbolisch meinen Vater anzusingen.

In den folgenden Monaten entwickelte ich ein ganz neues Verständnis für Gesang und Stimmtechnik, und meine Stimme machte erstaunliche Fortschritte. Ein knappes Jahr später wurde ich einem Gesangslehrer vorgestellt, der mir von einem Freund empfohlen worden war. Er hatte mir gesagt, dieser Lehrer habe eine Technik, die die Stimme natürlich entwickelt, und seine Schüler seien alle sehr tonsicher. Ich besuchte ihn in seinem Studio und sang ihm vor. Er war erstaunt, wie tonsicher ich war, und sagte mir, alles, was er für mich tun könne, sei, mir verständlich zu machen, was sich in meiner Kehle abspielt, und meine natürliche Stimme zu entwickeln.

In den ersten Wochen seines Stimmunterrichts war ich zutiefst erstaunt über die Übungen und Techniken, die dieser Lehrer gebrauchte. Viele seiner Gedanken und Ideen, wie auch viele seiner Begriffe waren ihrem Wesen nach der Primärtherapie verwandt.

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So geht er unter anderem von der Auffassung aus, daß alle Stimmen gleich behandelt werden müssen und daß der einzige Unterschied in der Stärke der Stimmbänder liegt, die der Stimme ihr jeweiliges Timbre und ihre Stärke verleiht. Ich sprach sehr schnell auf seine Technik an, da sie nichts beinhaltete, was mir unnatürlich erschien, und da sie mir die Freiheit gab, mich als vollständigen Menschen zu empfinden.

Den gesamten Stimmapparat und seine Technik der Stimmausbildung genau zu erklären wäre zu langwierig und zu kompliziert. Ich werde hier nur auf einige Aspekte eingehen, die im Hinblick auf korrekten Stimmgebrauch im Zusammenhang mit der Primärtherapie in meinem persönlichen Fall von Interesse sind.

Lautbildung entsteht bekanntlich dadurch, daß durch den Kehlkopf, in dem sich die Stimmbänder befinden, Luft strömt. Dadurch geraten die Stimmbänder in Vibration, und der Laut wird so gehört, wie er aus dem Mund kommt. Die Nebenhöhlen im Kopf sind die Resonanzkörper, die dem Ton Farbe und Qualität verleihen. Es gibt mithin zwei Bereiche, von denen Stimmqualität oder Klang bestimmt werden; zum einen gibt es die Bruststimme, das ist die normale Sprechstimme und der dunkler klingende Teil der Stimme, und zum zweiten die Kopfstimme, die der höher klingende Teil der Stimme ist, bei der sich die Resonanz von der Brust in den Kopf verlagert. Die Bruststimme ist die Stimme, die durch die untere Hälfte der Stimmbänder erzeugt wird, und das sind die tieferen Töne. Mit steigender Tonhöhe spannen sich die Bänder, und man singt weniger mit den Bändern, da sich die Resonanz hinter dem Gaumensegel in den Kopf verlagert. 

Die natürliche Stimme ist im gesamten Stimmbereich ausgewogen und fähig, die höheren Töne verbunden zu halten (statt wie ein Falsett zu klingen, ist sie mit der Bruststimme verbunden) und ihr dadurch einen volleren Klang zu geben, das können nur die wenigsten Sänger. Wenn das jemand kann, wird er seinen Stimmumfang wahrscheinlich auf drei Oktaven erweitern. Männer singen meistens in der Brust, Frauen meistens im Kopf; aber die beiden Stimmen sind unverbunden oder voneinander getrennt.

Bei mir waren die Kopftöne nie ausgebildet, ich habe immer mit meiner Bruststimme gesungen; und dadurch, daß ich meinen Kehlkopf nach unten zwang, konnte ich Töne hervorbringen, die sehr tief und voll klangen. Das ist selbstverständlich nicht korrekt, denn der Kehlkopf sollte, unabhängig von der Tonhöhe, immer in der gleichen Stellung bleiben, und nur die Resonanz sollte sich verlagern.

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Da ich immer »groß« sein wollte und nie weinte, war ich nie fähig, den Druck zu lösen, und konnte es nie zulassen, daß ich in meine Kopfstimme ging oder, wie mein Stimmlehrer es nannte, in die »kleine oder dünne« Stimme. Im Verlauf meiner Therapie wurde aus meinem Weinen, das aus tiefen Brusttönen bestand, das Weinen des kleinen Kindes, das zu sein ich nie die Möglichkeit hatte. Mein Lehrer sagte mir, ich solle immer einen kleinen Schrei oder ein Brummen hinter den Ton legen, das würde helfen, den Ton verbunden zu halten (ohne in Falsetto überzuspringen). Das hat mir vieles über Stimmen klargemacht. Wenn man sich das Schreien eines Babys vorstellt, das etwas will, so findet man da eine völlige Verbindung (oder Verknüpfung) der Tonbildung, die den ganzen Menschen einbezieht. Das ist die einzige Kommunikationsmöglichkeit für das Baby, und sein »Bäh« umfaßt sowohl das Brummen wie auch den verbundenen Ton in den Kopftönen, die ihm die Schrillheit geben. Das ist, glaube ich, die Schrillheit des Urschreis, der völlig verbundene (oder verknüpfte) Klang, es ist der gleiche, wie ihn jedes Baby instinktiv bildet.

Der Mensch wird durch seine Neurose gezwungen, auf ganz spezifische Weise auszuagieren, sie kann auch bewirken, daß die Stimme so funktioniert, wie es der Neurose eines Menschen am besten entspricht. So gibt es zum Beispiel Frauen, die ausgesprochen kindlich sprechen, mit einer sehr hohen oder unverbundenen Kopfstimme. Das wird im allgemeinen auf sehr ähnliche Art bewerkstelligt wie meine tiefe Stimme, nur daß der Kehlkopf hierbei hoch ist. Frauen mit tiefen Stimmen weisen oft auch andere Charakteristika und Symptome in ihren Neurosen auf, die denen männlicher Homosexueller ähneln.

Ich bin überzeugt, daß es ein leichtes wäre, bei einem gesunden Kind, das nicht von sich selbst abgespalten wird, die natürliche Stimme zu entwickeln. Der gesunde Mensch wäre in der Lage, mit seiner Stimme Schönes zu schaffen, er könnte singen, um zu musizieren, und nicht, um auszuagieren. Da dieser Mensch verknüpft wäre, wäre auch seine Stimme verbunden (oder verknüpft). Je mehr man so singt, wie das Baby schreit, um so natürlicher und schöner der Klang. Wenn man sich einmal kurz die großen Sänger der jüdischen Soul-Musik in Erinnerung ruft, wird einem klar, daß ihre Stärke im wesentlichen darin liegt, daß sie ihre Seelen ausschütten konnten und ein Weinen in der Stimme hatten.

Wie sie weinte und schrie auch ich meine Urerlebnisse durch Gesang heraus, denn ich weiß, daß Singen für mich Urerlebnissen am nächsten kommt. Ich studiere jetzt Gesang und Musik, was für mich die natürlichste Sache auf der Welt ist. Ich tue das, was mir den größten Spaß macht; und ich muß nicht mehr singen, um nicht zu fühlen, sondern ich singe und weine, wenn ich muß.

*

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Gloria

Ich bin erst seit zwei Monaten in der Primärtherapie, und es kommt mir vor, als seien es zwei Jahre. Zunächst dachte ich, meine Abwehrmechanismen sind einfach zu stark, als daß man sie je durchbrechen könnte. Ich dachte auch, daß ich jederzeit einfach aussteigen und alles beim alten belassen kann, wenn es zu hart wird. Aber ich habe schnell gelernt, daß ich nie wieder die alte sein könnte. Ich habe inzwischen zu viele entsetzliche Dinge über mich herausgefunden, vor allem, daß ich meinen Sohn nicht liebe, und mit diesem Wissen war mir dann klar, daß kein Weg mehr zurückführte. Ich wußte nicht, ob es vorangehen würde, aber ich wußte zumindest, daß ich nie wieder sein könnte, was ich gewesen war. Ich hatte erkannt, daß mein Kind bereits unter mir Schaden erlitten hat, was immer ich künftig sagen oder tun würde. Ich wollte, das wäre weniger endgültig, aber es ist so, und das einzige, was ihm jetzt helfen kann, ist die Primärtherapie. So schrecklich es ist, das zu wissen, trotzdem habe ich das Gefühl, das hat mich vor dem Wahnsinn gerettet. Einen Nervenzusammenbruch habe ich bereits hinter mir, und ich hatte immer damit gerechnet, das würde wieder passieren, sobald der Streß zu stark würde. Ich hielt es einfach nicht durch, mich so zu verhalten und zu geben, wie man es von mir erwartete.

Es haben sich noch andere Dinge in mir verändert. Mein Gehör ist anders geworden. Das habe ich mal beim Autofahren herausgefunden. Früher konnte ich die Bässe im Radio nie tief genug stellen, und heute muß ich sie hochdrehen. Ich transpiriere, und das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Ich hatte versucht, mich zu entmenschlichen. Nicht vorsätzlich, es passierte einfach. Außerdem war ich tablettenabhängig — ich nahm täglich sechs bis acht Aspirin für all die körperlichen Schmerzen und das Kopfweh. Ich habe jetzt nur noch bei verdrängten Gefühlen Schmerzen, und wenn ich das Gefühl fühle, gehen auch die Schmerzen.

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Meine Brüste sind gewachsen, sie sind zwar immer noch recht klein, aber verglichen mit früher doch ganz beachtlich. Ich bin nicht mehr so müde, nicht mehr so schlecht gelaunt, ich bin spontaner, offener und habe weniger Angst, meine Meinung zu sagen. Ich habe früher immer verkrampft geatmet — ich hatte immer das Gefühl, ich könne nicht tief genug Luft holen. Das ist heute kein Problem mehr. Und mit meinem Sohn geht es auch besser. Ich kann nicht genau sagen inwiefern, aber meine Abneigung ist offenbar geringer geworden. Meine Ängste haben sich weitgehend gelegt, und wenn sie sich wieder einstellen, gelingt es mir, sie bis zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen.

Ich beginne zu sein, was ich nie sein konnte. Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, gehe umher, denke und fühle, als sei ich noch immer ein kleines Mädchen. Dieses kleine Mädchen verläßt mich allmählich. Ich bin froh und traurig zugleich, sie gehen zu sehen. Es ist sehr schmerzhaft, von meinen Ichs abzulassen. Ich war so gespalten, daß es jetzt ein ganz eigenartiges Gefühl ist, fast eine einzige Person zu sein. (Ich war vier Personen: ein weinendes Baby, ein kleines Mädchen, das funktionierende Ich und ein Ich, das die drei anderen beobachtete.) Ich habe all meine unerfüllten Ichs mit mir herumgetragen, und zu einem gewissen Grade tue ich es noch, aber in dem Maße wie ich sie und ihre Bedürfnisse, die nie befriedigt wurden und nie befriedigt werden, fühle, werde ich eins. Ich höre auch allmählich auf, ständig von anderen Menschen haben zu wollen, was meine Eltern mir nie gaben.

Ich bin nicht die, die ich zu Beginn dieser Therapie war, doch ich bin auch noch nicht die, die ich bin — ich stehe irgendwo dazwischen und arbeite mich zu dem Ich zurück, das ich vor langem einmal war.

*

 

Kay

Als ich achtzehn war, hatte ich noch immer zwei Milchzähne. Ein Zahnarzt zog sie mir und unternahm einen chirurgischen Eingriff, damit die eingeklemmten zweiten Zähne ordentlich nachwachsen konnten. Es wuchs aber nur einer der beiden nach, und das auch nur sehr langsam, nach fast sieben Jahren war er kaum zur Hälfte runtergewachsen. Da er in den nächsten anderthalb Jahren überhaupt nicht mehr wuchs, ließ ich mir eine Krone darübersetzen.

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Ich war damals siebenundzwanzig Jahre alt, und der Zahnarzt sagte mir, die Wahrscheinlichkeit, daß er in meinem Alter noch nachwächst, sei praktisch gleich Null.

Zwei Jahre später hatte ich meine ersten Urerlebnisse, und plötzlich begannen die beiden Zähne zu wachsen. Der mit der Krone wuchs ganz runter, so daß der mit der aufgesetzten Krone zu lang war. Der andere, der so weit oben steckte, daß er praktisch überhaupt nicht zu sehen war, wuchs auf ein Viertel herunter und wächst noch immer. Es ist, als hätte das Fühlen dieser früher blockierten Babygefühle das natürliche Wachstum dieser beiden Zähne freigesetzt. Es würde mich nicht im geringsten wundern, wenn der noch immer wachsende Zahn zur vollen Länge herunterwächst, denn auch meine früher unterentwickelten Brüste sind nach meinen Urerlebnissen zu normaler Größe herangewachsen.

 

 

Alice

Lieber Art,
in der Nacht nach meinem letzten Tag in der Einzeltherapie hatte ich einen Traum, der sehr anschaulich schildert, welche Veränderungen sich in meinem Leben abgespielt haben, seit ich in der Primärtherapie bin.

Der Traum sah kurz zusammengefaßt folgendermaßen aus: Ich war eine steife Gestalt, ähnlich einer Babypuppe. Und ich war schwanger. Der Fötus in mir wuchs mit unglaublicher Vehemenz. Plötzlich platzte er in mir, voller Energie, voller Leben. Das Baby tötete den Körper, der es umgab. Das Baby lebte. Das Baby war ich. Und genau das ist mit mir selbst geschehen. Ich fühle mich, als sei dieses Baby, das reine Ich, zum erstenmal befreit. Endlich bin ich lebendig.

Vor der Therapie war ich ein »Baby«. Aber das Baby zu sein, war meine Art, nicht ich zu sein. Eine Entschuldigung dafür, nicht wie ein normaler Mensch zu leben. Ich war ein Baby für Papi, damit er mich liebte. Ich war ein Baby für meine Verehrer, damit sie sich für mich verantwortlich fühlten, damit sie die Entscheidungen trafen (wenn nicht ohne mich, dann mit mir), damit ich keinerlei Verantwortung tragen müßte. Mein ganzes Leben lang bin ich Papis Babypuppe gewesen.

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Mein Vater hatte eine unwahrscheinliche Art, mich so zu manipulieren, daß ich das Baby war, das er haben wollte. Ich blieb so für ihn. Zweiundzwanzig Jahre lang hatte ich ein so tiefes Bedürfnis nach seiner Liebe, daß ich meinem wirklichen Ich nie zu leben erlaubte.

Kurz nach meiner Einzeltherapie traf ich mich mit meinem Vater zum Essen. Ich hatte gerade eine Wohnung gefunden und erzählte ihm aufgeregt, wie sehr ich mich freute, da einzuziehen. Er sagte mir, in seiner sanften, feinen (und tödlichen) Art, daß er mir liebend gern Geld geben wolle, damit ich mir eine »schönere« Wohnung nehme. Ich erwiderte, das sei für mich keine Frage des Geldes, die Wohnung sei genau das, was ich wollte. (Himmel, allein daß ich es fertiggebracht habe, ohne schlechtes Gewissen zu sagen: »Ich will«, erscheint mir ungeheuerlich.) Dann setzte er zu seiner unnachahmlichen Geste an, die mich so viele Jahre tot gehalten hat. Er senkte sein Kinn auf die Brust, schaute mit seinen traurigen Augen zu mir auf und sagte: »Aber du bist doch noch immer mein kleines Mädchen?« Eine Hitzewelle durchschoß meinen Körper. Ich sagte: »Ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen.« Ich brachte ihn zum Weinen. Diese Szene kehrt noch immer in meinen Urerlebnissen wieder. Ich mußte ihn verletzen (meinen warmherzigen, sanften, lieben Papi, der sein kleines Mädchen immer so lieb hatte), um selbst leben zu können. Die Frage lautete: er oder ich —, und ich entschied mich für mich.

Daß ich mich nicht für meinen Vater, sondern für mich entschied und ihn mit diesem Entschluß konfrontierte, war der entscheidende Schritt, den ich tun mußte, um wirklich zu leben. Daß ich mit meinem Vater konsequent war, hat mich irgendwie geöffnet. Ich kann jetzt gegenüber anderen Menschen wirklich (wirklich ich) sein. Früher war ich »brav« oder »nett« oder »lieb«. Das waren tödliche Adjektive. Jetzt bin ich einfach ich, und das ist ein gutes Gefühl.

Herzlichst Alice

 

P.S. Ich hab mich letzten Monat bei der Schulbehörde beworben und mußte mich, ehe ich angenommen werden konnte, einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterwerfen. Zu meiner Überraschung stellte sich dabei raus, daß ich fast zwei Zentimeter gewachsen bin. Ich war so verblüfft, daß ich den Arzt bat, mich ein zweites Mal zu messen, um ganz sicherzugehen. Es stimmte tatsächlich. Vor sechs Monaten war ich ein Meter und siebzig, und jetzt bin ich fast ein Meter und zweiundsiebzig groß.

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Maria

Meine Zähne waren verwachsen. Ich hatte einen so starken Überbiß, daß ich meinen kleinen Finger dazwischenstecken konnte. Außerdem hatte ich große Zahnlücken, vor allem zwischen den beiden mittleren Vorderzähnen. Mit dreizehn Jahren war meine Zahn- und Kieferstellung so unmöglich, daß sich in den Backentaschen Geschwüre bildeten, weil ich beim Schlucken mit den Backenzähnen auf meinen Backentaschen kaute.

Mit dreizehn bekam ich Zahnspangen, außerdem mußte ich jeden Tag für vierzehn Stunden eine Kieferspange tragen, um meine Kieferstruktur zu korrigieren. Zunächst hieß es, ich brauchte die Korrekturspangen nur eineinhalb Jahre zu tragen, aber daraus wurden insgesamt fast dreieinhalb Jahre, und der ganze Spaß kostete etwa 3000 Dollar. Als ich sechzehn war, konnte ich die Spangen endgültig beiseite legen. Meine Zähne waren absolut perfekt. Mein Zahnarzt meinte, er habe noch nie ein so perfektes Untergebiß gesehen. Nachdem die Spangen draußen waren, trug ich, bis ich achtzehn war, einen Stützbügel. An meinem Gebiß änderte sich nun nichts mehr, es war inzwischen makellos.

Als ich mit der Primärtherapie anfing, taten mir bereits am vierten Tag die Zähne weh. Es fühlte sich an, als trüge ich die Zahnspangen und als bewegten sich die Zähne. Diese Schmerzen hielten bis etwa Mitte meiner zweiten Woche an, und dann bemerkte ich, daß sich mein Gebiß wieder zurückbildete und genau so wurde, wie es vor der Spangenkorrektur gewesen war. Wenn ich morgens aufwachte, taten mir Mund und Kiefer unheimlich weh. Mir fiel auf, daß mein Mund beim Aufwachen ganz fest geschlossen und zudem etwas zur einen Seite hin verzerrt war.

Am Ende der dritten Woche holte ich meinen Stützbügel wieder hervor. Meine Zähne hatten sich inzwischen bereits so verschoben, daß mir der Stützbügel nicht mehr richtig paßte. Er saß locker auf einem Zahn, und ich mußte mir sehr viel Mühe geben, um ihn schließlich doch noch über die beiden Backenzähne zu zwängen. Er war am Gaumen zu eng geworden. Ich trug ihn dann ständig, nicht nur nachts, wie damals, als die Zahnspangen entfernt worden waren. Zunächst glaubte ich, sie würden sich überhaupt nicht mehr richtig zurückbilden. Ich trug den Stützbügel über eine ganze Woche lang rund um die Uhr, ehe er wieder halbwegs paßte. Und auch anschließend hatte ich jedesmal Schwierigkeiten, den Stützbügel wieder

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einzusetzen, wenn ich ihn zum Essen herausgenommen hatte. Jetzt nehme ich ihn manchmal raus, wenn ich zur Gruppensitzung gehe, und ich habe den Eindruck, als sei es jetzt nicht mehr ganz so schwer, ihn wieder einzusetzen, wenn ich ihn eine Zeitlang nicht drin hatte. Ich glaube, daß sich mein Gebiß ursprünglich verschoben hatte, weil ich als kleines Kind vor innerer Spannung mit den Zähnen geknirscht habe. Wenn ich Urerlebnisse habe, in denen ich mich verzweifelt nach meiner Mutter sehne, stellen sich jedesmal diese Kieferschmerzen ein, und das hat eindeutig etwas mit Saugen zu tun. Offenbar werde ich meine Stützbügel so lange tragen müssen, bis ich das Saugbedürfnis gefühlt habe, und erst dann wird das nächtliche Zähneknirschen aufhören.

 

 

Rita

Lieber Art,

je mehr ich darüber nachdenke, was sich unmittelbar nach meiner Abtreibung in Mexiko in mir abgespielt hat, um so mehr komme ich zu der Überzeugung, daß es so etwas wie einen schmerzfreien Zustand nicht gibt. Laß mich das erklären.

Diese ganze Mexikofahrt, allein schon die Tatsache, daß wir sie überhaupt machen mußten, war ein einziger Kampf. Wir hätten besser aufpassen sollen. Und weil das Kind unter so verrückten Umständen empfangen worden war, wäre es schierer Wahnsinn, wenn nicht gar kriminell gewesen, es auszutragen. Es mußte sein, da half nichts.

Ich habe erst in der zehnten Woche herausgefunden, daß ich überhaupt schwanger war - jedem Außenstehenden wird das vermutlich unvorstellbar erscheinen. Aber während der Primärtherapie sind alle Symptome oder körperlichen Veränderungen für mich Anzeichen für einen Primärschmerz. Daß meine Brust kräftiger wurde, war in meinen Augen nichts Ungewöhnliches, da ihre Größe in den ersten Monaten der Primärtherapie ständig wechselte. Auch die Übelkeit hätte auf einen psychischen Schmerz hindeuten können, besonders da sie jedesmal nach einem Urerlebnis (und ich hatte zu der Zeit sehr heftige Urerlebnisse) aufhörten. Meine Menstruation war immer schon unregelmäßig gewesen. So kam es für mich völlig überraschend, als mein Arzt mich mit dieser Nachricht konfrontierte.

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Natürlich hätte die Abtreibung ganz legal auch hier vorgenommen werden können. Aber das hätte einige Wochen Warten bedeutet, in denen der Fötus gewachsen wäre. Wahrscheinlich hätte die Abtreibung dann mit Hilfe der Methode künstlich eingeleiteter Wehen durchgeführt werden müssen. Und das bedeutete körperliche Schmerzen! Also fuhren wir lieber nach Mexiko, um die Angelegenheit sofort zu erledigen und um uns von dem ganzen Alptraum zu befreien.

Die ganze Sache lief prima. Als ich erfuhr, daß man mir Pentobarbitalnatrium (oder ein ähnliches Mittel) geben wollte, bat ich, irgend jemand möge eventuelle Bemerkungen, die ich unter dem Einfluß dieses Mittels machte, schriftlich festhalten. Ich erinnerte mich, daß ich dieses Präparat vor der Primärtherapie schon einmal erhalten hatte; damals war ich tränenüberströmt wieder zu mir gekommen, und die Schwestern hatten mich angestarrt und nur gesagt: »Armes Kind.« Jetzt, nachdem ich wußte, zu was der Körper alles fähig ist, ohne daß der Verstand davon weiß, wollte ich nichts riskieren, ich hoffte, später einige Verknüpfungen herstellen zu können. Aber ich habe nicht geweint. Ich weiß noch, daß ich den Einstich der Nadel im Gesäß und im Arm spürte, daß ich zählte, und dann war nichts mehr. Die Schwestern sagten anschließend, ich hätte keinen einzigen Laut von mir gegeben. Ich weiß inzwischen, daß ich mich in einem Zustand vorübergehend aufgehobener Schmerzen befunden haben muß. Als ich, wieder zurück in meinem Zimmer, aufwachte, schrie ich vor Schmerzen, die sich anfühlten wie ein starker Menstruations­krampf. Ich erhielt ein Schmerzmittel, und alles war soweit in Ordnung, bis ich nach Los Angeles zurückkam und bei Ihnen im Büro ein Urerlebnis hatte.

Ich war wieder auf dem Operationstisch, die Beine an diesem umgedrehten, sattelähnlichen Metallstuhl festgeschnallt. Die Ärzte starrten mich an. Ich fühlte mich erniedrigt, hilflos, mein allerpersönlichstes Ich lag preisgegeben da, ich weinte. Männer! Die ganze Geschichte mit meinem Vater fiel mir wieder ein, besonders, da das hier auch Lateinamerikaner waren. Ich weinte und weinte und schluchzte über meine Hilflosigkeit. Mein Haß auf sie legte sich allmählich, und zwar in dem Maße, wie ich mich zunehmend selbst zu lieben begann. Wie hatte man mich erniedrigt - wie wird eine Frau in einem lateinamerikanischen Land erniedrigt - wie sehr hatte man mich erniedrigt!

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Dieses Gefühl war überwältigend, aber bald gab es einem präziseren, weniger diffusen, wirklich körperlichen Schmerz Raum. Ich fühlte einen scharfen, stoßartigen Schmerz. Zunächst wußte ich nicht genau, was es war, doch dann sah ich den Arzt mit einem rasiermesserähnlichen Instrument in der Hand, und ich wußte, daß ich die Schmerzen fühlte, die ich auf dem Operationstisch nicht gefühlt hatte. Mein Körper stellt die Verknüpfung zu dem Kopf erst her, als es sicher war zu fühlen, erst zu einem späteren Zeitpunkt. Doch der Schmerz ist der gleiche. Da gibt es keinen Unterschied. Hinterher fiel mir ein Satz aus Ihrem Buch ein, der sich mir irgendwie eingeprägt hatte. Es ging da um den Schmerz eines Fünfjährigen in einem erwachsenen Mann, und Sie schrieben, der Schmerz bleibe so »unverfälscht rein« wie am ersten Tag, als er zum erstenmal gefühlt wurde.

Der Körper kennt keine Zeit. Der Körper fühlt ununterbrochen. Und daß wir zeitweilig nicht fühlen, was in unserem Körper geschieht, liegt daran, daß wir es nicht zulassen, die Verknüpfung zum Kopf herzustellen. Und wenn wir die Verknüpfung später herstellen, dann sind wir wieder unmittelbar am Ausgangspunkt, ob er nun zwanzig Jahre oder eine Woche zurückliegt. Mir ist das alles jetzt so klar. Das ist der Grund, warum ich nach der Geburt meines Kindes vor zwei Jahren so viele Alpträume hatte. Im Schlaf, während meine Abwehrmechanismen nicht arbeiteten, stellte ich die Verknüpfung »Schmerz« her; ich hatte sie nicht sofort herstellen können, weil mich Medikamente daran hinderten, in meinem Kopf zu fühlen, was in meinem Körper vor sich ging. Schmerztötende Mittel töten Schmerzen keineswegs. Nichts kann Schmerz töten! Ob körperliche oder seelische Schmerzen, sie bleiben, bis irgendwann einmal die Verknüpfung hergestellt wird oder bis sie uns umbringen (je nachdem, was zuerst eintritt). Ich mußte auch daran denken, wie Grace ihre ganze Mandeloperation in Ihrem Büro, auf dem Fußboden liegend, noch einmal erlebte! Es muß stimmen!

Herzliche Grüße Rita

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Marian

 

Lieber Art,
hier mein Bericht, wie es mit meiner Arthritis steht.
Als ich zur Oberschule ging, machten sich erstmalig Schmerzen in

meinem rechten Arm, im Handgelenk, in der Hand und an den Fingern bemerkbar, sobald ich längere Zeit schreiben mußte. Ich mußte mein Schreiben regelmäßig unterbrechen und mit Arm, Hand und Fingern Lockerungsübungen machen, um zu versuchen, die Schmerzen etwas zu lösen. Viel hat das nicht geholfen, aber ich wäre damals nicht auf die Idee gekommen, das könne arthritisch sein, und darum wußte ich nicht, was ich gegen die Schmerzen unternehmen sollte.

Je älter ich wurde, um so stärker wurden die Schmerzen, und sie machten sich mit der Zeit auch an anderen Stellen bemerkbar; vor allem wenn ich länger mit dem Auto fuhr. Dann wurden meine Fußgelenke steif und schmerzten, und auch Schultern, Handgelenke und Hände taten dann unangenehm weh.

1965, als ich zweiunddreißig war, ging ich wegen eines anderen medizinischen Problems zu einem Arzt und erwähnte beiläufig, daß meine Hände oft schmerzten. Der Arzt tastete meine Hände und Fingergelenke ab und sagte dann, ich hätte Arthritis. Ich war überrascht, denn ich hatte bislang immer geglaubt, Arthritis sei eine Alterskrankheit, und so bat ich ihn um eine genauere Erklärung. Er sagte, die Art von Arthritis, wie ich sie hatte, sei nicht rheumatoid, sie würde mich nicht verkrüppeln, nur die Schmerzen würden mir zu schaffen machen. Er sagte mir, ich solle meine Gelenke warm und trocken halten, und verschrieb mir Aristogesic für die Entzündung. Ferner empfahl er mir, gegen die Schmerzen Aspirin zu nehmen. Im Laufe der Jahre wurde die Arthritis immer schlimmer.

September oder Oktober 1969 hatte ich eine Ohrenentzündung und ging zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt, und der sagte mir, meine Ohrenschmerzen kämen teilweise von meinem arthritischen Kiefer. Er riet mir, ein bis zwei Wochen nichts zu essen, was ich kauen müßte. In den zwei Monaten, die ich in seiner Behandlung war, besserten sich meine Kieferschmerzen nicht, obwohl ich nur Suppen und weiche Nahrung zu mir nahm. Der Arzt wollte mir, um die Schmerzen zu beheben, Cortison in das Kiefergelenk spritzen. Aber ich kann Spritzen nicht ausstehen und bin deshalb auf seinen Vorschlag nicht eingegangen.

Am 30. August 1970 habe ich mit der Primärtherapie angefangen, und seitdem hat sich meine Arthritis erheblich gebessert. Zunächst machte sich die Besserung jeden dritten oder vierten Tag für etwa eine Stunde nach der Behandlung bemerkbar. Jetzt fühlen sich meine

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Gelenke nach jedem Urerlebnis wie neu geölt an, diese Wirkung hält jeweils ein bis zwei Tage an, und ich fühle mich wie ein neuer Mensch. Ich weiß nicht, wie ich diese Besserung genau beschreiben soll, es fühlt sich an, als seien meine Gelenke rostige Scharniere, und nach einem Urerlebnis werden sie zu gutgeölten Kugellagern.

Das geschieht folgendermaßen: Wenn ich allmählich in Kindheitsgefühle gerate, nehmen die arthritischen Schmerzen zu, bis ich meine, es nicht mehr ertragen zu können. Aber ich halte es aus und gehe mit den Schmerzen mit, und wenn ich das Gefühl voll durchlebt habe, hören die körperlichen Schmerzen schlagartig auf.

In einem Urerlebnis erlebte ich zum Beispiel eine Begebenheit aus meiner Kindheit. Ich hatte irgend etwas Unrechtes gemacht, und meine Eltern gingen auf mich los. Was sie sagten, verletzte mich sehr, aber ich war fest entschlossen, mir nicht anmerken zu lassen, wie verletzt ich war. Ich sagte mir immer wieder: »Die bringen dich nicht zum Weinen«, und während ich das fühlte, begannen sich meine Beine zu versteifen und weh zu tun. Je stärker ich das Verletztsein fühlte, um so stärker wurden die Schmerzen in den Beinen. Plötzlich wurde mir bewußt, auch wenn ich noch so schreien würde, wüßten meine Eltern nicht, daß sie mich verletzt hatten. Und kaum hatte ich das gefühlt, da verschwanden die arthritischen Schmerzen, und meine Beine fühlten sich völlig anders an.

Durch meine Erlebnisse in der Primärtherapie weiß ich, daß meine Arthritis von meiner Kindheit kommt. Ich weiß, daß ich meinen Körper benutzt habe, um mich gegen Gefühle zu schützen, und jedesmal, wenn ich mich verletzt, nicht geliebt oder allein fühlte, versteifte ich irgendeinen Teil meines Körpers, um das Gefühl zu verhindern. Alles, was ich jetzt habe, sind die arthritischen Schmerzen. Aber da meine Arthritis mit jedem Urerlebnis schwächer wird, weiß ich, daß ich von diesem Schmerz letztlich einmal befreit sein werde.

Herzlichst Marian

 

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Kathy

Ich bin seit dreieinhalb Monaten in der Primärtherapie, und die Veränderungen, die mit meinem Körper vorgegangen sind, sind einfach erstaunlich. Sie stellen sich von ganz allein ein — ich habe darauf keinen Einfluß. Die größte Veränderung betrifft mein Schilddrüsenproblem. Seit zwölf Jahren nehme ich Schilddrüsen­präparate gegen Schilddrüsenunterfunktion. Als Fünfzehnjährige fing ich damit an; meine Menstruation war sehr unregelmäßig. Der Arzt machte damals eine Blutuntersuchung und stellte dabei fest, daß ich an einer Unterfunktion der Schilddrüse litt. Ergab mir eine kleine Dosis eines Schilddrüsenpräparats, die nicht weiter anschlug; daraufhin erhöhte er die Dosis auf etwa 100 mg pro Tag. Als meine Menstruation weiterhin unregelmäßig blieb, verschrieb er mir Antibabypillen, um meinen Menstruationszyklus zu »normalisieren«. Das Schilddrüsenpräparat nahm ich auch weiterhin, und ein Ende war da nicht abzusehen, das Mittel würde ich mein Leben lang nehmen müssen.

In den folgenden Jahren wurde ich regelmäßig untersucht und erhielt immer stärkere Dosen. Bis ich schließlich in den letzten fünf Jahren auf täglich 250 mg gekommen war. Seit ich in der Primärtherapie bin und meine alten Gefühle rauskommen, pendelt sich mein Körper wieder auf einen Normalzustand ein. Ich habe erst nach zwei Monaten Primärtherapie gemerkt, daß sich mit meiner Schilddrüsenfunktion etwas änderte. Ich begann ständig heftiges Herzklopfen zu haben, selbst wenn ich still im Bett lag. Plötzlich dachte ich: »Mein Drüsenpräparat!« Ich habe meine Dosis auf Anraten meines Arztes allmählich verringert, und jetzt nehme ich überhaupt nichts mehr. Mein Herzklopfen hörte einen Tag, nachdem ich das Mittel absetzte, auf. Ich kann es selbst kaum fassen - mein Körper. Ich erhalte ihn zurück! Meine anderen Symptome, trockenes Haar, brüchige Fingernägel und trockene Haut, sind nahezu völlig verschwunden. Ich habe ungefähr fünf Pfund zugenommen. Mein Körper ist so lange auf »Hochtouren gelaufen, daß er diese Ruhe verdient hat. Ich fühle mich manchmal müde, aber wenn »ich« mein Körper wäre, wäre ich auch müde. Und das alles ist so schnell gegangen - zwölf Jahre Tablettenabhängigkeit auf Null runtergeschraubt.

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Kathy

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