1. Gründe für den Wunsch nach Kindern
Janov-1973
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Die Weichen für die künftige Behandlung eines Kindes können bereits vor der Geburt, das heißt im Stadium des Wunsches nach einem Kind gestellt werden. Wenn eine Mutter sich nach einer von Wärme und Liebe erfüllten Familie sehnt, einer Familie, die sie selbst nie gekannt hat, dann mag sie an das Kind die Hoffnung knüpfen, es werde ihr zu einer solchen Wunschfamilie verhelfen. Wenn das Kind dann später eigene Wege geht, unabhängig sein möchte, etwa die Schule besucht oder heiraten will, dann könnte eine solche Mutter dies als eine unbewußte Bedrohung empfinden.
Denn unbewußt steht diese Mutter unter dem Eindruck des alten Gefühls, keine eigene, richtige Familie zu haben, eines Gefühls, das so schmerzlich ist, daß es vom Bewußtsein ferngehalten werden muß. Jedes Zeichen von Unabhängigkeit auf Seiten des Kindes, jedes Verhalten, das zu bedeuten scheint, es brauche die »Mamma« nicht mehr, ruft in der Mutter zunächst eine vage Spannung hervor und führt dann zu einem Abwehrverhalten, mit dem das Urgefühl verdrängt werden soll. Sie wird ihre Zuflucht zu Rationalisierungen nehmen, wenn sie erklären soll, warum ihr Sohn nicht fortgehen darf, warum sie ihn braucht usw.
Aus den gleichen Ur-Gründen wird eine solche Mutter Wutäußerungen der Kinder ihr gegenüber nicht dulden. Sie wird die Freunde ihres Sohnes schlechtmachen, weil sie ihre Position bedrohen, ihre Wunschvorstellung antasten, ihr Sohn liebe nur sie, sie ganz allein. Kurz, die Mutter agiert gegen ein altes qualvolles Gefühl, das sie nie ertragen konnte, noch heute ertragen kann. Um dem Schmerz zu entgehen, manipuliert sie beständig ihr gegenwärtiges Leben. Sie kann nicht aufrichtig zu ihren Kindern sein, denn sie stellt sie in den Dienst ihrer Bedürfnisse.
Das Ausagieren verleugneter schmerzlicher Gefühle macht das Wesen der Neurose aus; darum führe ich den Begriff hier ein. Jeder Neurotiker zeigt ein solches Verhalten. Kinder zu haben, bietet Neurotikern eine von vielen Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse auszuagieren. Es gibt eine Unzahl neurotischer Gründe für den Wunsch nach Kindern, bei denen es nicht darum geht, ein neues menschliches Wesen zu zeugen.
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Für den neurotischen Kinderwunsch besteht einer der Hauptgründe darin, einen Menschen in die Welt zu setzen, der Liebe geben soll und den ein Elternteil oder beide ganz für sich besitzen wollen. Ein Mensch, der in einer großen Familie aufgewachsen ist, der praktisch keine Aufmerksamkeit oder Zuneigung erfahren hat, kann den zwanghaften Wunsch verspüren, von seinem Kind vollständig Besitz zu ergreifen. Der Wert des Kindes bemißt sich dann daran, inwieweit es den Eltern das Gefühl vermittelt, geliebt zu werden.
Doch wie gesagt, dieser Vorgang ist nicht bewußt. Der betroffene Elternteil kann bereits bei gelegentlicher Gleichgültigkeit des Kindes in Unruhe geraten und sich zu einem unangemessenen Wutausbruch hinreißen lassen, wenn das Kind seine Aufmerksamkeit von ihm abwendet. Die Wut neurotischer Eltern mag sich in Aufforderungen äußern wie: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!« Die emotionale Überreaktion (Wut in diesem Falle) ist ein altes Gefühl, das die betreffenden Eltern ihren eigenen Eltern gegenüber empfunden haben, ein Gefühl, das der Verdrängung unterliegt und das sich nun in unangebrachter Weise Luft macht. Die verleugnete große Wut gilt der gleichgültigen Behandlung. Jede spätere gleichgültige Behandlung löst dieses Urgefühl und gleichermaßen auch die verdrängte alte Reaktion aus.
Schauen wir uns die Kompliziertheit dieses Vorgangs genauer an.
Eine von uns behandelte Patientin hatte eine so rasende Wut darüber, daß ihre Mutter sie vernachlässigte, daß sie ihr den Tod wünschte. Vor diesem Gefühl empfand das Kind jedoch eine solche Angst, daß es den Todeswunsch aus dem Bewußtsein verdrängte und stattdessen Kopfschmerzen bekam. Jedesmal nun, wenn die Patientin in ihrem späteren Leben sich gleichgültig behandelt fühlte, hatte sie sofort unerklärliche Kopfschmerzen. Den Grund für ihre Schmerzen kannte sie nicht; sie wußte nicht, daß sie sich geringschätzig behandelt fühlte, und wußte erst recht nicht, daß sie den Wunsch verdrängte, der Mensch, der sie kränkte, möge sterben.
Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich um einen unbewußten neurologischen Vorgang, der ohne Einschaltung des Bewußtseins ablief. Mit anderen Worten, es war ein alter Primärvorgang, der schließlich in der Primärtherapie aufgedeckt wurde: unter Schreien und krampfartigen Wutanfällen brach aus der Patientin der Wunsch hervor, ihre Mutter möge sterben. Dieser Ausbruch wurde dadurch ausgelöst, daß die Tochter der Patientin ihrer Mutter nicht die gewünschte Aufmerksamkeit entgegengebracht hatte.
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Wir erkennen an dieser Fallgeschichte, welche Auswirkungen neurotische Reaktionen auf das unschuldige Verhalten von Kindern haben können. Kinder haben ziemlich früh ein feines Gespür für neurotische Verhaltensweisen und lernen mit der Zeit, wie sie sich vor der elterlichen Ur-Wut schützen können. Sie gehen in Deckung, suchen die Eltern zu beschwichtigen, verhalten sich ruhig und sind aufmerksam. Sie werden neurotisch, weil ihre Eltern neurotisch sind. Das Kind wird in eine starre Verhaltensform gepreßt, denn die ungelösten Primärgefühle der Eltern rufen im Laufe der Zeit bei ihm die gleichen neurotischen Reaktionen hervor. Es muß dann über Jahre hin immer die gleichen Beschwichtigungsversuche unternehmen.
Wenn die Mutter das Kind braucht, um sich geliebt zu fühlen, dann kann daraus eine Art geheimer Verschwörung gegen den Vater entstehen. Auf subtile Weise entwertet die Mutter den Vater, um auf diese Weise zu erreichen, daß das Kind ausschließlich sie liebt. Die Mutter wendet damit einen höchst wirksamen neurotischen Mechanismus an, gegen den das Kind sich nicht zur Wehr setzen kann. Hilflose Kinder lassen sich leicht in eine solche Lage drängen. Sätze wie »Hans ist ein so lieber Junge, er kann gar nicht genug für mich tun« haben schlimme Folgen, denn sie sind wortwörtlich so gemeint —: Hans wird nämlich niemals in der Lage sein, genug für seine Mutter zu tun, denn er müßte sie für die Entbehrungen ihres ganzen Lebens entschädigen.
Hinter dem Kinderwunsch kann auch das Motiv stehen, eine gestörte Ehe zu kitten. Dies trifft vor allem auf Frauen zu, die ihre Ehemänner um jeden Preis an sich binden wollen. In diesem Fall ist das Kind sozusagen das letzte Mittel. Bei ihren Bemühungen um den Mann benutzt die Mutter das Kind als eine Art Faustpfand. Über kurz oder lang wird es bittend und bettelnd zwischen den streitenden Eltern zu vermitteln suchen. Schon bald wird es sich für ihr Glück und für ihr Unglück verantwortlich fühlen. Die Grundstimmung der Eltern, etwa Traurigkeit, weckt in dem Kind automatisch das Gefühl, es müsse dazu beitragen, die Stimmung zu verbessern und aufzuhellen. Bei melancholischen Eltern sind Ratschläge über Kindererziehung nutzlos, solange sie im Umgang mit ihrem Kind – mögen sie sich auch noch so nach »Vorschrift« verhalten – nur Schwermut zum Ausdruck bringen.
Natürlich gibt es auch ungewollte, zufällige Schwangerschaften, die zur Folge haben, daß die Eltern ihr Kind von Anfang an ablehnen. Vom Zeitpunkt der Geburt an empfinden solche Eltern, selbst noch Kinder, die lediglich ihren Spaß haben wollen, ihr Kind als aufdringliche Belästigung und verhalten sich entsprechend.
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Das Kind wird geschlagen, wenn es die Eltern durch Schreien stört, es wird gewaltsam zur Ruhe gebracht und muß unter vielen Mühen sein Recht auf Existenz verteidigen. Es leidet unter der Gereiztheit seiner Eltern, einer Gereiztheit, wie sie gewöhnlich junge Menschen an den Tag legen, denen es so sehr an Liebe fehlt, daß sie jede Rücksicht in den Wind schlagen, sobald sie die fehlende Liebe in der Sexualität zu finden glauben.
Die Gründe für den Kinderwunsch sind so zahlreich wie die neurotischen Störungen selbst. Ein Mann, der Zweifel an seiner Männlichkeit hegt, mag sich ein Kind, vor allem einen Jungen, wünschen, um seine Männlichkeit zu beweisen. Wenn sein Kind Angst zeigt, gerät sein übersteigertes Bild von Männlichkeit in Gefahr, und das führt ihn dazu, die kindliche Angst zu unterdrücken. Eine Frau mag sich Kinder wünschen, um ihre Weiblichkeit bestätigt zu finden oder sich zumindest nicht unfruchtbar zu fühlen. Unter Umständen möchte sie dennoch weiterhin Partys, Nachtklubs und Geselligkeiten aufsuchen, um sich in ihrer weiblichen Attraktivität bekräftigt zu fühlen. In diesem Fall wäre der Wunsch nach einem Kind nur ein Trick in einem neurotischen Spiel: es kommt ihr nicht in den Sinn, daß sie mit dem Kind ein neues, von Bedürfnissen erfülltes menschliches Wesen in die Welt setzt. Aus dem gleichen Grund, der in ihr den Wunsch nach einem Kind weckte, ist sie später eine nachlässige, lieblose Mutter – um hübsch, attraktiv und »weiblich« zu sein.
Neurotiker haben eine Abneigung dagegen, ständig für jemanden da zu sein, für ihn zu sorgen. In Wirklichkeit sind sie Kinder, die sich danach sehnen, umhegt und umsorgt zu werden. Für solche Menschen ist der Wunsch nach einem Kind mit Phantasien besetzt. Die Frau sieht nur die Sorge und Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht werden, solange sie schwanger ist. Auch mag ihr das Kind als einziges Mittel erscheinen, sich eines Mannes zu versichern, der bei ihr bleibt, um sie zu umhegen und anzuleiten. Solche Eltern begreifen nicht, daß ein Säugling totales Bedürfnis und totaler Anspruch ist.
Kein Wunder, daß diese Eltern schon bald nach der Geburt des Kindes fast ständig gereizt und erregt sind, weil sie aus Rücksicht auf ihr Kind ihre eigenen Wünsche stärker zurückstellen müssen. Wenn das Kind weint und schreit, stellt sich bei den Eltern automatisch der Wunsch ein, das Schreien und die Forderungen des Kindes zu unterdrücken. Sie nehmen sich nicht die notwendige Zeit, die Bedürfnisse des Säuglings zu befriedigen. Wenn Eltern die kindlichen Bedürfnisse nicht befriedigen können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sie zu unterdrücken.
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Das läßt sich folgendermaßen erklären: Als Kinder mußten diese Eltern selbst ihre unbefriedigten und daher unerträglichen Wünsche aus dem Bewußtsein verdrängen. Später können sie aufgrund der Verdrängungen auch die Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder nicht wahrnehmen. Das fortwährende Weinen und Schreien des Säuglings (ein Zeichen von Bedürfnissen) wird von den Eltern als unerträglich empfunden und folglich unterdrückt. Ihnen stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung, das Weinen von Kindern zu unterdrücken, zum Beispiel: Ablenkung durch Rasseln, Geräusche verschiedenster Art, Spiele usw.. Auch kräftiges Schütteln, eine brutalere Methode, bietet sich an. Das Ergebnis ist in jedem Fall das gleiche.
Der entscheidende Punkt ist, daß die Gründe für den Kinderwunsch, die wir uns einreden, häufig nicht mit den unbewußten Motiven übereinstimmen. Diese Motive sind ihrerseits Bedürfnisse, allerdings unbewußte, weil sie verschüttet wurden. Ein Kind wird vom Tag seiner Geburt an in diese unbewußten Bedürfnisse einbezogen, denn sie sind bei den Eltern selbst vom Tag ihrer Geburt an vorhanden.
Einer der allgemein üblichen Gründe dafür, daß Menschen Kinder haben, ist ihre Furcht vor der Endgültigkeit des Todes. Sie sind auf das Gefühl angewiesen, daß ein Teil ihres Selbst in der Zeit nach dem Tode weiterleben wird; entweder sie machen sich eine Vorstellung von einem Danach oder sie erschaffen sich dieses Danach mit Hilfe eines Kindes. Der Gedanke, nichts zu besitzen, was überdauert, bedeutet, den Tod als das Ende der Existenz zu akzeptieren.
Ohne Frage ist eine der besten Methoden zu vermeiden, daß unerwünschte (mithin neurotische) Kinder in die Welt gesetzt werden, die Verhütung unerwünschter Schwangerschaft. Die Frau erreicht dies am besten dadurch, wenn sie ihrem eigenen Innern gegenüber aufgeschlossen ist und mit Überlegung empfängnisverhütende Mittel verwendet.
Primärtherapeutisch behandelte Frauen spüren den Augenblick, da die Ovulation (Eiausstoßung) beginnt; sie werden nicht von einer Schwangerschaft überrascht, wie es gelegentlich bei neurotischen Frauen geschieht. Eine ausgeglichene Frau hat kein übersteigertes Liebesbedürfnis und wird kaum dazu neigen, die Sexualität zwanghaft auszuagieren. Eine ausgeglichene Frau setzt kein hilfloses Menschenkind in die Welt, nur weil sie einen Mann an sich fesseln möchte, der für sie sorgen soll. Für die Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern ist es offensichtlich entscheidend wichtig, daß sie gewünscht sind. Zufälle sind schon per Definition unerwünscht.
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