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22  Das Leben nach der Primärtherapie  (Leslie Pam)  

 

      Janov 1972

 

 

    Einleitung    

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Wie sieht das Leben nach der Primärtherapie aus? Für jeden Menschen anders. Das Leben keines Menschen ist beispielhaft für das eines anderen, und nur die Tatsache allein, daß dieser Mensch »gesund« ist, bedeutet nicht, daß er eine ganz bestimmte Lebensweise führen wird. Urerlebnisse erzeugen keine homogene Gruppe. Ganz im Gegenteil. Der Postprimär­patient wird hochgradig individualistisch; er ist alles andere als ein »Vereins-Meier« und hält sich von allem, was organisiert ist, fern.

Leslie Pam ist geheilt. Er spricht darüber, was »Heilung« bedeutet, was Heilung für ihn bedeutet; denn was Heilung für ihn ist, braucht es nicht für andere zu sein. Er hat sich nicht an irgendwelchen Normen oder statistischen Erhebungen gemessen, um festzustellen, ob er normal und gesund ist. Er ist normal und gesund, weil er sich normal und gesund fühlt, weil es ihm gut geht und weil er nicht mehr unter Spannungen leidet oder ausagiert. Ich habe seinen Bericht in dieses Buch einbezogen, weil seine Behandlung schon einige Zeit zurückliegt, und das ermöglicht uns einen Einblick in Langzeitwirkungen der Primärtherapie.

Vielleicht ist das ein geeigneter Augenblick, um etwas darüber zu sagen, wie lange es ungefähr dauert, bis ein Patient als »geheilt« betrachtet werden kann. 

Radikale Veränderungen treten bei der Primärtherapie innerhalb der ersten Wochen ein. Viele Patienten, wenn auch nicht die meisten, erreichen ungefähr im sechsten Behandlungsmonat den Punkt, von dem es kein »Zurück« mehr gibt, den qualitativen Sprung des mehr real als unreal Seins. Einige Patienten verlassen uns zu diesem Zeitpunkt und haben dann zu Hause noch Monate oder sogar Jahre lang Urerlebnisse. Einige bleiben noch weiterhin viele Monate in Behandlung. 


Letzteres gilt vor allem für Patienten, die eine besonders schreckliche Kindheit hatten, in der Schmerz an der Tagesordnung stand — zum Beispiel Patienten, die in Heimen oder Internaten aufgewachsen sind. Die Tatsache, daß ein Patient die Therapie beendet hat, besagt noch nicht, daß er geheilt ist; ebensowenig wie die Tatsache, daß er in Behandlung bleibt, heißen muß, daß er hochgradig neurotisch ist.

Ausschlaggebend ist, ob der Betreffende zu seinen Gefühlen gelangen kann, ehe er neurotisch ausagiert. Es kann jemand viele Monate lang viele Urerlebnisse haben und dennoch nicht geheilt sein, wenn er noch wesentliche ungelöste Schmerzen hat — den Urschmerz der Geburt zum Beispiel. Wenn ein Mensch mit ernsthaften Schmerzen ein Gefühl blockiert, statt es zu fühlen, ist er so neurotisch wie je zuvor — denn für Abwehrverhalten gilt alles oder nichts. Derselbe Abwehrmechanismus wird nach der Therapie, sobald ein Schmerz nicht gefühlt werden kann, wieder in Aktion treten. Darum bleiben Patienten jetzt länger in der Primärtherapie als früher.

Wir haben inzwischen gelernt, daß die größeren Schmerzen oft erst in den späteren Behandlungs­monaten zum Vorschein kommen, nachdem die geringeren Schmerzen bereits gefühlt wurden. Wir wissen, daß Patienten bei diesen schweren Schmerzen Hilfe brauchen. Oft sind sie nicht in der Lage, ohne Hilfe und Anleitung zu ihnen vorzudringen. Das heißt jedoch nicht, daß sie in dieser Zeit nicht real sind. Es heißt nur, daß ihr Gesamtkörpersystem offen genug für einen weiteren wesentlichen Ansturm ist, und dabei bedürfen sie der Hilfe.

Unter Schmerz zu stehen bedeutet nicht, daß man neurotisch ist; Schmerz zu blockieren jedoch ist neurotisch. Alle bisherigen Fehlschläge dieser Therapie sind auf die mangelnde Anerkennung der Tatsache zurückzuführen, daß es keine Therapie für Dilettanten ist. In der Primärtherapie gibt es einen Zeitpunkt, an dem es unerläßlich jst, alles Unreale um einen herum zu meiden — sei es die Arbeit, den Ehepartner, einen Freund oder was auch immer. Einige Patienten sind dazu nicht bereit. Sie wissen, daß unreale Beziehungen sie letztlich zugrunde richten werden, doch aus diversen Gründen halten sie daran fest. 

Der gutverdienende Geschäftsmann fährt fort, Dinge zu verkaufen, die niemand braucht. Die Ehefrau bleibt aufgrund finanzieller Unsicherheit bei ihrem psychisch gestörten Mann. Primärtherapie kann nicht für all das eine Lösung bringen. Eine neue Lebensweise ist ebenfalls Teil der Therapie. Kurz gesagt, der Patient ist nicht ein Gegenstand, an dem wir Wunder vollziehen. Er nimmt aktiv teil an dem Veränderungsprozeß. Für einen Kompromiß ist kein Raum, denn er selbst kompromittiert sich als der Mensch, der er ist.

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Es gibt Menschen, die in der Primärtherapie nicht geheilt werden. Das ist ein sehr geringer Prozentsatz. Dafür gibt es vielerlei Gründe, aber der wohl entscheidende Grund ist ein vorschneller Abbruch der Therapie. Einige Patienten wollen nicht allen Schmerz fühlen, den die Therapie mit sich bringt. Sie verlieren die Geduld und entscheiden sich für das neurotische Leben. Das ist ihre eigene Entscheidung. Andere Patienten sind emotional so blockiert, daß es erheblich länger als sechs oder acht Monate dauert, sie aufzuschließen. Sie verlieren den Mut und springen ab. Diejenigen, die bleiben, werden nahezu ausnahmslos alle gesund.

Kritiker haben sich oft über den Post-Primärpatienten Gedanken gemacht. Sie fragen, welchen Sinn eine Therapie hat, die den Menschen nicht darauf vorbereitet, in dieser Welt zu leben. Es stimmt, daß es für reale Menschen schwer ist, in einer unrealen Welt zu leben. Aber welche Alternativen gibt es? Krank zu sein und an Krankspielen teilzunehmen? In kranken Beziehungen zu verbleiben und sich der Unrealität anderer Menschen »anzupassen«? Reale Menschen können das nicht. 

Aber real zu sein hat Vorteile. Ein realer Mensch läßt sich von anderen nicht in die Irre führen, zum Beispiel heiratet er nicht einen Menschen, um ein halbes Jahr später festzustellen, daß dieser Partner kein guter Mensch ist. Er setzt nicht aus falschen Gründen Kinder in die Welt, um sich sein Leben lang von ihnen betrogen zu fühlen. Er übernimmt keine Arbeiten und Aufgaben, die er nicht ausführen kann. Er hat keine Freunde, die ihn nur ausnutzen. Sein Leben ist einfach, man könnte fast sagen primitiv. Aber er ist ausgesprochen zufrieden. Er ist selten krank; die Menschen, mit denen er verkehrt, können sich offen und warmherzig geben. Er ist nicht unruhig und nervös.

Ihn treibt nichts, Dinge zu tun, die zu Selbsthaß führen, wie zum Beispiel Trinken, Drogen nehmen. Rauchen, sexuelle Perversionen. Weil er fühlen kann, kann er letztlich auch geliebt werden.

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    Leslie   

 

Vor gut zwei Jahren habe ich mit der Primärtherapie angefangen, und ich betrachte mich heute als geheilt. Seit ich jetzt als Primärtherapeut arbeite, werde ich ständig von Leuten über Wirkung und Folgen der Primärtherapie gefragt. 

»Hört der Schmerz irgendwann auf?« - »Wie sieht Ihr Leben jetzt aus?« - »Wie hat sich die Primärtherapie auf Sie ausgewirkt?« 

Das sind ständig wiederkehrende Fragen, und anstatt sie aus klinischer Sicht zu beantworten, möchte ich lieber davon sprechen, wie mein Leben jetzt aussieht, von meinem gegenwärtigen Standort, und von einigen Dingen, die ich seither mache. Die Frage, die die meisten Menschen beschäftigt, ist wahrscheinlich:

»Hört der Schmerz irgendwann auf?« 

Ein neurotischer Mensch, ein möglicher künftiger Primärpatient liest dieses Buch und sieht das Wort »Heilung«; ich glaube, die Menschen haben eine falsche Vorstellung von diesem Begriff. Wenn ein Mensch neurotisch ist. müssen fraglos auch seine Hoffnungen neurotisch sein. Kurz gesagt, Hoffnung ist neurotisch. Am Anfang suchte ich diese göttliche ewige Glückseligkeit und das, was sie uns für das Leben nach dem Tod verheißt: einen Ort, an dem es weder Schmerz noch Probleme gibt. Nach zwei Jahren habe ich meine Vorstellungen, was es heißt, die Therapie beendet zu haben, grundlegend geändert; vielleicht werde ich in zehn Jahren all den alten Schmerz gefühlt haben, doch das ist für mich jetzt fast unwichtig geworden. Und das versuche ich den Leuten verständlich zu machen. 

Wenn ich einem Neurotiker sage, daß ich gestern ein Urerlebnis hatte, zieht er daraus unter Umständen den Schluß, die Therapie funktioniere nicht. Dabei hat die Tatsache, daß ich gestern ein Urerlebnis hatte — oder heute vielleicht sogar zwei —, überhaupt nichts damit zu tun, ob die Therapie funktioniert. Wenn eine Neurose das symbolische Ausagieren der eigenen schmerzlichen Gefühle ist und wenn ihre Heilung das Fühlen dieser Schmerzen ist, dann können wir von einem geheilten Menschen sprechen, wenn er seine Gefühle nicht mehr ausagiert, sondern fühlt. Das unterscheidet sich recht erheblich von dem, was man gemeinhin von einer Therapie erwartet — zumindest recht erheblich von den Vorstellungen, die ich vor Beginn meiner Therapie hatte.

Meine Antwort auf die Frage: »Hört der Schmerz irgendwann auf?« lautet: Glauben Sie, daß Sie eines Tages einfach aufhören zu essen oder zu schlafen oder zu atmen oder sonst etwas zu tun, was zu ihrem Leben dazugehört? Für mich sind Schmerzen einfach eines der vielen Dinge, die mit mir geschehen, einfach eine von vielen Gegebenheiten meines Lebens. Er kann heute auftreten, und er kann für drei Wochen ausbleiben und dann drei Tage hintereinander kommen. Aber solange ich weiß, daß ich den Schmerz fühlen kann, ist er für mich kein Problem.

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Ich bin mir bewußt, daß ich noch immer Urschmerz habe — und mag er auch noch so gering sein —, und wenn er aufgelöst wird, fühle ich ihn. Zum Beispiel wurde ich kürzlich gebeten, in einer Fernsehdiskussion zu dem Buch Der Urschrei Stellung zu nehmen, und am Tag vorher stand ich unter ungeheurer Spannung. Ich sprach darüber mit einem der anderen Primärtherapeuten und erinnerte mich einer Szene, die ich völlig aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte; selbst nach anderthalb Jahren in der Primärtherapie war sie mir nicht wieder eingefallen.

Als ich in der vierten Klasse war, hatte ich irgend etwas Unrechtes getan, und der Lehrer zwang mich, vor die Klasse zu treten und zu sagen, daß ich etwas Böses gemacht habe, daß ich gelogen habe. Und jetzt fühlte ich dieses Gefühl, mir wurde bewußt — das war eine enorme Einsicht —, daß ich seither jedesmal, wenn ich vor einem größeren Kreis etwas sagen mußte, mich innerlich darauf vorbereitete zu sagen, ich hätte etwas Böses gemacht. Als handele es sich um meine Beichte. Mein Leben lang fühlte ich mich vor Gruppen unerträglich unwohl. Nach diesem Urerlebnis ging ich zu der Fernsehdiskussion und hatte keinerlei Schwierigkeiten. Die Spannung war verflogen. Und ich weiß, es wäre für mich überhaupt kein Problem, so etwas jederzeit zu wiederholen. 

Nach zweijähriger Primärtherapie besteht nur ein geringer zeitlicher Abstand zwischen den Augenblicken, wenn ich Spannung in mir aufsteigen fühle, und wenn ich zu den realen Gefühlen gelange. Wenn ich heute etwas nicht weiß, fühle ich mich nicht mehr verlegen. Es liegt eine unglaubliche Freiheit darin, einfach ich zu sein, ohne unter durch Angst oder Befangenheit hervorgerufener Spannung zu leiden. Das ist ein Ergebnis der Primärtherapie. Als ich anfing, legte ich mich oft hin und weinte zwei oder drei Stunden über einen besonderen Schmerz, der für meinen Körper, meinen ganzen Organismus, mein Sein unerträglich war. Inzwischen kann ich in weniger Zeit ebensoviel fühlen, weil ich Schmerzen jetzt besser ertrage. Und das Schöne am Fühlen ist, daß ich dem jetzt vertrauen kann, ich kann es zulassen, die Intensität jedes beliebigen Gefühls zu erleben. Heute nimmt es weniger Zeit in Anspruch, einen besonderen Schmerz zu fühlen, es ist, als bewegte ich mich in entspanntem Wasser. Ich habe keine Angst mehr zu fühlen; ich fürchte mich nicht mehr, mir zuzugestehen, das kleine Baby oder das weinende Kind zu sein.

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Das Fühlen meiner Urschmerzen hat mein Ausagieren abgelöst, und das ist nicht einmal mit einer bewußten Anstrengung verbunden. Teil des therapeutischen Prozesses ist, wie ich finde, daß man um so weniger ausagiert, je mehr man fühlt, je mehr man es zuläßt, daß man fühlt. Man kann sein Ausagieren nicht durch einen Willensakt einstellen — man muß das dem zugrunde liegende Gefühl fühlen. Ich habe eine ganze Reihe Patienten erlebt, die ausagieren, als seien sie völlig gesund, und doch unter dieser unerklärlichen Spannung leiden. Sie agieren letztlich irgend etwas anderes aus; sie machen den Therapeuten zu dem Papi oder zu der Mami, die sie sich wünschen. Solange diese Patienten ihre eigenen Urgefühle nicht fühlen, werden sie weiterhin ausagieren. Es gab Zeiten, in denen auch ich in meiner eigenen Therapie glaubte, völlig in Ordnung zu sein, um dann erst Wochen oder Monate später herauszufinden, daß das nicht der Fall war. Diese Dinge sind bisweilen so subtil, daß manchmal Wochen verstreichen müssen, ehe man neue Einsichten gewinnt, die dann zu einem tieferen Verständnis führen. Und wirkliches Verständnis meiner selbst zeigt mir, wie ich ausagiert habe, und sogar, in welche Richtung ich mich in meinem nächsten Urerlebnis bewegen muß; wirkliches Verständnis ist ein permanenter, zyklischer Prozeß.

Wie wirkt sich all das auf meine Fähigkeit aus, in der Gesellschaft zu leben? Ich fühle mich wohl, wenn Menschen um mich sind, weil ich von ihnen nichts will. Ich habe bereits gefühlt, daß ich eine Mami und einen Papi brauchte, und jetzt kann ich Menschen so nehmen, wie sie sind — zu ihren Bedingungen, auch wenn sie neurotisch sind; ich kann mit Menschen umgehen, ohne das Bedürfnis zu haben, sie jemand sein zu lassen, der sie nie sein können. Und das ist für mich wohl mit der größte Gewinn, den mir die Primärtherapie gebracht hat — ich kann mit Menschen zusammen sein, ich kann Menschen wirklich kennenlernen, weil ich nicht mehr an meinen eigenen unerfüllten Bedürfnissen festhänge. Ich kann heute mit einer Frau reden, ohne den alten Kampf, sie zu einer Mami machen zu wollen; und ich kann mit einem Mann reden, ohne daß er gleich ein Papi sein muß. Und nicht nur das, es macht mich auch zu einem besseren Therapeuten. Wenn ein Therapeut gute Eltern braucht und einen Patienten sieht, wird er diesen Patienten zu einem Papi oder zu einer Mami machen, auch wenn er sich noch so anstrengt, das zu vermeiden. Erst nachdem er diesen ganzen Schmerz oder zumindest ein Großteil davon gefühlt hat, wird er die innere Freiheit haben, in dem Patienten nur den Patienten zu sehen und nicht einen Menschen, der seiner Bedürfnisbefriedigung dient. Unabdingbare Voraussetzung für einen Primärtherapeuten ist, absolut frei zu sein.

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Ich bin extrem sensibel gegenüber allen körperlichen Veränderungen — ich fühle, wie sich mein Körper verändert, wenn ich etwas angespannt werde. Aber es baut sich nur dann Spannung auf, wenn ich nicht gleich einhake. Daher lege ich mich lieber gleich für einige Minuten hin, um unmittelbar zu dem Gefühl vorzudringen, und dann kann ich anschließend aufstehen und bin wieder völlig in Ordnung und brauche andere mit meinen Bedürfnissen nicht zu behelligen. Und diese Fähigkeit, viel Schmerz zu fühlen und ohne weiteres zu ihm vorzudringen, habe ich durch die Primärtherapie gewonnen.

Ich finde, daß mein Leben in einer Hinsicht ungewöhnlich angenehm und in anderer Hinsicht sehr traurig geworden ist. Das Schöne an meinem jetzigen Leben ist, daß ich mich nicht kompromittiere. Ich habe keine Verlangen, mich in einen unerfreulichen Job zu vertiefen oder auch nur in einen lukrativen, wenn das einen solchen Zeitaufwand bedeutet, daß ich die Möglichkeit verliere, mich am Leben zu erfreuen. Ich habe keine Angst mehr, seit ich das Bedürfnis nach Mami und Papi gefühlt habe. Ich kann mich über die Bedienung in einem Restaurant beklagen, wenn mir dazu Anlaß gegeben wird, oder ich kann ihr mein Lob aussprechen. Genauso geht es mir gegenüber allen anderen Menschen. Wenn ich Leute nicht mag, gehe ich ihnen einfach aus dem Wege. Wenn sie sich mir aufdrängen, sage ich ihnen, daß ich sie nicht mag. Und wenn ich Leute wirklich mag, kann ich ihnen das sagen, ohne deswegen verlegen zu werden. Ich kann entsetzlich wütend werden, wenn man mir Unrecht tut, aber andererseits bin ich gegenüber Menschen, denen es wirklich schlecht geht, mitempfindend und warmherzig. Ich vertrete den Standpunkt, daß ich die Freiheit habe, immer ganz ich selbst zu sein. Das heißt nicht etwa, daß ich herumgehe und andere vor den Kopf stoße, sondern nur, daß ich von den Neurosen anderer mich nicht betroffen fühle.

Philosophen haben Jahrtausende damit verbracht, über den Sinn des Lebens, für die Begründung unserer Existenz etc. Theorien zu entwickeln. Mir erscheint dieser gewaltige intellektuelle Aufwand völlig absurd. Wenn ich Interesse an Geschichte habe, sehe ich Geschichte aus primärtheoretischer Sicht. Ich extrapoliere von meinen eigenen Gefühlen und übertrage das auf das Weltgeschehen. Und das macht für mich absolut Sinn. Politische Bewegungen, Erziehungssysteme, ökonomische Modelle — all das sind soziale Ableger des ursprünglichen Primär-Modells.

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Urschmerzen zu fühlen erklärt viele der nicht zu beantwortenden Fragen, über die sich die Menschen den Kopf zerbrechen, seit sie sprechen können. Und das gibt mir Gelassenheit. Ich zerbreche mir nicht den Kopf über die Unendlichkeit oder über Gott — ich verstehe all diese Dinge. Ich verstehe aufgrund meiner eigenen Gefühle, warum Menschen an Gott glauben, was Religion für sie bedeutet, daß es Ersatz für ein Bedürfnis ist, das nie befriedigt wurde.

An das zu glauben, was ich fühle, bedeutet unter anderem, daß ich ein guter Therapeut sein kann, denn wenn ich weiß, was ich fühle, und daran glaube, kann ich nicht verunsichert werden. Ich kenne meine Wahrheit und die meiner Patienten. Ich kann Menschen wirklich helfen, weil ich sie nicht von einem eklektischen Standpunkt aus betrachte. Ich weiß, wo ihr Schmerz liegt. Ich weiß, was ihr Schmerz ist.

Ist es möglich, daß jemand kein Primär- oder Urbedürfnis hat? Bei allen Patienten, die mir begegnet sind, ist das noch kein einziges Mal vorgekommen. Jeder hat das gleiche basale Bedürfnis. Daß Mami und Papi sie nicht geliebt haben und daß sie ohne diese Liebe sterben würden. Das Bedürfnis nach Liebe beginnt bei der Geburt.

Ich weiß, was Liebe ist, weil ich das Bedürfnis danach in einem Baby-Primal gefühlt habe. Ich glaube, es war eines der gewaltigsten Gefühle, an die ich je geraten bin, insofern es mir so vieles beantwortet hat. Es brachte die einzelnen Gefühls­momente, die ich bis dahin gefühlt hatte, zusammen. Ich war gerade in der Gruppensitzung, und Art leitete nebenan die Sitzung der Nachbehandlungsgruppe, ich fühlte einfach, daß sich irgend etwas in meinem Innern abspielte, nur wußte ich nicht, was. Also ging ich nach nebenan und legte mich hin. Ich merkte, daß mein Kopf meinen Körper therapierte, und fühlte, daß ich das abstellen mußte. Ich ging statt dessen mit meinem Körper mit. Und allmählich hörte ich auf zu denken. Zum Schluß fühlte ich nur noch meinen Körper; meine Augen waren offen, aber ich konnte kaum sehen, außerdem konnte ich nichts von dem verstehen, was um mich herum gesprochen wurde. Ich wußte nicht einmal, daß ich existiere — ich wußte nicht, wo ich war und was geschah. Ich konnte einzig und allein meinen Körper fühlen. Und mein Körper sagte mir ständig etwas, das ich mit keiner Erinnerung verknüpfen konnte. Mein Körper tat einfach weh.

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Schließlich, nachdem ich mich dem eine Weile hingegeben hatte, fühlte ich das Bedürfnis, gefüttert zu werden. Und wie fühlte sich dieses Bedürfnis an? Es war eine reine Körperreaktion. Ich merkte, wie sich mein Mund zusammenzog, und ich begann ungewollt und automatisch Saug­bewegungen zu vollführen. Ich hatte das Gefühl, daß ich ein winziges Baby war. Ich wußte nicht, wie alt ich war. Ja, ich hatte keinerlei Vorstellung davon, was Alter bedeutet. Bei diesem Urerlebnis waren überhaupt keine Gedanken beteiligt. Ich fühlte mich hungrig. Ich wußte nicht, wodurch ich mich besser fühlen würde. Ich wußte nur, daß mein Körper weh tat, und dann begann der Schmerz sich auszubreiten. Dieser Prozeß begann mit dem Saugreflex und mit einem mäßigen Schmerz, der meinen ganzen Körper einzuhüllen begann. Und dieser Schmerz wuchs an, es war keine »Liebe« da, die dem Schmerz hätte entgegen­wirken können. Und »Liebe« hätte in diesem Augenblick bedeutet, von Mami aufgenommen und gefüttert zu werden. Das war es, was ich brauchte. Das ist Liebe — die eigenen Bedürfnisse erfüllt zu finden, was auch immer diese Bedürfnisse im jeweiligen Augenblick für ein Baby sein mögen.

Als ich dieses Gefühl beendet hatte, wußte ich, daß ich nicht bekommen hatte, was ich brauchte; und die Tatsache, daß ich als jenes Baby nicht bekommen hatte, was ich brauchte, war der Anfang meiner Neurose. Auch ohne über die Neurophysiologie der Neurose etwas gelesen zu haben, auch ohne davon etwas zu verstehen, fühlte ich, daß mein Schmerz auf einer zellularen Ebene begonnen hatte, und es war, als gäbe es einen kleinen Bereich in meinem Bauch, der sagte:

»Ich habe Hunger«, und mein Mund begann Saugbewegungen zu vollziehen. Weil dem Bedürfnis nicht entsprochen wurde, wurde der reale körperliche Schmerz für diesen kleinen Bereich meines Magens unerträglich. Inzwischen weiß ich, daß Zellen eine Schmerzschwelle haben. Zellgruppen können mehr Schmerz ertragen. In dem Maße, wie jede Zellgruppe ihre größere Gruppen­schwelle für Maximalschmerz erreicht, werden immer mehr Zellkörper in Mitleidenschaft gezogen, bis der Körper in vollständigen, verheerenden Schmerz gehüllt ist. In letzter Konsequenz wird der Organismus dann sterben. Das hätte mir als Säugling passieren können. Bei Exsikkose [Austrocknung des Körpers] ist das ähnlich. Zunächst ist der Mensch durstig — die Kehle ist ausgedorrt. Bald wird der Mund geschwollen, der Magen aufgebläht, und der Körper beginnt zu schmerzen. Es ist, als wüchse und wüchse der körperliche Schmerz, wenn das Bedürfnis nicht befriedigt wird.

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Bei Exsikkose gerät der Mensch ins Präkoma, und schließlich stirbt er. Die Neurose hat bei mir letztlich den Tod verhindert. In dem Urerlebnis fühlte ich, wie mein Kopf den körperlichen Schmerz abblockte; ich konnte den Beginn des neurotischen Prozesses fühlen.

Der Kopf ist der Lebensretter des Menschen. Es gibt bestimmte wilde Tiere, die sich in Gefangenschaft aufgrund einer natürlichen Kraft, die sie einander sexuell fernhält, nicht paaren. Diese Elterntiere sind, da neurotisch, unfähig, für ihre Jungen zu sorgen, also paaren sie sich nicht. Tun sie es dennoch, dann sterben ihre in der Gefangenschaft geborenen Jungen oft. Ich glaube, das liegt daran, daß die Jungen fühlen können, daß Mami nicht so für sie sorgen kann, wie sie es brauchen. Der Fürsorge beraubt, sterben sie. Sie haben keine Gehirnmechanismen, um den Schmerz abzublocken, wenn er zu groß wird, also sterben sie statt dessen. Neurotischen Menschen jedoch fehlt dieser natürliche Instinkt, keine Kinder zu bekommen, wenn sie unfähig sind, angemessen für sie zu sorgen. Um trotz mangelnder Bedürfnisbefriedigung zu überleben, müssen ihre Kinder zu Abwehr­mechanismen greifen.

Am nächsten Tag geriet ich wieder in dieses Gefühl des Baby-Primals, als ich gerade eine Freundin besuchte, und ich merkte, daß dieses Urerlebnis noch etwas anderes zur Folge hatte. Ganz plötzlich fühlte ich meinen Körper lebendig werden, als hätte ich einen sechsten Sinn, ein Bewußtsein von anderen Menschen. Ich fühlte meinen Körper als wahrnehmenden Mechanismus lebendig werden, und das war mächtiger als mein Sehen, mein Gehör, mein Geschmacks- oder Geruchssinn. Ich glaube, diese Sinne sind bei unserer Geburt noch äußerst schwach entwickelt. Doch ein Sinn ist bereits voll entwickelt, nämlich der Körper; mein Körper war wie ein Radargerät. Als sich meine Freundin mir näherte, konnte ich den Abstand zwischen ihr und mir allein mit dem Körper abschätzen. Ich konnte fühlen, wann sie sich mir näherte und wann sie sich von mir entfernte. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Und ich begann verzweifelt zu weinen, wie ein kleines Baby, das von seiner Mutter, die es gerade dringend braucht, allein gelassen wird. Meine Freundin kam ins Zimmer zurück und ging auf das Bett zu. Ich fühlte, wie sie näher kam. Ich konnte sie nicht sehen, aber mein Körper fühlte dieses Gefühl. Und in diesem Augenblick geschah etwas anderes Erstaunliches: Ich fühlte tatsächlich jenes erste Mal, als mir bewußt wurde, was ich tun mußte, um Schmerz zu lindern.

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 Ich weiß, das klingt unglaubhaft, aber ich habe es tatsächlich erlebt. Und mein erster Gedanke war, daß Weinen sich gut anfühlt. Es half, den Schmerz erträglich zu machen. Und ich fühlte, ich war ein Baby, und ich wußte, ich war ein Baby. Ich war irgendwo weit zurück in meiner Vergangenheit, und es war phantastisch, daß ich weinen konnte, um den Schmerz zu lindern, während ich hilflos dalag.

Ich steckte noch mitten in diesem Erlebnis, als ich plötzlich Gesicht und Augen meines Vaters sah. In früheren Urerlebnissen hatte ich immer maßlosen Schrecken gefühlt, wenn ich seine Augen sah. Und ich glaubte wirklich, daß er in diesem Augenblick tatsächlich da war; er war jung, und sein Haar war schwarz. Ich sah seine Augen, und das waren die Augen eines Verrückten. Ich konnte kaum sehen, ich hatte nur ein verschwommenes Bild, aber ich konnte ihn mit meinem Körper fühlen. Mein Körper sagte mir etwas, und plötzlich begann ich vor Entsetzen zu schreien — das Entsetzen zu wissen, wie unfähig er war, richtig für mich zu sorgen. In dem Augenblick, als ich das sah, fühlte ich mein Gehirn klicken, als sei dieser Schmerz so unerträglich, daß ich ihn auf der Stelle abschalten mußte. Und weil ich mir endlich zugestand, dieses völlig hilflose Baby zu sein und dieses Gefühl zu fühlen, konnte ich den in der Vergangenheit nicht gefühlten Schrecken erleben. Und der einzige Ort, an den ich mich vor meinem Schmerz flüchten konnte, war mein Kopf. Der körperliche Schmerz war über das noch erträgliche Maß hinausgewachsen, und ich wäre von einem derartigen Ansturm körperlichen Schmerzes gestorben. Daher schaltete ich ihn mit meinem Kopf ab. Mein ganzer Körper war eingetaucht in dieses Entsetzen, das ich als körperlichen Schmerz fühlte, und als mein Kopf abschaltete, geriet mein Körper in einen Schock — in einen Schock gegen diese Gefühle.

An jenem Abend nach dem Urerlebnis fühlte ich mich ausgelassen und von einer gewaltigen Last befreit. Ich hatte nie gemerkt, wie sehr mich dieses alte Gefühl an vielem gehindert hatte. Ich fühlte mich großartiger als je zuvor in meinem Leben. Als ich die Straße entlang ging, war da keine Angst mehr, weil ich die ursprüngliche, frühe Primärangst gefühlt hatte. Ich hatte keine Angst mehr, auf Fremde zuzugehen und mich an ihrer Unterhaltung zu beteiligen. Ich hatte keine Angst mehr davor, ob sie mich mögen oder nicht mögen würden. Das Urerlebnis hat mir so vieles erklärt — warum ich mein Leben lang so ängstlich war, und wie sich diese Angst auf mein Leben ausgewirkt hatte.

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Den Schmerz zu fühlen, hat mich von der Angst befreit. Ich hatte vorher schon eine ganze Reihe anderer Therapien mitgemacht, aber etwas Ähnliches habe ich in meinem Leben noch nie erlebt.

Jetzt verstehe ich, wie es zur Neurosenbildung kommt, was sich dabei im Menschen abspielt. Wie jedermann davon betroffen wird. Ich fühlte die ersten Anfänge meiner Neurose. Ich fühlte den körperlichen Schmerz auf meinen ganzen Körper übergreifen, und ich konnte das Abblocken fühlen, das mir das Leben rettete. Inzwischen sehe ich Neurose als einen nützlichen, verdienst­vollen Mechanismus. Wir bleiben auf Kosten der Gefühle am Leben. Es ist nicht mehr als ein lebendiger Tod, aber es ist ein Überlebensmechanismus. Zudem ein sehr guter.

Ich kann nur sagen, die Primärtherapie hat mein Leben gerettet. Und nicht nur das, sie hat mich aller Dinge, die in der Welt um mich her geschehen, bewußt gemacht. Ich habe meinen Frieden gefunden und weiß, wie die Welt funktioniert, und warum wir als Menschen sind, wo wir sind. Dieses Wissen selbst ist traurig. Es ist eines der traurigsten Dinge, die ich kenne. Ich verstehe und weiß, daß wir am meisten von dem reden, was wir nicht haben. Wir reden von Freiheit, weil wir sie nicht haben; wir reden von Frieden, weil wir keinen haben. Wir reden von Gleichheit und reden von Liebe, weil wir sie nicht haben. Und weil wir all das nicht haben, und weil wir es zu bekommen versuchen, weil wir versuchen, diese Bedürfnisse zu befriedigen, weil wir dazu nicht in der Lage sind, weil der Schmerz zu groß ist, darum zerstören wir letztlich das Reale in dem Bemühen, es nicht zu fühlen.

Und so schaffen wir Institutionen wie Schulen, Gefängnisse und Heilanstalten. 

Der Schmerz ist, ein winziges, hilfloses, schreiendes Baby zu sein, auf Gedeih und Verderb zwei Eltern ausgeliefert, die nicht liebesfähig sind. Solche Eltern sind in Wahrheit die Scharfrichter eines Kindes. Und so schaffen wir uns eine monströse Welt, in der jedermann danach strebt, bedeutend, nützlich, groß und hilfreich zu sein. Und indem wir all diese Dinge tun, machen wir es uns unerträglich, unerträglicher als es je sein müßte. Wir bestehen darauf, daß Menschen vierzig Stunden pro Woche arbeiten und sich mit drei Wochen Ferien im Jahr begnügen. Der Einfluß der Massenmedien verführt die Menschen dazu zu heiraten, ein Haus zu kaufen, Kinder zu haben und sich zu verschulden — alles, um uns unter Kontrolle zu halten, damit wir nicht fühlen müssen, wie wenig Kontrolle wir im Grunde als jenes Baby hatten.

Und wir stellen Regeln auf und wählen Menschen, die diese Regeln vollstrecken sollen; wir beauftragen andere Leute, uns zu kontrollieren, damit wir unsere Bedürfnisse nicht fühlen müssen. All das ist traurig, weil es nicht sein müßte.

Mein Leben ist ungezwungen. Ich bin ein denkbar umgänglicher, verträglicher Mensch. Ich stelle keine Ansprüche an andere und urteile nicht über sie; ich stelle keine Anforderungen an Menschen, die über das hinausgehen, was sie geben können. Ich kann letztlich allein leben. Manchmal bedeutet das, daß ich weinen muß. Aber das macht nichts. Solange ich weiß, daß ich lediglich weiterhin fühlen muß, bin ich geheilt. Es ist alles in Ordnung.

Primärtherapie ist mehr als eine neue psychologische Theorie. Denn aufgrund ihrer Fähigkeit, Neurosen zu heilen, ist sie das, wonach die Menschheit seit Urbeginn gesucht hat — Befreiung. Die Menschen suchen Befreiung von Unterdrückung, vom Unbewußten, vom Karma, von bösen Geistern, von Krankheit aller Art, vom Schicksal, von Reinkarnation, von allem, nur nicht von sich selbst.

Die Primärtherapie predigt nicht ein System von Verhaltensregeln, entsprechend derer man leben soll. Sie ist vielmehr ein Prozeß, durch den die Menschen dahin gelangen können, ihren Schmerz zu fühlen. Sie ist eines jeden persönlichen Revolution gegen die Tyrannei seiner Neurose. Solange der Mensch krank ist, wird die Welt seinen Schmerz widerspiegeln. Primärtherapie ist das Ende dieses Schmerzes.

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