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8  Die innere Umwelt 

Arthur Janov 1973

 

 

140-162

Dieses Kapitel ist möglicherweise schwer verständlich. Wer zu dieser Auffassung kommt, möge es über­schlagen. 

Ich bin grundsätzlich der Ansicht, daß unser Körperinneres eine Art Milieu darstellt und daß diese »Umwelt« unsere Psyche genauso beeinflußt wie die äußeren Umstände. 

In unserem Körper herrscht ein empfindliches chemisches Gleichgewicht, dessen Aufrechterhaltung von gelungener psychischer Integration abhängt; dieses Gleichgewicht beeinflußt seinerseits unsere psychische Verfassung und unsere Verhaltensweisen. Es gibt eigentlich keinen Bereich, den man nur unter psychologischen Gesichtspunkten betrachten könnte.

Bei der Untersuchung individuellen Verhaltens müssen wir psycho-physiologisch vorgehen. Im Verlauf unseres Lebens auftretende körperliche und psychische Traumata beeinträchtigen das innere chemische Gleichgewicht, und diese Störung wiederum verändert unser psychisches Gleichgewicht.

Je früher das Trauma auftritt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit eines dauernden chemischen Ungleichgewichts.

Für gewöhnlich stellen wir uns das Körperinnere nicht als eine »Umwelt« vor. Doch die Vorgänge im Körperinnern übermitteln genauso wie äußere Ereignisse Signale an das Gehirn. Sensorische Rezeptoren in unserem Körper versorgen die Hirnzentren mit Informationen über das körperliche Gleichgewicht, über die Körperstellung sowie über das Ausmaß und die Auftrittsstelle inneren Schmerzes. Körper und Gehirn bilden eine Einheit mit unauflösbaren Zwischenverbindungen. Das Gehirn ist auf richtige Informationen und auf richtige Körperfunktionen angewiesen, wenn seine Ingetrität nicht gestört werden soll. Im frühen Leben eintretende Veränderungen der inneren Umwelt können genauso langfristige Auswirkungen auf das Körpersystem haben wie von außen her erfahrene frühe Traumata.

Bei jungen Tieren kann die Injektion von Sexualhormonen den Beginn der Pubertät beschleunigen. Bei neugeborenen Ratten führt die Verabreichung von Schilddrüsenhormon (Thyroxin) zu permanenter Ausschaltung der Schilddrüsenfunktion. In unserer Kindheit erfahrene psychische und körperliche Traumata können die innere Umwelt durcheinanderbringen und verzerren, indem sie zum Beispiel die Schild­drüsen­funktionen beeinträchtigen.

Ein Kind mit leichter Unterfunktion der Schilddrüse steht der Welt unter Umständen passiv, apathisch und lethargisch gegenüber und unterdrückt sein eigenes Selbst. Diese Einstellung wiederum kann die Schilddrüsenfunktion nachteilig beeinflussen, so daß ein Circulus vitiosus entsteht, bei dem das eine nicht die Ursache und das andere die Wirkung ist, sondern beide Ursache und Wirkung zugleich sind. Persönlichkeit und Körperfunktion verzahnen sich, werden eins, unter Umständen für das ganze Leben. Das Funktionieren des Gehirns hängt vom Hormonausstoß ab. Wenn man ganz jungen Ratten Schilddrüsenhormon verabreicht, wird die Gehirnentwicklung beschleunigt (früher eintretende Myelinisation). Sie öffnen ihre Augen früher als gewöhnlich und sind gegenüber ihrer Umgebung aufgeweckter als andere Ratten in ihrem Alter. Diese Tieruntersuchungen sind deshalb von Bedeutung, weil sie erkennen lassen, daß frühe Erfahrungen (und innere Veränderungen sind Erfahrungen) zu tiefreichenden Dauerschäden führen können. 

Spätere Intelligenz- und Reifungsstörungen können das Ergebnis sehr früher unbeobachtbarer, ohne klinische Symptome verlaufender Beeinträchtigungen des Hormon­ausstoßes sein. Bei einigen unserer Patientinnen setzte die Menstruation erst ein, als sie fast zwanzig Jahre alt waren. Einige von uns behandelte Männer bekamen erst Bart- und Schamhaare, als sie bereits zwanzig und älter waren. Infolge von Primärtraumen, die unmerklich die Bildung von Wachstumshormonen beeinträchtigt hatten, waren viele unserer Patienten in ihrem Wachstum zurückgeblieben. (Diesen Punkt werde ich später ausführlich behandeln.)

Levine schreibt über den Zusammenhang von Hormonen und Intelligenz: »Angesichts dieser Unter­suchungs­ergebnisse wurde die Hypothese aufgestellt, daß infantile Stimulierung dem Organismus die Fähigkeit verleiht, die relevanten Aspekte der Umwelt genauer zu unterscheiden, einschließlich der Fähigkeit, auf Streß angemessen zu reagieren.«*

Mit einem Wort, »realer« zu reagieren. Levine deutet damit an, daß der Hormonspiegel im Blutkreislauf unmittelbar auf die Gehirn­entwicklung einwirkt. Nach Ansicht von Levine spielt dabei das Steroidhormon Adrenalin eine entscheidende Rolle:

*  Op. cit., S. 49.

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»Wir vermuten, daß dieser Unterschied (der Unterschied im Verhalten zwischen körperlich stimulierten und nicht-stimulierten Tieren) die Funktion bestimmter Wirkungsweisen des Steroidhormons Adrenalin [Nebennierenhormon] ist, das während sensitiver Perioden die Organisation des Zentralnervensystem permanent modifiziert (Hervorhebung durch den Verfasser).«*

Nach meiner Auffassung beeinträchtigten alle kontinuierlichen und damit Gefühlsunterdrückung verursachenden Primärtraumata das Hormon­gleichgewicht, denn Hormone sind die biochemischen Vermittler von Gefühlen. Bei schweren Traumata dürfen wir durchaus hormonal bedingte spätere Erkrankungen erwarten, Krankheiten, die häufig als »psychosomatische« bezeichnet werden. Das gilt vor allem bei hereditärer Prädisposition für solche Leiden.

Newton und Levine erklären zu den Experimenten, bei denen die innere Umwelt geändert wurde: »Diese durch sensorische Eingaben während solcher kritischer Perioden ausgelösten Ereignisse und ihre Auswirkungen dürften die neuronale [Nerven-] Entwicklung zu Verbundmustern strukturieren, die relativ schwer umgebildet werden können, sobald sie erst einmal festgelegt sind.«** 

Kurz, wenn die Würfel gefallen sind, sind Änderungen äußerst schwierig. Nach Ansicht der beiden Wissenschaftler beeinflussen Änderungen im Körpersystem das Gehirn und führen zu neuen Verbindungsmustern, zu »Fehlverbindungen« im Sinne der Primärtheorie. Diese neuen Bahnungen haben zur Folge, daß das Gehirn die korrekten psychischen Verbindungen umgeht, vor allem in Belastungssituationen, und so kommt es zu falschen Wahrnehmungen, neurotischen Verzerrungen und zur Unfähigkeit, richtig zu begreifen und genau zu unterscheiden. Diese Fehlverbindungen beeinträchtigen nicht nur das Denken und Wahrnehmen. Sie stören auch die Hormonproduktion, so daß entweder zuviel oder zuwenig Hormon abgerufen wird. So werden zum Beispiel bei verminderter Produktion von Steroidhormonen gleichzeitig das Denken und das Handeln beeinträchtigt. In einem solchen Fall kann das Kind sich sagen: »Es hat gar keinen Sinn, es zu versuchen«, wenn es einer frustrierenden Situation ausgesetzt ist oder auf einen übermäßig aggressiven und auf Rivalität erpichten Spielkameraden trifft. Es weicht dann dem Konkurrenzkampf aus, fühlt sich schon vorher geschlagen und entwickelt unter Umständen ein Minderwertigkeitsgefühl, weil »alle es besser können als ich«.

* Op. cit., S. 51.    ** Op. cit., S. 266.

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Aufgrund von Traumen werden Gehirnbahnungen umgeleitet, es kommt zu »Einschleifungen«, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß die umgeleitete Bahnung erneut eingeschlagen wird; infolge dessen neigen falsche Vorstellungen und Wahrnehmungen dazu, sich zu verfestigen. Das heißt, in einem solchen Fall ist die Gehirn-Struktur weniger verzweigt, als daß sie mit Belastungen fertig werden könnte. Der Reaktionsspielraum ist eng »begrenzt«. Der Betreffende wird in seinem Verhalten rigide, ist reizabhängig und reagiert auf ähnliche Situationen immer wieder in der gleichen Weise. Er besitzt ein geringeres Repertoire an Reaktions­alternativen. Auf das Körperliche bezogen, können wir sagen, das Kind hat weniger Möglichkeiten, die es abrufen kann. Das wird ganz deutlich, wenn wir Störungen betrachten, die das Kind hindern, Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen, und bei denen aufgrund der durch ein frühes Trauma verursachten hohen Restspannung weite Bereiche des Denkens abgeschnitten sind. Dieses Spannungsniveau verhindert ruhiges und reflektives Denken; das Kind entwickelt vielleicht einen übermäßigen Bestätigungsdrang, befindet sich in ständiger Bewegung und ist kaum in der Lage, sich der Introspektion, der Selbstbeobachtung hinzugeben. Der Grund für diesen starken Bewegungsdrang ist möglicherweise kein schleichend um sich greifender Hirnschaden, sondern vielmehr ein frühes Trauma, der das Kind in chronische Spannung versetzt. 

Das Problem, um das es mir hier geht, läßt sich an den Untersuchungen von Diamond verdeutlichen. Diamond teilte Ratten in zwei Gruppen ein, von denen er eine in eine Umwelt setzte, die eine Vielfalt an Erfahrungsmöglichkeiten bot, während er der anderen Rattengruppe alle Stimulierungsmöglichkeiten entzog. Es zeigte sich, daß die an Erfahrungen reicheren Ratten einen starken kortikalen [Hirnrinden-] Blutstrom aufwiesen.*

Der erhöhte Blutfluß stellt sicher, daß die Hirnrinde alle Nährsubstanzen erhält, die notwendig sind, wenn sie richtig funktionieren soll. Umgekehrt dürfen wir vermuten, daß die Hirnfunktionen beein­trächtigt werden, wenn angemessene Stimulierungen ausbleiben. Tiere in einer reizgesättigten Umgebung zeigen in Streß­situationen eine schnellere hormonale Reaktion. Sie sind in der Lage, auf Gefahr koordinierter und unverzüglich zu reagieren. Wenn wir überhaupt von »Ich-Stärke« sprechen wollen, dann sollten wir uns klarmachen, daß damit die Fähigkeit des gesamten Organismus gemeint ist, Belastungen zu ertragen und das Überleben zu sichern. Unter »Ich-Stärke« sollten wir nicht irgend etwas Vages wie »Verstandes-Stärke« verstehen.

*  Diamond, Krech und Rosenzweig, <The Effects of an Enriched Environment on the Histology of the Rat Cerebral Cortex> in: Journal of Comparative Neurology, 123, 1964, S. 111-119.

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Hamnett hat in einer Untersuchung auf das Zusammenspiel von Drüsen und früher Stimulierung aufmerksam gemacht.* Er experimentierte mit zwei Gruppen von Ratten, denen er die Schilddrüse und die Nebenschilddrüse entfernte. Eine Gruppe wurde häufig gestreichelt und berührt, die andere nicht. Innerhalb von zwei Tagen starben fast 80 Prozent der nicht-gehätschelten Ratten. Von den häufig gestreichelten Tieren gingen nur 13 Prozent ein. Aus dieser Untersuchung darf man den Schluß ziehen, daß richtige Stimulierung zur rechten Zeit die Widerstandkraft gegen den Ausfall des Drüsensystems stärkt. Es scheint, daß der Körper fast jeder Unbill widerstehen kann, wenn nur seine Bedürfnisse befriedigt werden. Es dürfte auf der Hand liegen, daß Hormonausfälle nicht im luftleeren Raum auftreten. Für derartige Störungen sind zwar psychische Traumata verantwortlich, zumindest können sie dazu beitragen, doch wie weit ihre Auswirkungen gehen, hängt auch vom psychischen Zustand des Betroffenen ab. Primäre Befriedigung dürfte eine wesentliche Abwehrkraft selbst gegen angeborene Störungen im Hormon­haushalt darstellen.

Über den Zusammenhang zwischen früher Bedürfnisversagung, traumatischen Belastungen und Wachstums­verzögerungen sind eine Reihe von Untersuchungen angestellt worden. 1947 wurden 100 für ihr Alter abnorm klein geratene Kinder untersucht. In der Hälfte der Fälle fand sich für diese Wachstumsverzögerung keine erkennbare körperliche Ursache. Doch viele dieser Kinder hatten die erste Lebenszeit unter höchst widrigen Umständen verbracht; sie waren von einem oder beiden Elternteilen in starkem Maße abgelehnt worden. Daraus zog man den Schluß, daß die Kinder unter einem auf emotionalem Wege entstandenen Defekt der Hypophyse [Hirnanhang] litten. Eine Untersuchung an deutschen Waisenkindern erbrachte ähnliche Ergebnisse.**  Kinder, für die eine freundliche Pflegerin sorgte, wuchsen besser als Kinder, die eine Pflegerin hatten, die auf strikte Disziplin hielt. Wir dürfen annehmen, daß die Hypophyse bei emotionalen Störungen eine entscheidende Rolle spielt und daß viele von uns aufgrund einer traumatisierenden Kindheit nicht ihre volle Größe erreicht haben.

 

*  F. S. Hamnett, >Studies in the Thyroid Apparatus<, in: Endocrinology, 6, 1922, S. 222-229.
**  L. I. Gardner, >Deprivation Dwarfism, in: Scientific American, Juli 1972.

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Primärtherapeutische Patienten zwischen 20 und 30 Jahren berichten uns, sie seien nachträglich um zweieinhalb bis dreieinhalb Zentimeter gewachsen. Dies läßt sich an rund einem Dutzend von uns behandelter Fälle nachweisen. Robert Blizzard kam bei seiner Forschungsarbeit zu den gleichen Ergebnissen.*

Die im Gehirn gespeicherten schmerzlichen Erlebnisse können sich unter Umständen auf das Wachstums­zentrum im Gehirn auswirken. Ich möchte noch einmal betonen, daß Flachbrüstigkeit und kleiner Körperwuchs an sich noch kein Unglück bedeuten, doch sie können auf schwerwiegende Blockierungen im endokrinen System hindeuten, die später zu katastrophalen Erkrankungen führen.

Vor kurzem ist ein Zusammenhang zwischen dem Ausstoß von Wachstumshormonen und der Art und Weise unseres Schlafens entdeckt worden. Untersuchungen an der University of Edinburgh haben ergeben, daß die Gesamtmenge der von Kindern in der Nacht abgesonderten Wachstumshormone größer ist als während des Tages. Bei Erwachsenen findet die Absonderung von Wachstumshormonen vorwiegend während der beiden ersten Schlafstunden statt. Wenn der Betreffende nicht einschlafen kann, werden keine Wachstumshormone abgesondert. Honda und seine Mitarbeiter sind er Ansicht, daß die Aktivität des Cortex cerebri [Hirnrinde] die Sekretion von Wachstumshormonen hemmt. Umgekehrt scheint tiefer erholsamer Schlaf die Absonderung von Wachstums­hormonen zu fördern.**

In diesem Zusammenhang sind wir nicht sicher, ob geistige Überaktivität, die keinen ausreichenden Schlaf gestattet, bei einem Kinde dazu beiträgt, sein Wachstum zu verlangsamen, doch wir halten dies nicht für unmöglich. Um es zu wiederholen: innere Spannung hält den Verstand, die geistige Tätigkeit nicht einfach in Gang, so daß kein Schlaf möglich ist; vielmehr beeinträchtigt dieselbe Spannung, welche die Geistestätigkeit antreibt, auch das endokrine System.

 

* Zu Robert Blizzards Untersuchungen siehe Der Urschrei, Frankfurt am Main 1973, S. 160. 
Patton und Gardner sind der Auffassung, es müsse physiologische Bahnungen geben, über die emotionale Störungen Einfluß auf das endokrine System nehmen: »Impulse von den oberen Gehirnzentren wandern auf Nervenbahnen zum Hypothalamus und beeinflussen dann mittels eines neurohumoralen Mechanismus die Hypophyse. Untersuchungen über die vom Hypothalamus abgesonderten >Auslösefaktoren<, die ihrerseits den Hypophysenvorderlappen zur Sekretion verschiedener Nervenhormone veranlassen, haben ergeben, daß Zentren im Hypothalamus einen großen Einfluß auf die Hirnanhangdruse ausüben.« (Scientific American, op. cit, S. 79). Die Verfasser weisen darauf hin, daß fast das gesamte Blut, das zur Hypophyse strömt, zunächst den Mittelhöcker des Hypothalamus passiert.

** Scientific American, op. cit., S. 81.

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Mehr noch, die Lage wird obendrein dadurch verkompliziert, daß Geistestätigkeit ihrerseits die Hormon­absonderung stimuliert oder hemmt. Und somit kann ein Geburtstrauma vielerlei bewirken: Es hinterläßt im Kind eine hohe Restspannung, die seine Geistestätigkeit antreibt, und es beeinträchtigt die Funktionen des endokrinen Systems. Das ursprüngliche Trauma allein mag keine Veränderungen im Wachstumsprozeß herbeiführen, doch dieses Trauma im Verein mit schwerer primärer Deprivation (Mangel an Zärtlichkeit, Verständnis und Zuneigung) kann durchaus derartige Störungen nach sich ziehen.

Wie ich bereits angedeutet habe, greifen Streß und Spannung in den tageszeitlichen Rhythmus der Hormonsekretion ein. Ein Neurotiker, der für gewöhnlich am Morgen eine erhöhte Menge an Steroidhormonen absondert, die ihn instand setzt, die Last des Tages zu ertragen, und dessen Sekretion am Abend absinkt, kann unter Umständen bis in die Nacht hinein eine gleichbleibend hohe Menge an Steroidhormonen absondern. Allein dieser Umschwung kann das Wachstum hemmen. Ärzte haben bereits seit langem beobachtet, daß Kinder, die über einen längeren Zeitraum hin Steroidhormone erhalten, in ihrem Wachstum zurückbleiben. Über diesen wachstumshemmenden Prozeß hinaus wird das Immunsystem angegriffen, mit dem Resultat, daß die Anfälligkeit des Kindes für bestimmte Krankheitsformen erhöht wird.

Aus all diesen Erwägungen wird ersichtlich, wie kompliziert der Begriff »Persönlichkeit« ist. Ein Kleinkind, das sein Leben mit einem hohen Steroidhormon-Spiegel beginnt, kann empfänglicher für Infektionen sein und sich folglich zu einem »kränkelnden« Kind entwickeln. Ein solches Kind stellt höhere Anforderungen als andere, mag daher für die Eltern eher eine Zumutung denn ein Liebesobjekt darstellen. Das Kind fühlt sich dann abgelehnt, steht unter höherer Belastung, wird krankheits­anfälliger, neigt zu Infektions­krankheiten, und damit gerät es in einen verhängnisvollen Kreislauf.

Weitaus deutlicher können wir den Zusammenhang zwischen dem Zustand körperlicher Systeme und ausreichender oder nicht-ausreichender primärer Stimulierung nachweisen. Früher Körperkontakt fördert das Immunsystem. Durch körperliche Berührung stimulierte Ratten haben nach einer Immunisierung einen höheren Gehalt an Antikörpern im Blut als nicht-stimulierte Ratten.

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Inzwischen dürfte einleuchten, daß es sich bei dem Nervensystem um ein organisiertes, integriertes System handelt. Im Falle eines Traumas ist das System nicht mehr zu einer reibungslosen Integrierung imstande; diese Beeinträchtigung kann weitreichende Folgen haben und unter anderem zu desorganisiertem Verhalten (Mangel an Koordination) und Denken führen. Mit einem frühen Trauma verbundene leichte Schwankungen in der Hormonsekretion können über Jahre hin folgenlos bleiben. Doch sie begründen eine Anfälligkeit für Krankheiten, so daß wir nach Jahren der Belastung organische Zusammenbrüche und auf hormonale Störungen zurückzuführende Krankheiten beobachten können.

Die Vermeidung von Traumen wie Beschneidung in den ersten sechs bis neun Monaten – in einer Zeit also, in der weite Bereiche des Gehirns sich entwickeln – ist nach meiner Ansicht von ganz entscheidender Bedeutung. In den ersten Lebensmonaten bilden sich zu viele Körperfunktionen aus, als daß plötzliche Wohnungs- und Zimmerwechsel, Neuanschaffungen von Kinderbettchen angebracht wären. Einige schmerzliche Erfahrungen wie geringfügige Operationen können besser ertragen und in das Körper­system integriert werden, wenn die Fähigkeit vorhanden ist zu verstehen, was da vor sich geht. Wir können uns klarmachen, welch eine nachhaltige Wirkung selbst ein vergleichsweise harmloses Trauma in den ersten Lebensmonaten ausübt, wenn wir eine leichte Gehirnverletzung bei der Geburt mit einer ähnlich gelagerten Schädigung in der Adoleszenz vergleichen. Das Ausmaß an Verletzungen, das im Alter zwischen zehn und zwanzig die Denkfähigkeit nur geringfügig beeinträchtigen mag, kann während der Integrationsprozesse des Gehirns in der frühen Kindheit verheerende Folgen haben.

Der plötzlich und ohne erkenntliche Ursache auftretende Tod von Kleinkindern (Tod im Kinderbett) läßt sich womöglich auf Panikgefühle zurückführen, von denen das Kind überschwemmt wird, wenn es mit einer völlig fremden Person allein gelassen oder in ein ihm unbekanntes Zimmer verlegt wird. Nach meiner Ansicht wirkt es auf ein Kind traumatisierend, wenn es von einem Babysitter die Flasche erhält, während die Eltern im Urlaub sind. Die Mutter muß während der entscheidenden ersten acht oder neun Monate ständig bei ihrem Kind sein. Darin besteht das Wesen der Mutterschaft, und Frauen sollten es sich zweimal überlegen, ehe sie diese Rolle übernehmen.

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Vom Büro eines Leichenbeschauers erhielt ich ein Informationsschreiben folgenden Inhalts: »Sicherlich wissen Sie, daß diese (kindlichen) Todesfälle bei augenscheinlich normalen, gesunden Kleinkindern aus jeder sozioökonomischen Schicht auftreten. Nach unseren Feststellungen treten diese Todesfälle nur auf, wenn das Kind allein gelassen wird (Hervorhebung durch den Verfasser), sei es für kurze Zeit, etwa wenn die Mutter ein Nickerchen macht, oder für die ganze Nacht. Unseres Wissens ist es in Gegenwart eines Elternteils noch nicht zu einem Tod im Kinderbett gekommen.«

Es scheint mir auf der Hand zu liegen, daß das Kind von Angstgefühlen überflutet wird, wenn es allein gelassen wird; es kann gegen diese Gefühle nichts tun, außer sie über sich ergehen zu lassen, und da es sich gegen diesen Gefühlsansturm nicht verschließen kann, kann der Tod eintreten. Selbst wenn das Kind nicht sterben sollte, dürfte es klar sein, welch ein gravierendes Trauma es für das Kind bedeutet, sich selbst überlassen zu bleiben.

Warum stirbt das eine Kind, ein anderes nicht? Es mag sein, daß mit dem Geburtstrauma der Grund für eine bestimmte Verletzlichkeit gelegt wird. Wie ich weiter oben bemerkt habe, wirkt sich Sauerstoffmangel bei der Geburt primär auf die Zellen des zum Gehirn gehörigen Hippocampus aus. Der Hippocampus seinerseits ist die für die Ausschaltung von Schmerz zuständige Vermittlungs­stelle im Gehirn. So kann es durchaus sein, daß sich eine leichte Schädigung seiner Nervenzellen erst dann bemerkbar macht, wenn es zu einer Überlastung durch Panikgefühle kommt; in einem solchen Falle funktioniert der Hippocampus nicht so, wie es nötig wäre.

 

Der Hormonostat 

Einige Forscher sind der Ansicht, das Gehirn verfüge über einen »Hormonostat«, der die Hormonzirkulation auf einem bestimmten Niveau hält.* Belastung verändert dieses Niveau und führt dazu, daß ständig zuviel oder zuwenig Hormon abgesondert wird. Der Hormonostat registriert zum Beispiel, ob der gegenwärtige Steroidhormon-Spiegel, sagen wir im Alter von sechs Jahren, dem bei der Geburt auf einer bestimmten Höhe festgelegten Niveau entspricht. Wenn der Hormonspiegel zu hoch ist, wird automatisch die Sekretion von ACTH-Hormon verringert, in ganz ähnlicher Weise, wie ein Thermostat in einer Wohnung die Wärme entsprechend der vorher gewählten Temperatur reguliert.

 

* Seymour Levine, >An Endocrine Theory of Infantile Stimulation< in: A. Ambrose, Stimulation in Early Infancy, Academic Press, New York 1969.

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Wenn das vorher festgelegte Niveau des Steroidhormon-Spiegels zu hoch liegt, wenn folglich spätere Reaktionen auf Streßsituationen keinen angemessenen Bezugspunkt haben, dann kommt es zu einer chronischen Übersekretion von ACTH. (ACTH ist ein Streß-Hormon, das den Körper zur Mobilisierung befähigt, wenn es darum geht, sich in bedrohlichen Situationen zu behaupten.) Die davon betroffene Person mag dann in ihrer allgemeinen Verfassung als »überspannt« erscheinen. Häufig wird dafür ein genetischer Faktor verantwortlich gemacht, während es sich in Wirklichkeit um das Ergebnis eines frühen Traumas handelt.

Eine große Zahl von Tierexperimenten scheint die Existenz eines solchen Hormonostat zu bestätigen. Bei Ratten, die in den ersten Lebenswochen nicht ausreichend körperlich stimuliert wurden, ist die Bandbreite der ACTH-Absonderung gering, im Gegensatz zu häufig stimulierten Ratten, die einen größeren Sekretionsspielraum aufweisen. Abgeflachte Affekte (wie man sie bei schwer gestörten Menschen findet) scheinen nachgerade die Folge eines »abgeflachten« Hormon­ausstoßes zu sein. Das heißt nicht unbedingt, daß die allgemeine Hormon­absonderung gering ist, sondern vielmehr, daß der Körper nicht in der Lage zu sein scheint, auf emotional getönte Situationen in irgendeiner Weise flexibel zu reagieren, weil er bereits überreaktiv ist (nämlich auf ein frühes ungelöstes Trauma reagiert).

Der Hormonostat macht sich noch auf andere Weise bemerkbar. Bei zu niedriger Einstellung besteht die Gefahr, daß der Organismus nicht genügend Energie erhält. In einem solchen Falle ist das allgemeine Triebniveau gering; wir haben dann die sogenannte »passive« Persönlichkeit vor uns. Dies ist eine Persönlichkeit, die sich nicht dazu aufraffen kann, irgend etwas zu tun. Sie kann sich innerlich nicht organisieren und in Bewegung treten. Ihre sexuelle Triebkraft ist gering, nicht nur infolge sexueller Hemmungen, sondern weil der Sexualtrieb auf gewisse Weise vom allgemeinen Energiepotential abhängig ist. Der Sexualtrieb ist nicht losgelöst von den allgemeinen Funktionen des Körpersystems. Der Gedanke ist nicht abwegig, daß die späteren Sexual­funktionen eines Menschen durch Ereignisse geprägt werden, die sich bei der Geburt abspielen.

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Bislang habe ich über den Hormonostat nur in allgemeinen Begriffen gesprochen. Die bisher vorliegenden Untersuchungen deuten darauf hin, daß der Hormonostat seinen Sitz in einer spezifischen, uns als Hypothalamus bekannten Gehirnstruktur hat. Der Hypothalamus ist tief in das Gehirn eingebettet und fast vollständig vom Limbischen System umgeben. Das Limbische System ist ein Ring von Nervenstrukturen, der unter anderem Urschmerz speichert und dämpft. Somit hat gespeicherter Schmerz fast unmittelbaren Zugang zum Hypothalamus, jener für die Regulierung des Hormonhaushalts entscheidenden Gehirnstruktur. Ein sich ständig erneuernder primärer Hirnstromkreis beeinflußt unmittelbar und kontinuierlich die Hormonsekretion und hat entweder Überstimulierung oder Insuffizienz zur Folge.

Wir haben Beweise dafür, daß kleinere Bereiche des Hypothalamus ständig stimuliert werden können, ohne daß sie in eine refraktäre Phase eintreten (das heißt reizunempfindlich werden), wie das bei den meisten anderen Gehirnstrukturen der Fall ist. So kann es zum Beispiel vorkommen, daß die Sekretion bestimmter Magensäfte ständig stimuliert wird, was unter Umständen zu Magenleiden führt. Dennoch können ernsthafte Magenbeschwerden wie Geschwüre drei oder vier Jahrzehnte ausbleiben, weil ein Organ bisweilen erst nach ständigen schweren Attacken Ausfallerscheinungen zeigt.

Was den Hypothalamus betrifft, so erscheint es wichtig, daß zwischen ihm und dem Kortex nur sehr wenige feste und direkte Nervenbahnen bestehen. Die von Hypothalamus ausgehenden Informationen werden vielmehr vom Limbischen System aufgefangen. Das heißt, das Körpersystem kann beständig hormonal stimuliert werden, ohne daß der denkende Teil des Gehirns, der Kortex, dessen gewahr würde; ja, selbst wenn er diese Stimulierung wahrnähme, hätte er keine Möglichkeit, den Hormonfluß zu unterbinden.

Der Hypothalamus ist der für die Umwandlung von Gefühlen in körperliche Realitäten zentrale Gehirnbereich. Er ist der Vermittler zwischen Psyche und Körper. Seine Aufgabe ist die Regulierung vieler lebenswichtiger Systeme, einschließlich der Binnentemperatur des Körpers. Soweit wir wissen, ist der Hypothalamus der einzige Teil des Nervensystems, der Hormone absondert. Er gibt die als »Auslöse-Faktoren« bezeichneten Hormone ab. Diese Hormone kontrollieren die Hormonostasis (das Hormongleichgewicht) des Körpers; man kann sie mithin zu Recht als Hormonostat bezeichnen. Aufgrund der Tatsache, daß der Hormonostat auf so komplizierte Weise an die Gefühlskreisläufe des Gehirns angeschlossen ist, bin ich der Auffassung, daß Kindheits-Traumata sein Regulationsniveau dauerhaft verändern können.

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Die bei primärtherapeutisch behandelten Patienten anschließend immer wieder feststellbare Verringerung der Körperbinnentemperatur ist nur ein Hinweis dafür, daß es nach der Wiederbelebung und Auflösung von Kindheits-Traumata in einem entscheidenden Bereich zu einer Korrektur des Regulationsniveaus gekommen ist. Umgekehrt scheint es, daß die Körpertemperatur bei Neurotikern infolge von Urschmerz ständig erhöht ist und daß aufgrund dessen das Körpersystem höheren Anforderungen ausgesetzt ist.

Das inzwischen vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß die von der Hypophyse (einer kleinen Ausbuchtung unterhalb des Hypothalamus) abgesonderten Wachstumshormone in erster Linie der Kontrolle des Hypothalamus unterliegen. Damit haben wir auch hier wieder eine Erklärung dafür, wie leicht das Wachstum durch Veränderungen des Regulations­niveaus in der ersten Lebensphase gehemmt werden kann. Und so beobachten wir denn auch bei primär­therapeutischen Patienten nach Behandlungs­abschluß ein schwaches Gewebewachstum.

Die Sekretion des Hypothalamus beeinflußt vor allem die Schilddrüse, die einen wichtigen Bestandteil des gesamten hormonalen Systems bildet. Funktionsstörungen der Schilddrüse sind in der Bevölkerung weit verbreitet; sie sind mitverantwortlich für die Verminderung des Energiepotentials, von der ich weiter oben gesprochen habe, ferner für trockene Haut, für Veränderungen in der Haartextur sowie im allgemeinen Körperbild und, in besonders schweren Fällen, für Hirnschädigungen. Auch hier wieder stellen wir fest, daß viele primärtherapeutisch behandelte Patienten, die täglich vier bis fünf Gran Thyreoidin erhielten, um schwere Unterfunktionen der Schilddrüse auszugleichen, nach Abschluß der Behandlung nicht mehr auf solche stützenden Maßnahmen angewiesen sind; und medizinische Untersuchungen haben tatsächlich eine Änderung der Schilddrüsensekretion ergeben. Nach meiner Vermutung ist auch diese Änderung auf eine Korrektur des oben erwähnten Regulationsniveaus zurückzuführen.*

Die Auslöse-Faktoren beeinflussen auch die Geschlechtsdrüsen und die Nebennieren. Wir dürfen annehmen, daß der im Limbischen System gespeicherte und aufgrund fehlenden Zugangs zur Großhirnrinde in Spannung verwandelte Urschmerz in den Hypothalamus zurückgeleitet und womöglich von dort an die Geschlechts­drüsen weitergegeben wird und somit eine ständige sexuelle Stimulierung erzeugt.

 

* Eine ausgezeichnete Erörterung dieses Zusammenhangs findet sich bei Roger Guillemin und Roger Burgus, >The Hormones of the Hypothalamus<, in: Scientific American, November 1972.

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Der Neurotiker fühlt sich dann ständig »geil« und gibt sich entweder zwanghafter Masturbation oder sexueller Aktivität hin. Ausgelöst wird in diesem Falle die Umwandlung von Spannungsschmerz in sexuelle Empfindungen. Umgekehrt kann eine Veränderung des Auslöse-Faktors die Sexual­empfindungen hemmen. Es kann auch geschehen, daß die Schmerzenergie Zugang zum Appetitzentrum findet; dann neigt der Betreffende bei auftretender Spannung eher zu zwanghaftem Essen als zu sexueller Betätigung. Sobald das Regulationsniveau erst einmal dauerhaft verändert ist, verspürt der Betreffende in Spannungs­zuständen stets Hunger, ohne gewöhnlich den Grund zu kennen.

Bei Funktionsstörungen der Nebenniere wird die Absonderung von Steroidhormonen ausgelöst (oder gehemmt). Bei den Steroid­hormonen handelt es sich um Streßhormone, deren Funktion Hans Selye in einer Reihe von Büchern in bemerkenswerter Klarheit dargestellt hat. Die Absonderung von Steroidhormonen beeinflußt letztlich das Wachstum. Doch darüber hinaus wird auch die Struktur der Knochen in Mitleidenschaft gezogen (sie werden porös und bruchanfällig), es bilden sich Fettablagerungen mit Begleiterscheinungen wie aufgedunsene »Mondgesichter« und Buckel, der Gehalt an weißen Blutkörpern verändert sich, mit dem Ergebnis, daß die betroffene Person empfänglicher wird für Allergien wie für Infektionen, und schließlich gerät das Gleichgewicht an männlichen und weiblichen Hormonen durcheinander, eine Störung, die zu Erscheinungen wie übermäßigem Haarwuchs bei Frauen führt.

Mangel an Steroidhormonen kann eine der Ursachen für die häufig mit Depressionen einhergehende Addisonsche Krankheit sein, wie umgekehrt bei einem Überschuß die Cushingsche Krankheit und nicht selten manische Zustände auftreten. Daran mag man die Wirkungsbreite von hormonostatischen Schwankungen ermessen. Es erscheint mithin fast als ein Wunder, daß häufig Jahre vergehen können, ehe Krankheiten wie Hypoglykämie [abnorm geringer Zuckergehalt des Blutes] und Diabetes aufbrechen. Urschmerzen verursachen nicht nur Veränderungen in Körperbau und -struktur, sondern gleichzeitig auch die entsprechenden psychischen Veränderungen. Mit anderen Worten, wer »nicht in Ordnung« oder verschroben aussieht, ist wahrscheinlich auch psychisch in einer ähnlichen Verfassung.

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Damit nicht genug: der Hypothalamus hat auch entscheidenden Einfluß auf die Körperfunktionen der Mutter. So legt er die Milchmenge fest, die eine Mutter beim Stillen zur Verfügung hat; ferner hängt von ihm die Art und Weise der Menstruation ab. Nicht zuletzt spielt der Hypothalamus bei der Frage eine Rolle, ob eine Frau schwanger wird oder nicht.

Für gewöhnlich macht ein Mensch mit erhöhtem hormonalen Regulationsniveau einen »überspannten« Eindruck. Wird seine starke innere Spannung aufgrund besonderer Lebensumstände (etwa mütterliche Verführungstendenzen - im Unterschied zur zwanghaften Überfütterung) in den sexuellen Bereich kanalisiert, dann entwickelt er später unter Umständen eine sexuelle Überaktivität. Das läßt sich damit erklären, daß die Sexualfunktionen einen Bestandteil der allgemeinen emotionalen Reaktions­bereitschaft des Organismus bilden und daß der Hormonostat die Stärke unserer Emotionen determiniert. Wir erkennen also, daß die Ursache für Hypersexualität nicht in einem reinen Sexualtrieb zu suchen ist, sondern daß wir es vielmehr mit inneren Spannungen zu tun haben, die über den Hypothalamus in sexuelle Kanäle abgeleitet werden. Sexualität bietet die Möglichkeit zur Spannungsabfuhr. Der Versuch, sexuelle Störungen wie Nymphomanie oder Satyriasis [abnormer Geschlechts­trieb beim Manne] lediglich als Abirrungen des Sexualtriebs zu behandeln, ist zum Scheitern verurteilt, weil derartige therapeutische Maßnahmen nur die Abfuhrwege angehen und nicht zu den Ursachen vorstoßen.

Ein Mensch mit hohem Regulationsniveau, dessen frühe familiäre Umwelt nur wenige Abfuhr­möglichkeiten gestattete (beispiels­weise aufgrund der religiösen, rigiden Einstellung der Eltern), verharrt in seiner inneren »Überspanntheit« und entwickelt als Folge davon chronische Ängste. In einem solchen Falle besteht die erhöhte Wahrscheinlichkeit eines psychischen Zusammen­bruchs zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr.

Leute mit hohem Regulationsniveau vermitteln den Eindruck, als verfügten sie über große Energiereserven; und tatsächlich ist das auch der Fall. Sie schöpfen ihre Energien aus einem Körpersystem, das ständig auf hohen Touren läuft, um Schmerz abzuwehren. Einige richten ihre Energien auf sexuelle Aktivitäten, andere auf geschäftliche. Der »Überenergische« findet gewöhnlich einen Weg, seine Antriebskräfte abzuleiten.

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Nur wenn die Abfuhrwege blockiert werden, verwandelt sich die Spannung in den ihr zugrunde liegenden realen Schmerz. Solange noch Abfuhrwege offenstehen, kommt der Betreffende nicht auf den Gedanken, daß er unter dem Einfluß von Schmerz oder überhaupt unter Spannung steht — er fühlt sich lediglich energiegeladen.

Zur Klärung der Frage des Energieniveaus können wir auf die Begriffe prototypisches Trauma und prototypische Abwehr zurückgreifen. Einer unserer Patienten machte kürzlich ein Geburtstrauma durch, bei dem er sich schließlich des Eindrucks nicht erwehren konnte, als würden gewaltige Energien in ihm freigesetzt. Anschließend verspürte er wirklich Energie. Das während des Urtraumas aufsteigende Gefühl, das er von da an ausagierte, läßt sich in die Worte fassen: »Da geschieht nun so viel mit mir, und ich kann mich nicht bewegen - ich kann nichts dagegen tun.«

Da er fast einen ganzen Tag lang im Geburtskanal festgehalten wurde, »gab« er schließlich »auf«, resignierte und setzte sich nicht länger zur Wehr. Später entwickelte er sich zu einer von Resignation und Lethargie erfüllten Persönlichkeit. In jeder Streßsituation fühlte er sich wie erstarrt. Das heißt, unter Belastung wurde die ursprüngliche und reale Bewegungslosigkeit, die seine Energien aufgezehrt hatte, wieder aktiviert, und dann hatte er das Gefühl, er sei unfähig, sich aufzuraffen, um irgend etwas zu unternehmen. Wenn er während eines Semesters für zwei Seminare schriftliche Arbeiten anfertigen sollte, konnte er sich nicht aufraffen, die Aufgaben in Angriff zu nehmen. Als er später Leihwagen-Schulden zu bezahlen hatte, war er nicht in der Lage. sich einen Job zu suchen oder .überhaupt irgend etwas zu tun. Er konnte sich »nicht bewegen«. In diesem Zusammenhang dürfen wir annehmen, daß das frühe Trauma seinen Hormonostat gravierend beeinträchtigte und ihn aller Kraft beraubte.

Unter Streß griff er zu Rationalisierungen wie: »Es lohnt sich ja doch nicht.« Seine »passive« Persönlich­keit beruhte zumindest teilweise auf einem drastisch verminderten Energieniveau. Er hatte eine passive Einstellung zu seiner Umwelt, und die Umwelt wiederum verstärkte seine Passivität. Er traf nämlich auf Menschen, die ihn anleiteten und ihm sagten, was er tun solle, fand Leute, die ihm Ratschläge gaben und einen dominierenden Einfluß auf ihn hatten. Vereinfacht ausgedruckt, scheint es, als stelle das Leben nur eine Rationalisierung für unsere Konstitution dar. Die von dem Patienten zeit seines Lebens entwickelten Vorstellungen waren offensichtlich in starkem Maße von den Ereignissen zu Beginn seines Lebens abhängig.

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Vorstellungen und Begriffe sind weitgehend Abkömmlinge der gesamten Physiologie, und es hat wenig Sinn, die Vorstellungen eines Menschen über bestimmte Dinge ändern zu wollen, solange man nicht gleichzeitig daran geht, seine gesamtkörperliche Verfassung zu ändern.*

Wir wollen uns nun vor Augen führen, wie eine unter Streß eintretende spezifische Hormonstörung die von mir erwähnte Passivität beeinflußt und selbst von dieser Passivität beeinflußt wird. Das Gehirnhormon Norepinephrin scheint bei der Fähigkeit zu aktiven, mit Bestimmtheit geäußerten Reaktionen eine entscheidende Rolle zu spielen. Zu geringe Mengen dieses Hormons (»Neurotransmitter« genannt) können zu Passivität und in schweren Fällen zu Depressionen führen.

Für Untersuchungszwecke hilflos gemachte und dann mit Stromstößen geschockte Tiere wiesen einen Abfall im Norepinephrin-Spiegel auf. Wenn sie Gelegenheit erhielten, sich auf der unter Strom stehenden Bodenplatte des Käfigs zu bewegen, stieg der Hormonspiegel an. Nach meiner Ansicht liegt in der Art des Geburtstraumas der Grund dafür, warum in einem Fall der Norepinephrin-Spiegel hoch, im anderen Fall niedrig ist; somit entscheidet das Geburtstrauma darüber, ob sich später Passivität oder Aktivität als charakteristische Reaktionsweisen herauskristallisieren.

Wenn der Fötus über Stunden im Geburtskanal eingeklemmt ist, ohne jede Möglichkeit, sich zu bewegen, oder wenn er durch die Nabelschnur stranguliert wird, so daß Bewegung den Tod bedeutet, dann kommt es zu einer erhöhten Sekretion von Epinephrin. Dieser Neurotransmitter wirkt als Ausgleichs­substanz gegenüber dem Norepinephrin, das heißt, er mobilisiert im Körpersystem Energien für Flucht- oder Kampfreaktionen. Ein von Angst gelähmter, innerlich starrer, rigider Mensch hat einen erhöhten Norepinephrin-Spiegel. Ich vermute jedoch, daß Rigidität als ein Charakterzug mit Beginn des Lebens einsetzt, zu einem Zeitpunkt also, wo rigide und unbeweglich sein (im Geburtskanal) eine Frage von Leben oder Tod ist. Somit handelt es sich bei der später neurotisch werdenden Rigidität um eine frühe prototypische Anpassungsreaktion. In diesem Sinne war zu einem früheren Zeitpunkt jedes unserer Persönlichkeitsmerkmale zur Erhaltung des Lebens und der körperlichen Integrität von besonderer Bedeutung.

 

* Aus genau diesem Grunde haben auf »geistige Veränderungen« abzielende Konditionierungstechniken und therapeutische Methoden wie die realitäts­orientierte Therapie keinen Erfolg. Bei solchen Methoden bleibt die in den Nervenzellen des Gehirns gespeicherte Vergangenheit erhalten.

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Ein Beispiel für rigide Reaktionen verdanke ich einem Patienten, der während eines Vortrags merkte, daß er die Zeit überschritten hatte. Obwohl die Zuhörer ihn aufforderten, sich zu beeilen und vielleicht einige Vortrags­passagen fortzulassen, sah er sich außerstande, seine Vortragsweise abzuändern. Nachdem er einmal seinen Weg eingeschlagen hatte, konnte er nicht von ihm abweichen, vor allem nicht in einer Belastungs­situation wie bei einem Vortrag vor einem großen Zuhörerkreis.

Der Grund für seine rigide Reaktion lag, wie er herausfand, in einem Geburtstrauma, bei dem er »keine Bewegung ausführen konnte«. Bei der Geburt hatte er einfach keine Reaktionsalternativen; die damalige Bewegungslosigkeit bildete in allen späteren Streßsituationen eine im Unbewußten fixierte Reaktionsweise. Die prototypische Abwehr ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil sich alle späteren Abwehrmechanismen darauf ablagern. Sie fixiert »Persönlichkeit«.

Solange das prototypische Trauma und seine Abwehr nicht erneut erfahren und aufgelöst werden, sind tief­greifende Persönlichkeitsänderungen ausgeschlossen. Daran haben wir zu denken, wenn wir über Persönlichkeits­änderungen sprechen. Zwar sind erhebliche Eingriffe in die Persönlichkeit möglich, doch tiefreichende Änderungen sind von prototypischen Aufdeckungsprozessen abhängig. Das bedeutet, wenn wir Homosexualität, Asthma oder allgemeine Persönlichkeitsstarre vollständig heilen wollen, dann müssen wir zu dem ursprünglichen Fixierungspunkt zurückkehren, zu dem Urtrauma, das nicht unbedingt die Geburt sein muß; es kann durchaus ein später erlebtes Ereignis sein — zum Beispiel ein Erlebnis im Kinderbett.

Bei einem Kind, das bei der Geburt zu kämpfen hat, um ins Freie zu gelangen, kann das Regulationsniveau für Epinephrin zu hoch liegen. Ein solches Kind mag dann chronisch »unter Dampf stehen«. Es wird unter Streß eher zu Handlungen als zum Nachdenken neigen. Sein charakteristisches Verhalten angesichts von Problemen wird eher im Angriff als im Nachdenken und Reflektieren bestehen. Seine Ängste wird es nicht allzu stark fühlen, weil es sie ständig »abarbeitet«. Aufgrund seines frühen Traumas (und entscheidender Lebensumstände) dürfte ihm später die Tätigkeit eines Fußballspielers eher zusagen als die eines Dichters. Denn für ein solches Kind ist auf einer unbewußten Gefühlsebene Angriff gleichbedeutend mit Leben, passives Nachdenken mit Tod. Kurz, sein Körpersystem wird (auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der biochemischen) ständig angetrieben, das Urtrauma auf dem Wege des Angriffs auszulöschen.

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Wenn ein Kind bei der Geburt übermäßig aktiv war, wird es im späteren Leben »überaktiv« sein; war es hingegen bei der Geburt zur Unbeweglichkeit verurteilt, dann wird es sich wahrscheinlich zu einem passiv-depressiven Erwachsenen entwickeln. Jede spätere Belastungssituation, sagen wir der Verlust des Ehepartners, wird die charakteristische Reaktion auslösen – entweder: »Was soll's?« oder: »Ich werde dafür sorgen, daß du bei mir bleibst, ich werde es nicht zulassen, daß du mich verläßt.«

Der Teufelskreis einer solchen Entwicklung besteht darin, daß der einmal »eingestellte« Hormonostat eine Persönlichkeit hervorbringt, die ihrerseits dann die hormonalen Komplikationen verstärken. Wir haben es hier mit einer Rückkoppelung zu tun. Nach meiner Überzeugung können therapeutische Urerlebnisse diese in sich geschlossenen Systeme aufbrechen, denn dann wird das ihnen zugrunde liegende Trauma wiedererlebt und aufgelöst.

Was uns fehlt, sind Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen von Geburtstraumen und späteren Persönlichkeitstypen aufhellen. Doch solche Untersuchungen sollten sich nicht nur mit Persönlichkeitstypen befassen, sondern darüber hinaus zu klären versuchen, welche spätere Krankheiten mit welchen spezifischen Veränderungen im Hormon­haushalt bei der Geburt in Verbindung stehen. Neigt beispielsweise der Überaktive mit höherer Wahrscheinlichkeit zu übermäßiger Sekretion und ist er deshalb anfällig für Magengeschwüre?

Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß bewegungs­unfähig gemachte, unter Streß stehende Tiere tumoranfälliger sind; uns stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, in welcher Beziehung diese Tatsachen zur menschlichen Tumorbildung stehen. Mit anderen Worten: Ist Tumoranfälligkeit auf das Geburtstrauma zurückzuführen? Ich würde sagen, dies trifft in vielen Fällen zu, bei denen sich ein hoher, das normale Maß weit übersteigender Gehalt an Norepinephrin nachweisen läßt. In solchen Tumoren findet sich eine »Massenansammlung« von Norepinephrin, die das Körpersystem aus irgendeinem Grund nicht auflösen und richtig verwerten kann.*

Norepinephrin ist in erster Linie ein Gefäßverenger. Es verursacht durch Verengung der Blutgefäße einen erhöhten Blutdruck. Warum werden die Blutgefäße chronisch verengt? Ein Grund liegt sicherlich darin, daß wir uns dadurch einer Bedrohung entziehen wollen. Urschmerz ist eine ständige Gefahrenquelle, mit der wir uns unablässig auseinandersetzen müssen.

 

* Eine technische Erörterung dieser Zusammenhänge geben Stanley Gitlow et al., >Diagnosis of Neuroblastoma by Qualitative and Quantitative Determination of Catecholamine Metabolites in Urine<, in: Cancer, Bd. 25, Nr. 6, Juni 1970.

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Die Absonderung von Norepinephrin schränkt die Blutzufuhr ein und überläßt damit den größten Teil des Blutes dem Gehirn, das einen Ausweg aus Problemen suchen und Lösungen finden muß. Norepinephrin verhindert ferner, daß der Körper in einen Schockzustand gerät, was mit Sicherheit eintreten würde, wenn alle Urschmerzen plötzlich in das Körpersystem fluteten. Das gilt besonders für eine traumatische Geburt, wenn das Kind etwa stranguliert wird und keine Möglichkeit für Kampf oder Flucht hat. Dann muß etwas geschehen, damit das Kind am Leben bleibt und seine Funktionen aufrechterhalten kann. Diese Aufgabe übernimmt vor allem das Norepinephrin.

Wenn wir uns klarmachen, daß ein erhöhter Norepinephrin-Spiegel die Blutzufuhr beeinträchtigt, dann verstehen wir auch, wie spätere Hypertonie [krankhaft erhöhter Blutdruck] entsteht. Natürlich spielen auch spätere Belastungen bei der Symptombildung eine Rolle. Wenn das Kind in einem Getto lebt, wenn es schwarz und arm ist, eine Schule besucht, wo Gefahren und Kämpfe an der Tagesordnung sind, dann wird es aufgrund dieser zusätzlichen Belastungen vermutlich früher unter Hypertonie leiden, als es sonst der Fall wäre. Wenn es in einer angenehmen, freundlichen Atmosphäre lebt, dürfte es länger durchhalten, mag sein vier Jahrzehnte oder noch mehr.* Ich behaupte, daß die Vernachlässigung entscheidender psychischer Faktoren (mithin biochemischer Faktoren) mit ein Grund dafür ist, daß die angestrengte Suche vieler Wissenschaftler nach den Ursachen bösartiger Tumoren bislang ergebnislos verlaufen ist.

Es ist kein Zufall, daß früh in Isolierung gehaltene Ratten (obwohl in diesem Zusammenhang niemals erklärt wird, daß »Isolierung« das Fehlen einer Mutter bedeutet) anfälliger für Hypertonie sind und, noch wichtiger, einen höheren Gehalt an Norepinephrin im Limbischen System (wo nach meiner Meinung die Urschmerzen gespeichert werden) aufweisen. Der entscheidende Punkt ist, daß nicht ein hoher Norepinephrin-Gehalt all die genannten Krankheiten verursacht, sondern vielmehr eine Anhäufung ungelöster Gefühle, die von gewissen chemischen Substanzen vermittelt werden. Diese Gefühle und nicht auftretende chemische Veränderungen sind der Untersuchungs­gegenstand. Schließlich finden die chemischen Veränderungen im Innern von Menschen statt.

 

* Für eine technische Erörterung siehe M. Mendlowitz et al., <Catecholamine Metabolism in Essential Hypertension>, in: American Heart Journal, Bd. 79, Nr. 3 März 1970 S.401-407.

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Was ich damit sagen will: Nicht der »Persönlichkeitstyp« legt fest, ob jemand unter Magengeschwüren oder Asthma leiden wird, sondern vielmehr spezifische, durch ein frühes Trauma ausgelöste Veränderungen in der Biochemie, die sowohl einen spezifischen Persönlichkeitstyp hervorbringen wie auch eine damit in Verbindung stehende Hormonstörung verursachen.

Daher liegt auf der Hand, daß jede Psychotherapie, die tiefreichende Persönlichkeitsänderungen erzielen will, eine Veränderung des basalen endokrinen Systems anstreben muß. Anderenfalls bringen wir einen »Überaktiven« lediglich dazu, seine Energien in ein Verhalten zu kanalisieren, das von einem Psychologen oder Psychiater für angemessen erachtet wird. Der Betreffende wäre weiterhin eine überaktive, ständig »auf dem Sprung befindliche« Persönlichkeit.

Sicherlich wird nicht nur das Gehirn durch frühe traumatische Erfahrungen beeinträchtigt. Veränderungen im Hormonhaushalt beeinflussen das Tempo und das Wesen der psychischen Entwicklung.

Bei Neurotikern finden wir häufig auch ein neurotisches »Aussehen«. Einzelne Teile ihres Körpers sind auf die eine oder andere Weise entweder über- oder unterentwickelt. Auffällig sind Erscheinungen wie ein zu kleiner Rumpf, zu kurze Beine, ein aufgedunsenes Gesicht, gehemmtes Wachstum usw. Umgekehrt sehen wohlgeratene Kinder auch wohlgeraten aus. Ihre Entwicklung verlief einheitlich; ihre Körper sehen entsprechend harmonisch aus. Über diese Zusammenhänge liegt uns bislang noch kein ausreichendes Datenmaterial vor. Doch die von uns primärtherapeutisch behandelten Mädchen, die inzwischen die Pubertät erreicht haben, sind hübsche Erscheinungen mit wohlgeformten Körpern und Brüsten. Sie wirken nicht dürr, blutleer oder hölzern.

Es kann uns nicht überraschen, daß Neurotiker auch ein neurotisches Aussehen haben können. Die Körper­form verändert sich kontinuierlich über Jahre hin. Einige unserer Körperteile entwickeln sich schneller als andere. Beine und Arme wachsen beispiels­weise schneller als der Rumpf. Der Kopf sowie Hände und Füße entwickeln sich schneller als andere Körperteile. Diese körperlichen Veränderungen werden von einem genetisch kodierten Hormonsystem gesteuert. Wenn im Verlauf kritischer Phasen, in denen spezifische, das Wachstum steuernde Hormone abgesondert werden, gravierende Traumata auftreten, einerlei ob körperliche oder psychische, dann kommt es zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Integration.

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 Freilich, eine Verzögerung der Wadenbildung oder eine gestörte Entwicklung des Rumpfes können sich auf subtile Weise vollziehen. Als Endergebnis erscheint die betreffende Person als körperlich desintegriert. Ihr Körper kann klein bleiben, das Wachstum in der Adoleszenz kann viel zu spät einsetzen, als daß das tatsächliche Wachstumspotential jemals völlig ausgeschöpft werden könnte. Wenn Psychologen von »Persönlichkeits­wachstum« sprechen, dann sollten sie sich ins Gedächtnis rufen, daß Wachstum nicht nur den Verstand oder die Psyche betrifft.*

In einer anderen Arbeit (Der Urschrei, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1973) habe ich geschrieben, man könne sich eine Neurose so vorstellen, als habe jemand seinen inneren Motor angestellt und sei bis an sein Lebensende nicht mehr in der Lage, ihn abzustellen. Wir erkennen allmählich, daß dieser Vergleich sich auch biochemisch halten läßt, wenn wir uns nämlich vergegen­wärtigen, daß der Hormonostat eines Menschen zu hoch eingestellt sein und das Regulationsniveau durch keinen Willensakt gesenkt werden kann. Es scheint jedoch, daß therapeutische Urerlebnisse das Regulationsniveau senken können, Urerlebnisse, die das Trauma schließlich beseitigen, das heißt die Hauptursache für das ständige Überreagieren des Körper­systems. 

Ich glaube, wenn der Hormonostat zu hoch eingestellt wird, dann deshalb, weil er ständig auf eine unbewältigte Bedrohung oder ein nicht verarbeitetes Ereignis reagieren muß. In einem solchen Falle wird das Körpersystem ständig angetrieben, um Schmerz abzuwehren, und befindet sich mithin in einem chronischen Zustand der Überreaktion. Man kann zwar das Verhalten, das auf dem bei der Geburt festgelegten Triebniveau basiert, »konditionieren« (durch Verhaltenstherapie), doch man kann das Gehirn und das Triebniveau selbst nicht konditionieren. Das heißt, man kann ein delinquentes, ausagierendes, hyperaktives Kind umerziehen, so daß es sich besser verhält und seine Triebe in Schularbeit kanalisiert, doch man kann das auf eine bestimmte Höhe festgelegte Triebniveau nicht ändern. Somit hat besseres Verhalten seinen Preis, etwa Bettnässen, Alpträume und dergleichen.

 

*  Eine ausgezeichnete und ausführliche Beschreibung aller Wachstumsprozesse findet sich bei M. Tanner, >Physical Growth<, in Paul Müssen (Hrsg.), Manual of Child Psychology, 3. Aufl., Wiley and Sons, New York 1970.

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Levine hat mit seinen Untersuchungen unter anderem den wichtigen Nachweis erbracht, daß der Organismus weiblicher Tiere, denen in der ersten Lebenszeit die Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse vorenthalten wurde, einen gestörten Hormonhaushalt hat, und daß diese Tiere sich zu »bösen« Müttern entwickeln – zu neurotischen, indifferenten Müttern, die unfähig sind, ihren Jungen ausreichend Milch zu geben. Das heute vorliegende Beweismaterial berechtigt uns zu der Annahme, daß nicht die ersten sechs Lebensjahre, wie Freud meinte, sondern die ersten sechs Monate für die kindliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind.

Primäre Deprivation während dieser Lebensspanne bestimmt die künftige Entwicklungsrichtung – verhaltens­mäßig, physiologisch und biochemisch. Die ersten sechs Monate sind für unser Leben am wichtigsten, und wenn spätere Schäden verhindert werden sollen, muß den Kindern während dieser Phase besonders große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Keine Mutter sollte unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Wenn sie ein Kind hat, sollte sie sich darauf einstellen, Mutter zu sein und nicht eine Frau, die nebenbei noch arbeitet.

Um normal zu sein, ganz man selbst zu sein, bedarf es eines Gehirns, das frei ist von Störungen, frei von gefühlsunterdrückender Zensur der Großhirnrinde. Unter einem störungsfreien Gehirn verstehen wir ein Gehirn, dem ein Maximum an physischer Entwicklung ermöglicht wird.* Dann erst besteht Lernen in der Freiheit, nach eigenem Zeitmaß zu wachsen und sich zu entwickeln. Mechanische Übung und Dressur lassen diese Freiheit nur verkümmern. Eine freie, an Erfahrungsmöglichkeiten reiche Umwelt trägt unmittelbar zur Verfeinerung der Gehirnbahnungen und damit zu mehr Einsicht und Verstehen bei. Ich möchte hinzufügen, daß dazu auch das Verstehen seiner selbst, die Selbsterkenntnis gehört, so daß wir sagen können, daß Selbst­erkenntnis im wahrsten Sinne des Wortes das Ergebnis eines vollentwickelten, von Störungen freien Gehirns ist. 

Früher stand ich unter dem Eindruck, es sei ein Glück, daß Menschen, die in einer gräßlichen Umwelt aufwachsen, häufig ein zu »dummes« Gehirn haben, um verstehen zu können, was um sie vor sich geht; doch heute scheint es mir, daß »Dummheit« buchstäblich das neurologische Ergebnis einer solchen Umwelt darstellt. Bei zu großem Schmerz versetzt die Natur das Gehirn gnädig in einen Zustand der Betäubung.

Wenn wir wollen, daß unsere Kinder wahrhaft aufgeweckt und aufnahmefähig werden und sich selbst und die anderen verstehen, so daß sie sich durch die Welt nicht widerstandslos manipulieren lassen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sie bewußte Kinder, primär bewußte Kinder werden.

Dieses Bewußtsein wird ihnen von einem Gehirn mit reibungslosen Verbindungen zwischen allen seinen Bereichen vermittelt. Falsches Bewußtsein entsteht in einem Gehirn, das nicht als harmonische Einheit funktioniert, sondern bei dem ein Teil ständig damit beschäftigt ist, einen anderen auszuschalten. 

Aus diesem Grunde können Einsicht und Aufnahme­fähigkeit nicht eigentlich gelehrt werden. Sie sind Funktionen eines normalen Gehirns.

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* Krech, Rosenzweig, Bennett, <Relation between Brain Chemistry and Problem Solving, among Rats in Enriched and Impoverished Invironments>,
  in: <Journal of Comparative and Physiological Psychology>, 55, 1962, S. 801-807.

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8  Die innere Umwelt  - Arthur Janov 1973