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21  Primärtherapie aus der Sicht des Therapeuten

 

 

 

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In der Primärtherapie kursiert über die Beziehung des Patienten zu seinem Therapeuten folgende Redensart: »Derjenige, der als erster vom Boden hochkommt, wird bezahlt.« Das heißt, daß es manchmal schwerfällt, einen Therapeuten von einem Patienten zu unterscheiden, weil sie in der Gruppentherapie gleichzeitig auf dem Boden liegen und Urerlebnisse haben können. Dinge dieser Art veranlassen mich, über einige ungewöhnliche Aspekte der Primärtherapie zu schreiben.

Auch wenn ein Therapeut mit einem Patienten in den ersten drei Wochen der Einzeltherapie intensiv zusammenarbeitet, ist es durchaus möglich, daß er zur samstäglichen Gruppensitzung gleichzeitig mit seinem Patienten als Patient kommt. Er kündigt auf der Stabsbesprechung am Tag vorher einfach an, daß er als Patient kommen wird und einen Vertreter braucht. Manchmal kommt es gar nicht zu einer solchen Ankündigung, weil auf der Gruppensitzung irgend etwas in dem Therapeuten ein Urerlebnis auslöst. Es kann durchaus sein, daß ihm sein Patient hilft, wenn er für diesen Tag sein Urerlebnis bereits hinter sich gebracht hat. Auch wenn jeder weiß, wer Patient und wer Therapeut ist, hängt über dem Therapeuten kein besonderer Glorienschein — er gehört keiner elitären Gruppe an und hat keinen besonderen »wissenschaftlichen« Fachjargon. Da der Patient seine Entdeckungen alle selbst macht, gibt es keinen allwissenden, von einem besonderen Nimbus umgebenen Therapeuten.

In der Primärtherapie herrscht allgemein das Gefühl, daß wir uns alle auf einer ganz besonderen Reise befinden; alle haben teil an erschütternden Erlebnissen, und alle sitzen in »demselben Boot«. Primärpatienten sind einander daher durch ein ganz anderes Gefühl verbunden als Patienten konventioneller Gruppentherapie. Wir haben uns alle gegenseitig erlebt, wie wir auf die tiefste, qualvollste Weise gefühlt haben, wie wir einander alles erzählt haben, was es über uns zu wissen gibt, wie wir wie kleine Kinder geweint und unsere Teddybären im Arm gewiegt haben — es gibt nichts mehr, was man voreinander verbergen könnte. Niemand versucht klug zu sein und mit gescheiten Einsichten und Analysen über andere zu kommen. Jeder ist um seiner selbst willen da, und das schafft diese Nähe zu den anderen.


Auch die Therapeuten haben nichts zu verbergen. Sie geben nicht vor, allwissende Ärzte zu sein. Sie geben sich nicht als die guten Papis, die neurotische Patienten in ihren Therapeuten manchmal sehen sollen. Weil es seitens der Therapeuten keine Prestige- oder Machtbedürfnisse gibt, werden die Patienten nicht manipuliert, um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Die Patienten müssen weder unterwürfig noch bescheiden, ehrerbietig oder sonst was sein. Wir alle sind nichts als einfach Menschen, die einander helfen, und einige von uns haben das Rüstzeug, das gut zu machen. Aber dem Primärpatienten wird dieses Rüstzeug nicht vorenthalten. Er lernt, wie man in Urerlebnisse gerät, welche Techniken dafür nützlich sind, und er lernt, was es zu wissen gibt, um sich selbst zu helfen, damit er sich nicht hilflos und für immer einem Fachmann überantworten muß. Er befindet sich an einem Ort, wo ihm niemand sagt, was seine Gefühle bedeuten; er kann sie einfach haben. 

Primärpatienten haben einen sogenannten Primär-Kumpel, einen anderen Patienten, der ihnen bei ihren Urerlebnissen hilft. Im Institut stehen an allen Tagen Räume zur Verfügung, die die Patienten jederzeit für ihr Kumpelsystem in Anspruch nehmen können. Die Atmosphäre im Institut wird dadurch geprägt, daß es ein Ort ist, der den Patienten gehört, und nicht in erster Linie die Praxis eines Arztes ist, und sie benutzen es, wann und wie immer sie wollen.

Unser erster Kontakt mit einem Patienten ist normalerweise ein Brief — sein Lebensbericht —, und damit beginnen unsere Schwierigkeiten. Sämtliche Mitarbeiter des Instituts haben bereits selbst eine Primärtherapie hinter sich, so daß sie alle relativ wenig abwehren. Nur wenige Mitarbeiter schaffen es, einen neu eingegangenen Brief, der voller Leid und Elend ist, ohne Tränen zu lesen. Gemessen an der enormen Zahl der Anmeldungen für die Primärtherapie, ist allein die Lektüre dieser Briefe eine nicht geringe Leistung. Jede Bewerbung wird sorgfältig diskutiert, und es müssen viele abgelehnt werden, weil wir einfach nicht genügend Mitarbeiter haben. Für viele ist es eine Frage von Leben und Tod. An uns wenden sich Menschen, die Jahre der Analyse oder anderer Therapien hinter sich haben, und glauben, wir seien ihre letzte Hoffnung.

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Sie abzuweisen, wozu wir manchmal gezwungen sind, kann in einigen Fällen vernichtend sein. Und sie lassen sich nicht leicht abweisen. Nachdem wir einen Bewerber abgewiesen haben, treffen bei uns anschließend oft Bittbriefe, Telephonanrufe, Briefe von ihren Ärzten, Familien­angehörigen oder Freunden ein. Es wird zu einer Herkulesarbeit, überhaupt jemanden abzuweisen.

Ist ein Patient einmal angenommen, dann werden zunächst diverse Vorbereitungen getroffen. Viele Patienten werden während ihrer Behandlung regelmäßig auf physiologische Veränderungen hin untersucht, deshalb müssen wir zu Beginn der Therapie die Grunddaten festhalten, wie zum Beispiel Hirnstromkurven, Blutdruck, Körperinnentemperatur und eine Vielzahl anderer Messungen. Es wird eine Stabsbesprechung abgehalten, auf der Brief und Lebensbericht des künftigen Patienten vorgelesen und im Hinblick auf seine Abwehrmechanismen und deren Behandlungsmethoden und ähnliches diskutiert werden. Oft wird jede Stunde der Einzeltherapie mit Videorekordern aufgenommen und täglich vom Mitgliederstab diskutiert, um Fortschritte zu bemessen, mögliche Irrtümer zu korrigieren und die Behandlung des kommenden Tages zu planen.

Jedem Patienten wird ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit gewidmet. Unser Ziel ist selbstverständlich, jedem Patienten zur Gesundheit zu verhelfen, und in den meisten Fällen gelingt uns das auch. Wenn eine Videorekorder­aufnahme gezeigt wird, kommt es bei den Mitarbeitern selten zu widersprüchlichen Kommentaren über die angewandten Techniken — ein Beweis für die Präzision der Therapie. Wenn ein Fehler gemacht wurde, wird er sofort von allen bemerkt. Ich erinnere mich an Mitarbeiter­besprechungen in Kliniken und psychiatrischen Anstalten, bei denen keinerlei Präzision verlangt oder erwartet wurde, jeder Mitarbeiter tat einfach, was ihm richtig und sinnvoll erschien. Dahinter stand die unausgesprochene Grund­einstellung, daß Psychotherapie mehr eine Kunst als eine Wissenschaft sei. Es wurde nie auch nur mit einem Gedanken die Möglichkeit erwogen, mit Hilfe besonderer Techniken vorhersagbare Veränderungen zu erzielen. Grund dafür war nicht eine Gleichgültigkeit der Mitarbeiter; es lag einfach daran, daß wir über kein systematisches klinisches Verfahren verfügten.

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Auf diesen Stabsbesprechungen werden ferner einmal wöchentlich Lebensbericht und klinischer Fortschritt jedes einzelnen Patienten diskutiert, so daß jeder Therapeut mit allen Fällen vertraut ist. Das ermöglicht es, die Therapeuten bei der Gruppentherapie jederzeit auszutauschen; jeder Therapeut kann jeden Patienten behandeln, weil er über den jeweiligen Stand der einzelnen immer genauestens informiert ist.

Der von den Therapeuten erforderliche Einsatz ist enorm und oft ungemein anstrengend. Sie haben daher alle drei Wochen jeweils eine Woche Ferien — und die brauchen sie. Sie arbeiten zwar immer nur wenige Stunden am Tag, doch die Arbeit ist emotional sehr anstrengend, und ich habe das Gefühl, daß Primärtherapeuten innerhalb weniger Jahre »ausbrennen«. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um sie bei guter Gesundheit zu halten. Ein wesentlicher Grund, daß Primärtherapie eine so anstrengende Arbeit ist, liegt in ihrer Präzision. Es ist nicht einfach eine Sitzung, die man »runterhaut« oder in der man lediglich ein guter Zuhörer ist. Primärtherapie erfordert in jeder Minute äußerste Konzentration, damit jeder therapeutische Eingriff genau, zeitlich treffend und ökonomisch ist. Patienten beenden ihre drei Wochen Einzeltherapie normalerweise mit dem Gefühl, es sei die wichtigste Zeit ihres Lebens gewesen, und sie bringen ihrem Therapeuten, der ihnen oft buchstäblich das Leben gerettet hat, ein besonderes Gefühl entgegen. Dieses Gefühl hat nichts mit »Übertragung« zu tun. Es ist ein aufrichtiges Gefühl der Dankbarkeit.

Wer der Patient auch immer sein mag, für gewöhnlich kommt er aus einem Urerlebnis zurück und sagt: »Das ist erstaunlich!« Selbst nach jahrelanger Praxis als Primärtherapeut, und nachdem ich Tausende von Urerlebnissen miterlebt habe, kommt ich aus meinen eigenen noch immer mit dem Gefühl zurück, wie erstaunlich es ist, von einem Gefühl nahezu buchstäblich blitzartig in die Geschichte zurückversetzt zu werden. Patienten stellen ausnahmslos fest, daß es keine Worte gibt, Urerlebnisse zu beschreiben, und schon gar nicht für Gruppensitzungen — jede einzelne ist im wahrsten Sinne des Wortes ein »Happening«. Es fällt mir heute äußerst schwer, an einem Theaterstück Gefallen zu finden, denn Scheindramen verblassen vor dem Drama eines Urerlebnisses.

Da ich gerade über Gruppenarbeit in der Primärtherapie spreche, sollte ich eine weitere Gefahr für den Therapeuten erwähnen - einige von uns laufen Gefahr, zumindest teilweise ihr Gehör zu verlieren. Während einer Gruppensitzung wurden kürzlich die Dezibel gemessen (wir wollten berechnen lassen, wie stark die Schallisolierung werden sollte), und das mußte in etwa den Dezibel eines Düsenjägers entsprochen haben.

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Im Gruppenraum wird jeder nur denkbare Gegenstand benutzt, der alte Rückkoppelungsschleifen wieder aktivieren könnte. Spielzeug, Teddybären, richtige Kinderbetten und -wiegen, Laufställchen, Sandsäcke, Gummischnuller, Babyflaschen, um nur einiges zu nennen. Dieses »Spielzeug« mag im Hinblick auf andere Therapien absonderlich erscheinen, aber wenn ein Mensch für seine Vergangenheit weit geöffnet ist, gewinnen diese Dinge eine besondere Bedeutung. Patienten, die (im richtigen Augenblick) in eine Wiege gelegt werden, jammern und schreien wie Säuglinge, sie versuchen sich auf die andere Seite zu drehen und schaffen es nicht (weil sie eine Zeit wiedererleben, in der sie zu derartigen Aktivitäten noch nicht fähig waren), und beginnen reflexartige Saugbewegungen auszuführen, oft so schnell, als wollten sie deutlich machen, daß es sich um automatische und nicht willens­mäßige Bewegungen handelt.

Im Gruppenraum befinden sich mehrere Therapeuten gleichzeitig, sie helfen den Patienten, wenn sie zum Beispiel Schwierigkeiten haben, in ein Gefühl zu gelangen, sei es, weil das Gefühl so schmerzhaft ist, oder weil sie in das Gefühl nur mit Hilfe eines Gesprächs gelangen können. Die meisten Patienten, deren Abwehr in der dreiwöchigen Anfangsphase zusammengebrochen ist, brauchen kaum Hilfe. Sie sind für gewöhnlich ein einziges Schmerzbündel, ihr Schmerz strömt stückweise hervor — der Körper verschließt sich, wenn er für den Tag nicht mehr ertragen kann. Erst in späteren Phasen brauchen die Patienten am dringendsten Hilfe. Wenn sie zu den Gefühlen und Szenen gelangen, bei denen der entscheidende Spaltungsprozeß seinen Anfang nahm, brauchen sie einen Menschen, der ihnen beisteht und ihnen versichert, daß er darauf achtgibt, daß sie auf ihrer Flucht vor den Gefühlen nicht »verrückt« werden. Diese Angst ist berechtigt. Wenn sie diesem Gefühl gegenüber offen wären und sich nicht in der Primärtherapie befänden, könnte es sie durchaus in absonderliche Gedankenbildungen treiben.

Wenn ein Patient die Gruppe endgültig verlassen will, bleibt er einfach weg — ohne Erklärungen, Anrufe oder sorgfältige Vorbereitungen in Zusammenarbeit mit dem Therapeuten. Nach dem gleichen Prinzip nimmt er an den Gruppensitzungen teil — wenn ihm danach zumute ist. Gruppensitzungen gibt es an fast jedem Tag in der Woche, so daß Patienten, die merken, daß sich ein Urerlebnis anbahnt, innerhalb weniger Stunden an einer Gruppensitzung teilnehmen können.

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 Primärtherapeutische Gruppen unterscheiden sich von konventionellen Gruppen auch in anderer Hinsicht. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Patient zu einer Gruppensitzung je zu spät kam. Sie sind fast alle eine halbe Stunde vor Beginn da und fangen buchstäblich ohne uns an. Sie kommen nicht, um Lob oder Anerkennung vom Therapeuten zu erhalten, sie kommen, um zu sich selbst zu gelangen, folglich arbeiten sie nicht auf ein Ziel hin und haben keine von anderen erstellten Richtlinien. Ein Patient mit latentem Transvestitismus kann zur Gruppensitzung in Frauenkleidern kommen, ohne daß darüber auch nur eine einzige Bemerkung fallen würde. Es wird akzeptiert als seine Art, an ein Gefühl zu gelangen. Patienten, die nackt sein müssen, ziehen sich aus, ohne daß es von anderen kommentiert oder auch nur beachtet würde. Ich habe den Eindruck, bei Nackttherapien, bei denen Nacktheit in den Mittelpunkt rückt, herrscht die unausgesprochene Grundeinstellung, daß der Körper nicht wirklich einfach als Teil unserer selbst akzeptiert wird.

Primärtherapeutische Gruppen sind ungewöhnlich und lassen sich kaum beschreiben. Einem Außenstehenden erscheint es absonderlich, daß jeder seine eigene Sache macht: der eine spielt Gitarre (weil die Gitarre für ihn sein einziger Freund ist, immer da, wenn er sie braucht, sie geht fühlend auf ihn ein, und so weiter); ein anderer liest Pornos (»Ich suche nach einer aufregenden Mama, die die teilnahmslose, >tote<, die ich früher hatte, ersetzen soll«); ein anderer spielt mit seinem Teddybär, den er schon als Fünfjähriger hatte; ein anderer schlägt auf den Sandsack ein, während er seinen Vater anschreit; und wieder ein anderer liegt im Kinderbett und fühlt jene frühen Gefühle, stundenlang im Kinderbett oder im Laufställchen allein gelassen zu werden.

Da gibt es keinen Gruppenleiter, der alles unter Kontrolle hält, der die Situation organisiert. Im Gegensatz zu anderen psychotherapeutischen Methoden werden die Patienten bei uns ermuntert, sich in der Gruppe neurotisch zu verhalten, ihre Phantasien oder Überempfindlichkeiten auszuagieren, damit sie zu ihren Gefühlen gelangen. Wenn wir zum Beispiel wissen, daß Menschen ihre Gefühle ausagieren, dann wird das Ausagieren in einer besonderen therapeutischen Situation oft diese Gefühle selbst wachrufen. Ist das erreicht, dann wird der Betreffende mit Hilfe besonderer Techniken in diese Gefühle hineingeführt.

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So stand ein Patient, der ein wahres Vermögen für Pornographie ausgegeben hatte, in einer Nachbehandlungs­gruppe auf, um ihn herum lagen Dutzende von Büchern, hielt seinen Penis und fühlte endlich, was er wirklich suchte (in dem oben erwähnten Fall): eine fühlende Mutter, die ihm Gefühle entgegenbringt. Ein anderer Patient stellte eine Peitsche her, die genauso aussah wie die, mit der ihn sein Vater zu schlagen pflegte. Wir schwangen sie über seinem Kopf, und das ermöglichte es ihm, die frühe Angst vor seinem Vater wiederzuerleben. Manchmal veranstalten wir mit einem Patienten einen richtiggehenden Ringkampf, wenn es für ihn erforderlich ist, daß er sich von seinem Vater überwältigt fühlt.

Es geht nicht darum, daß die Patienten hier bei uns Wohlverhalten an den Tag legen und anschließend draußen krank sind. Es ist besser, wenn sie bei uns »verrückt« sind und die Sache durchspielen. Die Dialektik all dessen besteht darin, daß man um so mehr ein »ganzer« Mensch wird, je mehr man es sich erlaubt, »in die Brüche« zu gehen.

Ausagieren wird nie um des Ausagierens selbst willen unterstützt — das hieße lediglich die Neurose zu verstärken. Ziel ist vielmehr, in den Zwang hineinzugelangen und die dahinterstehende Triebkraft zu fühlen. Ein Exhibitionist kann sich zeigen und nach dem aufgebrachten oder schockierten Gesichtsausdruck der Frauen in der Gruppe Ausschau halten und plötzlich auf den Boden fallen und schreien: »Mami, zeig mir doch etwas Gefühl, bitte!« Ein Spanner kann die Gelegenheit, daß eine Patientin nackt ist, nutzen und ihre Genitalien anstarren — und dann plötzlich fühlen, was es war, das er dabei gesucht hat. Es liegt alles offen zutage; nichts wird zurückgehalten.

Wie bereits gesagt, in einer primärtherapeutischen Gruppe ist es durchaus möglich, daß ein Patient ein Urerlebnis seines Therapeuten überwacht. Unsere Sekretärin kann an einem Tag im Empfangszimmer einen Patienten empfangen und am nächsten Tag in demselben Zimmer ein Urerlebnis haben. Nach ihrem Urerlebnis kann sie dann mit ihren Pflichten als Empfangsdame fortfahren. Bei uns herrscht eine allgemeine Atmosphäre des Fühlens. Ich bin überzeugt, einem Außenstehenden, selbst einem außenstehenden Psychiater, der das zum erstenmal sieht, würde das alles so absonderlich erscheinen, daß er versucht wäre, entweder Reißaus zu nehmen oder uns allesamt abtransportieren zu lassen.

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Es gibt ganze Familien in der Primärtherapie, und es kommt manchmal vor, daß ein Sohn seinem Vater beisteht und daß eine Tochter ihrer Mutter hilft. Niemand lebt die abstrakte Rolle »Mutter« oder »Sohn«. Jeder ist ein Mensch, der anderen helfen kann. In der Gruppe ist es nichts Ungewöhnliches, daß Mutter und Sohn nebeneinander liegen und beide nach der Mutter rufen — der Sohn in diesem Falle nach der »alten« Mutter, die er damals brauchte.

Um uns über den Fortschritt des Patienten zu vergewissern, führen wir regelmäßig Messungen seiner körperlichen Verfassung durch (bei denen, die dem Forschungsprogramm angeschlossen sind). Wir vergleichen die physischen Meßergebnisse mit den »blinden« Bewertungen des Therapeuten über den Fortschritt des Patienten. So stellen wir normalerweise, wenn der Therapeut in seinem Tagesbericht ein »volles Urerlebnis« verzeichnet, einen signifikanten Abfall der physiologischen Messungen fest. Wenn der Therapeut in seinem täglichen Bericht »blockiert« verzeichnet, stellen wir einen Anstieg dieser Indizes fest.

Erstaunlich ist, wie wenig wir von »psychologischen« Messungen Gebrauch machen. Wir berücksichtigen die Aussagen des Patienten über seinen jeweiligen Gefühlszustand, aber in dieser »Psychotherapie« werden keine psychologischen Tests durchgeführt. Der Grund liegt auf der Hand. Diese »Psychotherapie« ist im Grunde eine psychobiologische Therapie, und Geist und Seele werden nicht behandelt, als seien sie etwas von dem Organismus Getrenntes. Was läßt sich durch psychologische Tests erreichen? Offene Patienten haben Zugang zu ihrem Unbewußten, mithin besteht kein Bedarf für die sogenannten »projektiven« Tests. Kein Therapeut braucht einzugreifen oder etwas zu deuten. Der Patient wird nicht diagnostiziert, und damit entfällt auch die Notwendigkeit für diagnostische Tests. Mir fällt kein einziger wirklich überzeugender Grund ein, warum man mit Primärpatienten einen psychologischen Test durchführen sollte. Das einzige, was zum Beispiel für einen projektiven Test sprechen könnte, wären die Gefühle eines Patienten. Doch da der Patient bereits fühlt, erübrigt sich der Test.

Es spielt keine Rolle, was der »Geist« projiziert, selbst wenn er »Normalität« projiziert. Selbst wenn anhand eines Rorschach-Testes festgestellt wird, daß es sich um einen gesunden Menschen handelt und dieser Mensch ein hohes Spannungs­niveau aufweist, dann ist der Test nutzlos. Das Fehlen psychologischer Tests (die nebenbei bemerkt entsprechend der theoretischen Überzeugung des Testers interpretiert werden) erübrigt geheime, klassifizierte, in besonderem Fachjargon abgefaßte psychiatrische Berichte.

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Dem Primärpatienten wird nichts vorenthalten. Sinn aller Affekttests ist es, anhand der Testreaktionen vom Patienten Hinweise zu bekommen und heraus­zufinden, was diese Fingerzeige bedeuten. Da in der Primärtherapie keiner einem anderen sagt, was seine Gefühle bedeuten, besteht auch für diese Tests kein Bedarf.

Nach einer Gruppensitzung kommt es nicht selten vor, daß Patienten und Therapeuten gemeinsam irgendwohin zum Essen gehen. Dahinter steht das Gefühl, daß wir alle da sind, um einander zu helfen, und daß man sich nicht von einem der anderen absondert. Da es bei unserer Therapie nicht zur Übertragung kommt (das heißt, wir »sprengen« sie und bringen sie an den Ursprung zurück, von dem aus das Gefühl übertragen wird), gibt es bei den Patienten keine besonderen Gefühle, wenn sie mit ihrem Therapeuten gesellschaftlich verkehren. Wir wissen alle, daß die Therapie nichts mit der Beziehung zwischen Patient und Therapeut zu tun hat, sondern nur mit der Beziehung zu uns selbst. Wenn ein Patient ein Urerlebnis hat, das eine Einzelsitzung erfordert, kann ohne jedes Problem der eine Therapeut für den anderen einspringen.

Nach einigen Monaten der Behandlung bieten wir eine »Intensiv-Woche« an, in der der Patient eine weitere Woche der Einzel­therapie erhält. Diese Therapie übernimmt oft ein anderer Therapeut als der, der die anfängliche Einzeltherapie durchgeführt hat. Sinn dieser Woche ist es, in Bereiche vorzudringen, die mehr Aufmerksamkeit .verlangen, als es in der Gruppen­arbeit möglich wäre; ferner dient sie dazu, sich über den Patienten und seine Fortschritte auf dem laufenden zu halten.

Wir haben in der Primärtherapie viele Psychologen, die darauf warten, mit ihrer primärtherapeutischen Ausbildung zu beginnen. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, irgendwo als konventioneller Therapeut zu arbeiten, auch nicht, wenn sie promoviert haben; sie machen andere Dinge — bei der Post arbeiten, Leitungen legen, Telegramme austragen, kochen und so weiter. Im großen und ganzen beschäftigen sie sich mit einfachen und realen Dingen. Sie versuchen nicht, anderen etwas zu verkaufen, noch würden sie bei einer sozialen Institution arbeiten, bei der sie den Menschen keine primärtherapeutische Hilfe bieten können. Niemand schlägt den Patienten diese Jobs vor; es werden keine Regeln aufgestellt, wie oder wo man arbeitet.

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Patienten fassen ihren Entschluß, was sie im Leben tun wollen, selbständig, und sehr oft ist es etwas anderes als das, was sie tun wollten, als sie neurotisch waren. Viele Patienten, die eine abgeschlossene Berufsausbildung hinter sich haben, bleiben in dem ursprünglich gewählten Gebiet, nur gehen sie ihre Arbeit ganz anders an als vorher. Schauspieler suchen sich, wenn sie es sich leisten können, reale Rollen aus und nehmen sehr viel weniger Engagements an als vorher.

Primärtherapie ist auch in anderer Hinsicht ungewöhnlich. Sie nimmt den Menschen voll und ganz in Anspruch und ist nicht eine Sache, die man so nebenher macht. Daher können Primärpatienten in den ersten Monaten ihrer Behandlung kaum von etwas anderem reden oder denken. Die Therapeuten nehmen tiefen Anteil am Leben des Patienten, sie sind keine engstirnigen Experten. Sie rufen den Patienten oft an und fragen, wie es ihm geht. Der Unterschied, glaube ich, besteht darin, daß der Therapeut für den Patienten nicht da ist, um ihm als Reflektor zu dienen; er ist da, um ihn gesund zu machen. Bei der Therapie kommt es zu sehr viel Körperkontakt zwischen Therapeut und Patient. Zum Teil beruht das einfach auf Zuneigung, doch im wesentlichen zielt es darauf ab, im Patienten Schmerz wiederzuerwecken, der mit mangelnder körperlicher Wärme in den ersten Jahren zu tun hat. Es gibt keinen intellektuellen Weg, der das vermag.

Aus allem bisher Gesagtem sollte ersichtlich sein, daß die Primärtherapie für den Patienten eine wirkliche Umwälzung bedeutet und daß sich niemand leichten Herzens dorthin begibt. Wenn der Patient nicht wirklich leidet und sich nicht uneingeschränkt engagiert, ist die Primärtherapie nichts für ihn. Paradoxerweise erzielt diese Therapie am schnellsten bei solchen Patienten Erfolge, die bei klassischen Therapeuten als besonders schwere Fälle gelten — Perverse, Alkoholiker, Drogensüchtige. Wenn Impulse an die Oberfläche sprengen, bedarf es nur einer kleinen Wendung, um den Impuls vom Ausagieren in ein volles Urerlebnis zu verwandeln. Mithin ist die Heilung eines schweren Alkoholikers, auch wenn er in den Vierzigern oder Fünfzigern ist, keine schwere Aufgabe. Diese Therapie dauert länger bei Menschen, die »es geschafft« haben, bei den Intellektuellen, die die Erfolgsleiter erklommen haben. Unsere schwierigsten Patienten sind daher Psychologen. Sie sind so darauf abgerichtet worden zu denken, daß Denken die einzige Möglichkeit sei, Probleme zu lösen, daß sie sich hinsichtlich der Bedeutung des Fühlens völlig neu orientieren müssen.

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Primärtherapeuten haben ihre Bedürfnisse gefühlt, sie haben sie »verarbeitet«, so daß die Bedürfnisse der Patienten immer Vorrang haben. Wenn das bedeutet, für Patienten auch nachts oder sonntags Zeit zu haben, dann geschieht das. Und wenn es bedeutet, einem Patienten zu sagen, daß man einen Fehler gemacht hat und sich entschuldigen möchte, dann geschieht auch das. Wie wohltuend für den Patienten, keinen vollkommenen Therapeuten zu haben, und wie wohltuend für den Therapeuten, nicht Experte sein zu müssen.

 

Ein primärtherapeutischer Filmabend 

Wir zeigen im Institut regelmäßig Filme, die wir »Primär-Filme« nennen (The Yearling, La Strada, The Search etc.). Diese Filmabende sind nicht ganz das, was man normalerweise in einem Kino erlebt. Die Absicht einer Kunstform wie Film ist es, Gefühle hervorzulocken. In einem normalen Filmtheater geschieht folgendes: Gefühle werden wachgerufen, müssen dann aber aus Verlegenheit, aus Angst, andere zu stören, oder aus welchen Gründen auch immer runtergewürgt werden. So gesehen richtet ein wirklich emotionsgeladener Film beim Zuschauer Schaden an, weil er sich erneut unterdrücken muß.

Im Institut reagiert das Publikum. Emotionsgeladene Szenen lösen Urerlebnisse aus, und der Patient rollt sich einfach zur Seite und hat ein Urerlebnis. Der Lärm ist oft ohrenbetäubend, und man hat Schwierigkeiten, vom Ton überhaupt etwas zu hören; wenn der Film zur Hälfte abgelaufen ist, liegen die meisten Primärpatienten am Boden und stecken in Urerlebnissen. Ich bin überzeugt, das klingt absonderlich, aber es ist so, es ist real. Die meisten Filmtheater sind unreal aufgezogen. Wo sonst sollen wir unsere Gefühle haben, wenn wir sie nicht in dem Augenblick haben können, wenn eine Filmszene tiefe Gefühle in uns erweckt?

Kinos sind wirklich die einzigen Orte, an denen Kinder Gefühle haben können, so unterdrückt sie auch sonst sein mögen. In neurotischen Familien werden die meisten Gefühle des Kindes verdrängt, besonders Weinen, und ganz besonders, wenn dieses Weinen einer anderen Sache als Schläge oder körperlichem Schmerz gilt.

Das Kino ist jener geheime, dunkle Ort, an dem man dennoch etwas von seinen Gefühlen haben darf. Das Problem ist nur, daß das ähnlich einem Coitus interruptus wirkt — anhaltende Agitation und dann Frustration, weil es keine emotionale Klimax gibt. Ich frage mich, in welchem Maße diese chronisch unterdrückten Tränen zu Symptomen wie tropfende und verstopfte Nasen beitragen.

Ein wesentlicher Beitrag, den Schulen leisten könnten, wäre, Filmvorführungen in der Schule atmosphärisch so zu gestalten, daß Kinder emotional, und zwar extrem emotional reagieren können. So daß, bei einem repressiven Elternhaus, wenigstens die schulische Situation helfen könnte, einen Teil der zu Hause aufgestauten Spannung zu entladen. Das würde gleichzeitig unsoziales Ausagieren kindlicher Spannungen erheblich reduzieren.

Es ist wirklich bedauerlich, daß der erste Reflex neurotischer Institutionen, Familie und Schule einbegriffen, Unterdrückung ist. Man gibt sich der Täuschung hin, es sei alles in Ordnung, wenn man das Verhalten unter Kontrolle hat, ohne zu berücksichtigen, daß es im Kind wie in einem Hexenkessel brodelt. Und wenn das Kind dann allein ins Kino geht, unterdrückt es schließlich auch noch sich selbst — und damit wird die Neurose endgültig besiegelt.

Wenn Unterdrückung zu Hause und in der Schule nicht die beabsichtigte Wirkung erzielt, bringt man das Kind vielleicht zu einem Psychologen — einem Fachmann für »Verhaltensmanipulation«. Er vollendet dann die Arbeit, die Schule und Elternhaus nicht zustande brachten. Das Kind ist am Ende und vermag nicht einmal mehr bei Filmen zu fühlen.

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