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10. Körperliche und psychische Bedürfnisse

 

 

 

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Obwohl sich kaum bestreiten läßt, daß es so etwas wie ein psychisches Bedürfnis nicht gibt, das heißt ein Bedürfnis, das nur in der Psyche existiert, sind gerade darüber zahlreiche Bücher geschrieben worden – etwa über das Bedürfnis nach Ansehen, Macht, Selbstachtung usw. – Alfred Adler, einer der Schüler Freuds, hat sein ganzes Theoriesystem auf das Machtbedürfnis begründet und Bände darüber geschrieben.

Doch ein Bedürfnis ist kein psychischer Zustand, sondern vielmehr ein Zustand, der das gesamte Körper­system erfaßt. Es gibt kein Bedürfnis, das nicht Ausdruck unseres gesamten Körpersystems wäre. Aus diesem Grund hat jede Versagung in einem Einzelbereich allgemeine Auswirkungen. Bei Heimkindern, die in den ersten sechs Monaten auf einfühlsamen Körperkontakt verzichten mußten, stellte sich später heraus, daß sie allgemein »rastlos, deprimiert und zur Konzentration unfähig« waren.*

Psychische Bedürfnisse sind lediglich symbolisierte körperliche Bedürfnisse. Gerade weil psychische Bedürfnisse Abkömmlinge und nicht wirkliche Bedürfnisse sind, kann man praktisch alle seine neurotischen, symbolischen Bedürfnisse befriedigen, ohne jemals eine Änderung zu erreichen. So kann man beispielsweise einem Kind alles geben, ohne damit eine Krankheit beseitigen zu können. 

Wir sind bei unserer Krankheitsbehandlung in die Irre gegangen, weil wir versäumt haben, zwischen wirklichen und nicht-wirklichen Bedürfnissen genau zu unterscheiden, und so haben wir bisher versucht, Probleme des gesamten Körpersystems mit Mitteln zu behandeln, die sich ausschließlich an den Gehirn­funktionen orientieren. Es ist uns gelungen, die Psyche eines Menschen so zu verändern, daß er zu neuen Gedankengängen fähig ist, während die körperlichen Bedürfnisse unverändert erhalten bleiben; doch »Persön­lich­keits«-Änderungen können nur dann Platz greifen, wenn es gelingt, Zugang zu den unter­schwelligen Bedürfnissen zu finden.

* M. Pringle und V. Bossion, >A Study of Deprived Children<, in: Vita Humanana, 1, Basel 1958, S. 65-92 u.  S. 142-170.


Ich lege deshalb solchen Wert auf diese Feststellung, weil zahllose Bücher über die besonderen Bedürfnisse von Kindern geschrieben worden sind, über Bedürfnisse, deren Existenz ich bezweifele. Da ist zum Beispiel das »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«. In der psychologischen Literatur wird es abwechselnd als Bedürfnis nach Eingliederung oder Bedürfnis nach Sozialisation bezeichnet. Doch es sollte eigentlich klar sein, daß wir lediglich uns selbst zugehörig sein können. 

Wenn Eltern uns ein eigenes Selbst vorenthalten, dann müssen wir darum kämpfen, »Teil« von etwas zu sein. Wir bemühen uns darum, Leben durch eine Gruppe, eine Mannschaft, eine »Familie« von Freunden zu gewinnen. Wenn wir die Möglichkeit haben, durch uns selbst zu leben, dann verspüren wir nicht das Bedürfnis, zu irgend etwas zu gehören. Wir können an Aktivitäten teilnehmen und Vergnügen daran empfinden, doch in einem solchen Falle ist die motivierende Kraft keineswegs neurotisch. Das läßt sich am besten im Sinne einer einfachen Dialektik verstehen. Wenn Eltern uns erlauben, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns als Teil von uns selbst; wenn sie uns daran hindern, wir selbst zu sein, dann fühlen wir uns von uns selbst getrennt. Dann beginnen wir, darum zu kämpfen, »Teil« von irgend etwas zu sein. Wenn also jemand klagt: »Ich fühle mich heute überhaupt nicht als ich selbst«, dann meint er etwas Tiefergehendes als eine vorübergehende Unpäßlichkeit.

Sich nicht selbst zu gehören hat verschiedene Auswirkungen. Ungeschicklichkeit und mangelnde körperliche Koordinierung sind nur zwei Beispiele. Wenn der Körper dem Kind nicht gehört, dann wird es ihm schwer­fallen, ihn richtig zu beherrschen. Ihm mag es an Wendigkeit und Anmut fehlen, es mag unfähig sein, sportliche Tätigkeiten einigermaßen gekonnt auszuüben oder zu tanzen – und das trotz jahrelangen Tanzunterrichts. Einer unserer Patienten erklärte seine Ungeschicklichkeit folgendermaßen: »Es ist nicht mein Körper. Es ist ihrer. Ich trage ihn nur herum, doch er tut, was sie wollen.« 

Ein anderer Patient meinte, sein Körper sei ihm fremd, er schleppe ihn lediglich herum. Wieder ein anderer Patient hatte beim Tennisspielen einen schlechten Tag erwischt. Wegen seiner Unbeholfenheit und »Dämlichkeit« geriet er in eine so vehemente Erregung, daß er sich auf den Tennisplatz setzte und ein Urerlebnis hatte. Anschließend erklärte er seinem Tennispartner (ebenfalls ein Primärpatient), das Gefühl, »mich nicht als mich selbst zu fühlen, hat mich gegen mich aufgebracht, mich intolerant gemacht mir selbst gegenüber. Als ich zu weinen begann, da fühlte ich den alten Schmerz darüber, daß es mir nie vergönnt war, etwas Falsches zu tun oder etwas nicht gut zu tun.

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Ich haßte an mir, was eigentlich natürlich ist – mangelnde Gewandtheit, keine Antwort auf eine Frage parat zu haben –, Eigenschaften, die nach Ansicht meines Vaters dumm und falsch sind. Mir stand es niemals frei, einfach das Gefühl zu haben, ich könne ruhig etwas falsch oder nicht sonderlich gut tun. So hatte ich jedesmal, wenn etwas Derartiges geschah, das Gefühl, ich sei nicht >ich selbst<.« Als dem Patienten schließlich gefühlsmäßig aufging, daß es ganz natürlich und in Ordnung ist, nicht ständig perfekt zu sein, da begann er allmählich, besser Tennis zu spielen; seine Angst, einen Fehler zu begehen, verschwand.

Wir kommen auch nicht mit dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zur Welt. Für Kinder bedeutet Aufmerk­samkeit die Befriedigung von Wünschen. Ein Kind wird nicht mit dem Bedürfnis geboren, »draußen« jemanden zu besitzen, der ihm zuhört. Es hat ein inneres Bedürfnis, sich selbst auszudrücken, und dazu bedarf es eines Zuhörers. Bedürfnisse kommen aus dem Innern und nicht umgekehrt. So ist das sogenannte psychische Bedürfnis nach Aufmerksamkeit oder Interesse auf Seiten anderer in Wahrheit ein körperliches Bedürfnis nach einem Gefühl von Sicherheit und Schutz in dieser Welt. Wenn ein Kind dieses Gefühl verspürt, hat es keine Angst davor, sich in die Welt hinauszuwagen, und es kann auch seine anderen Bedürfnisse freier äußern. Ein Kind, dessen Sicherheitsbedürfnis befriedigt ist, fühlt sich frei, in der Umgebung herumzurennen und zu spielen, denn es lebt in der Gewißheit, daß schützende Eltern sein Tun überwachen.

Eines der bekannteren sogenannten psychischen Bedürfnisse ist das Gefühl der eigenen »Wichtigkeit«. Auch dabei handelt es sich nur um ein Scheinbedürfnis. Wenn ein Kind seinen Eltern wichtig ist, dann hat es keinen Grund, sich ein Leben lang abzumühen, um endlich das Gefühl eigener Wichtigkeit zu empfinden. Das heißt, wenn Eltern ihrem Kind zuhören, zu ihm sprechen, es um seine Meinung fragen, nach ihm schauen, seinen Namen nennen, seine Existenz anerkennen, dann teilen sie ihrem Kind durch diese einfachen menschlichen Handlungen mit, daß es für sie wichtig ist. Wenn die Eltern all diese Dinge nicht tun, dann vermitteln sie ihrem Kind den Eindruck, es sei unwichtig, und dann wird das Kind in seinem späteren Leben alles Mögliche tun, um sich wichtig zu machen. Doch seine Gefühle ändern sich nicht, ob es nun ein Filmstar oder ein Professor wird. Jenes Scheinbedürfnis nach Wichtigkeit verflüchtigt sich mit dem Gefühl der »Unwichtigkeit«.

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Wir haben hier einen dialektischen Prozeß vor uns: das Gefühl von Unwichtigkeit hebt das zwanghafte Bemühen um Wichtigkeit auf. Wenn hingegen in unserer Welt jemand »wichtig« wird, dann bleibt das unterschwellige Gefühl erhalten. Welche Wichtigkeit auch immer jemand erlangt, es wird ihm nie genug sein, denn in ihm lauert weiterhin das Gefühl der Wertlosigkeit. Der Betreffende mag glauben, jedermann habe das Bedürfnis, wichtig zu sein; doch wenn er sich nicht unwichtig fühlte, hätte er dieses »psychische« Bedürfnis nicht.

Wenn wir uns klarmachen, daß persönliche Bedürfnisse tatsächlich persönlich sind und nichts mit anderen Menschen zu tun haben, dann verstehen wir auch, daß sie nicht Vorrangstellung, Herrschaft, Macht, Unterwerfung, Ansehen oder Wertschätzung zum Ziel haben. Ein eigenes, individuelles Selbst zu haben ist das zentrale Urbedürfnis des Menschen. Zu Beginn unseres Lebens brauchen wir Eltern, die uns dazu verhelfen.

Neurotiker interessieren sich für Dinge, die ihrer Bedürfnisbefriedigung dienlich sind. Neurotisches Interesse an Kindern liegt auf der gleichen Ebene. Ein gestörter Elternteil wird versuchen, sein Kind in jemanden zu verwandeln, an dem er interessiert sein kann. Und das Kind wird versuchen, sich diesen Wünschen zu beugen, zu werden, was die Eltern von ihm verlangen. Es wird versuchen, der Spitzenathlet, der vollkommene Gentleman oder der unbesiegbare Boxer weit und breit zu werden, falls dies von ihm erwartet wird.

Harlow hat bei seinen Untersuchungen an Affen, denen Körperkontakt vorenthalten wurde, unter anderem die bedeutsame Entdeckung gemacht, daß diese Tiere sich zu Müttern entwickelten, die kein Interesse an ihrer Nachkommenschaft zeigten und ihren Jungen keine Aufmerksamkeit widmeten. Was hat der Mangel an Körperkontakt in der frühen Kindheit mit Interesse und Aufmerksamkeit zu tun? Auf menschliche Beziehungen übertragen, heißt »Interesse« an einem Kind zeigen, ihm körperlichen Kontakt zu gewähren. Das Kleinkind verspürt kein psychisches Bedürfnis nach einem Menschen, der für es »Interesse zeigt«. Es hat vielmehr das körperliche Bedürfnis nach Körperkontakt; Eltern, die an ihm interessiert sind, geben ihm diesen Kontakt. Die von Harlow untersuchten, kontaktlosen Affen konnten keine Liebe geben, weil ihre Bedürfnisse nicht erfüllt worden waren. Sie können die Mutterrolle nicht übernehmen, weil sie, im Sinne der Primärtherapie, von Schmerz erfüllt sind. Gefühlskalte Mütter sind Mütter, die gefühlskalt behandelt worden sind.

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Für gewöhnlich ist es ein vergebliches Unterfangen, gefühlskalte Mütter zu ermuntern, an ihrem Kind »Interesse zu zeigen«, denn ihr »Interesse« ist eine Funktion ihrer eigenen frühen Kindheit. Um es genauer zu formulieren: das »Interesse« ihres Körpersystems gilt ihr selbst und der erlittenen Versagung, und darum fehlt es ihr an Interesse für ihr Kind. Wenn Eltern einem Kind keine Aufmerksamkeit widmen, kann es krank werden, damit es seine Aufmerksamkeit sich selbst zuwenden kann; damit ersetzt es im Grunde genommen seine Eltern.

Man kann verstandesmäßig versuchen, Interesse an seinem Kind aufzubringen, doch der Körper (das Gefäß echten Gefühls) vereitelt wahres Interesse; und das Kind spürt, daß die ihm entgegengebrachte Sorge geheuchelt ist. Der betreffende Elternteil könnte einfach nicht verhindern, daß seine innere Distanziertheit, seine emotionale Zurückhaltung zum Vorschein kommt. In einem solchen Fall ist der jeweilige Elternteil für sein Kind nicht »ganz da«, weil ein Teil von ihm »zurückgeblieben« ist.

Viele Eltern möchten, sicherlich aus den besten Absichten, ihren Kindern »alles« geben, »was ich nicht hatte«. Doch was die Kinder dann bekommen, beruht auf dem unbefriedigten Bedürfnis der Eltern; sie sind nur insofern an ihren Kindern interessiert, als sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen. So können die Kinder zuviel dessen bekommen, was den Eltern früher fehlte (bessere Ausbildung zum Beispiel). Wenn man es so betrachtet, dann erhält ein solches Kind niemals Gelegenheit herauszufinden, was es wirklich von seinem Leben erwartet, denn es ist eifrig damit beschäftigt, das Leben seiner Eltern auszuleben. 

Alte unerfüllte Bedürfnisse der Eltern gereichen dem Kind zum Nachteil. Verdrängte Wut kann sich später gegen das wehrlose Kind richten. Wenn Mutter oder Vater ihre eigene Mutter unbewußt hassen, dann können sie diesen Haß später auf alle Frauen ausdehnen, und ihr eigenes Kind wird sicherlich eine leidvolle Kindheit haben, nur weil es weiblichen Geschlechts ist. Sein Bruder wird womöglich unbewußt bevorzugt, so daß das Mädchen eine Neurose entwickelt, nur um zu erreichen, daß es geliebt wird, und dann muß es erleben, daß es für seine Neurose noch bestraft wird. In einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung verhält sich das Mädchen abscheulich, hassenswert und überanspruchsvoll, und dieses Verhalten wiederum dient den Eltern als Rechtfertigung für ihren Zorn. Weil das Mädchen seine Eltern nicht für sich einnehmen konnte, wird es unter Umständen auch als Frau niemanden anziehen können und sein Leben lang keine liebevolle Zuneigung erlangen.

Die Tragödie ihres Lebens besteht darin, daß sie das Unglück hatte, als Mädchen geboren worden zu sein und einen Elternteil zu haben, der Frauen haßte. Selbst wenn das Kind sich änderte und ein anderes Verhalten zeigte, würde der betreffende Elternteil dies nicht bemerken, und zwar aufgrund seines Bedürfnisses, es als Symbol seiner verdrängten Gefühle zu erhalten. Für ungestörte, Gefühlen zugängliche Menschen ist Elternschaft ziemlich einfach. Sie versuchen nicht, etwas von sich herzugeben, weil es nichts dergleichen gibt, was herzugeben wäre. Als Eltern man selbst zu sein macht eigentlich das Geben aus.

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