4 Rückkehr an den Ort der Handlung
Janov 1980
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Traumata in den ersten Lebensmonaten, wenn der Organismus am zerbrechlichsten ist, sind Sprungbretter zur späteren Neurose. Eine Spaltung kann schon im ersten Fall einer Überlastung auftreten, nicht erst nachdem sich schmerzhafte Begebenheiten bis zu einer Belastungsgrenze in der Mitte der Kindheit aufgebaut haben. Darauf folgende Primärtraumata erweitern die Spaltung.
Erinnerte Geschehnisse sind für sich genommen nicht so wichtig wie die Feelings, die sie zusammenhalten. Im Alter von drei Jahren allein in den Kindergarten geschickt zu werden und dort mutterlos acht Stunden zu sitzen, ist nicht nur eine Schlüsselszene, es drückt auch eine Beziehung zwischen Mutter und Kind aus, die bereits eine Geschichte hat.
Das Gefühl der Ablehnung mag schon vorhanden sein, es hat sich aber noch nicht herauskristallisiert.
Wenn Gefühle der Ablehnung sich herauskristallisieren, schließt sich das Kind noch mehr ab. Es begreift nicht mehr, denn Verstehen hat qualvolles Leiden zur Folge. Von diesem Zeitpunkt an wird es einen großen Teil seines Lebens nicht mehr verstehen können, da alles, was ihm seine Umgebung bewußter macht, im Elend enden wird.
Feeling bindet alle Primal-Szenen zusammen. Aus diesem Grund ruft das Wiedererleben einer Schlüsselszene viele assoziierte Szenen hervor.
JACK: Schon kleine Sachen konnten mich zum Weinen bringen. Ein Wort oder eine Redewendung, Musik, ein Bild, Gedanken, alles verursachte Feelings. Häufig führte eine Erinnerung zur nächsten, durch das gleiche Feeling verbunden, und ich konnte mehrere Ereignisse aufeinanderfolgend erleben, denen allen ein gemeinsames Feeling zugrunde lag.
Die Konsistenz elterlicher Einstellungen und ihres Verhaltens den Kindern gegenüber führt dazu, daß sich im Laufe der Jahre ähnliche Szenen abspielen werden. Der Ort der Handlung mag sich geändert haben, aber die Szenen bleiben die gleichen. Ungeduldige oder anspruchsvolle Eltern werden nicht plötzlich geduldig oder nachgiebig.
In einer Sitzung fing eine Patientin wegen ihres Freundes zu weinen an, der in letzter Zeit kühl geworden sei und von einer möglichen Trennung geredet habe. Sie hatte das Feeling, er könnte sie verlassen, und verspürte erhebliche Schmerzen. Ihre Reaktion könnte durchaus angemessen sein und nicht notwendigerweise neurotisch. Die Patientin begann hin- und herzuschaukeln und rief weinend, ihr Freund solle sie nicht verlassen. Die Zeit verging, das Schaukeln setzte sich fort, und sie fing unter großen Schmerzen zu weinen an: »Ich will nicht sterben. Laß mich nicht sterben!« Sie begann wiederzuerleben, wie sie nach der Wiederheirat ihrer Mutter, die sich nicht mehr um sie kümmern konnte, zu ihrem Stiefvater abgeschoben worden war. Jahrelang mußte sie sich jede Nacht in den Schlaf wiegen. Damals war sie sich nicht der schrecklichen Angst vor dem Sterben bewußt. Sie fühlte sich einfach nur völlig verängstigt, und das Schaukeln milderte ihre Spannung.
Dieses Wiedererleben eines frühen Ereignisses half ihr, die zwanghafte Vorstellung zu begreifen und sie auch von dem Gedanken zu befreien, daß ihr der Freund genommen werden könnte. Sie hatte die Erkenntnis, daß ihr Freund, also jemand, der sie liebte, in ihrer Vorstellung ein Äquivalent ihrer Mutter war, deren Verlust in ihr das Gefühl hervorgerufen hatte, sterben zu müssen. Ihre Zwangsvorstellung und ihr Besitzanspruch gegenüber ihrem Freund waren tatsächlich genau der Grund, warum er das Gefühl hatte, von ihr benutzt zu werden. Er begann, ihrer Abhängigkeit müde zu werden. Sie mußte immer wissen, wo er sich gerade befand. Über alles, was er tat, wenn er nicht bei ihr war, mußte er Rechenschaft ablegen.
Sie agierte einen alten Urschmerz symbolisch aus. Der mögliche Verlust eines geliebten Menschen in der Gegenwart wurde in ihrer Vorstellung unbewußt mit dem katastrophalen Verlust ihrer Mutter im frühen Lebensalter gleichgesetzt. Sobald sie den Urschmerz erlebt hatte, war sie in der Lage zu erkennen, wie diese frühe, erschütternde Erfahrung sie dazu gebracht hatte, ihr ganzes Leben lang überbedürftig und anhänglich zu sein.
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Die Patientin reiste aus der Gegenwart mittels Feeling an die frühe Quelle ihrer Neurose und stellte eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit her. Das Wiedererleben half ihr, zwischen den beiden zu unterscheiden und sie zu klären. Sie entdeckte die Logik der Feelings und erlebte, wie diese früheren Wahrnehmungen alles verändern können. Sie klären, machen begreiflich und setzen die verschiedenartigsten Ereignisse in Beziehung zueinander. Sie rücken die Ursprünge falscher Wahrnehmungen an den richtigen Platz.
Im Fall der oben zitierten Frau war der katastrophale Verlust bereits eingetreten. Das Feeling war schon da. Ein aktuelles Ereignis löste es nur aus. Die unbewußte Bedeutung, das Feeling von schrecklichem Alleinsein, als sich der Verlust in der Kindheit ereignete, sowie alle Wege, damit fertigzuwerden, sind ständig als ein integriertes Ganzes vorhanden. Aus diesem Grund ruft ein Feeling eine buchstäbliche Explosion von Assoziationen hervor.
Bei den meisten von uns erhält durch die gespeicherten Feelings, die das Ereignis umgeben, jedes spätere Ereignis im Leben eine Primärbedeutung. Wenn bestimmte Teile unseres Gedächtnis-Speichers, des Hippocampus, durch einen chirurgischen Eingriff entfernt werden, gehen alte Feelings, die neue Ereignisse begreiflich machen könnten, verloren. Die operierten Patienten werden amnestisch, sie können zwar neue Fertigkeiten erwerben, aber sie vergessen alles, was mehr als ein paar Stunden zurückliegt. Noch wichtiger ist, daß sie ein ständiges Gefühl der Desorientierung, einem Traum ähnlich, haben. Mit anderen Worten, die Formen von Feelings der Vergangenheit, die einen Bezugsrahmen für neue Ereignisse abgeben könnten, scheinen diesen Menschen zu fehlen. In der Neurose — wenn die Vergangenheit von der Gegenwart abgekoppelt wird — kommen dem Menschen reale Bedeutung und ein geeigneter Bezugsrahmen für sein gegenwärtiges Leben abhanden.
MARIA:
Ich war ein mißhandeltes Kind. Wegen meines furchtbaren Lebens zu Hause fand ich Zuflucht in der Schule, in Büchern und in Musik. Ich war eine glänzende Studentin und bin auch musikalisch veranlagt. Meine Stimme, von der Kritiker später sagen sollten, sie sei »eine unter zwanzig Millionen«, entdeckte ich im Alter von zwölf Jahren, und vier Jahre lang machte mich das Singen sehr glücklich. Als ich jedoch sechzehn war, konnte ich vor anderen Leuten nicht mehr mit meiner »realen« Stimme singen. Doch reichte meine »falsche« Stimme den Zuhörern, und sie brachte mir eine erfolgreiche Opernkarriere ein.
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Als mein Mann uns — mich und zwei Kleinkinder — verließ, gab ich meine Karriere als Sängerin auf. Ich war darüber ganz erleichtert, weil es ein höllisches und freudloses Leben war. Ich wollte nicht mehr singen, es sei denn, ich könnte meine »reale« Stimme benutzen.
In einer besonders schmerzhaften Therapiesitzung weinte ich und sagte: »Ich halte es nicht mehr aus ... Ich halte es nicht mehr aus ... es ist zuviel.« Wie der Blitz kam mir eine Erinnerung an meine Mutter, wie sie mir, den Klavierdeckel zuknallend, sagt: »Schluß damit ... jetzt gibt's eine Woche kein Klavierspielen!« Zu der Zeit war ich sechs Jahre. Ich wurde zu Hause für zu lautes Atmen bestraft. Die Strafen übertrafen immer das Vergehen ... Irgendwie hielt ich die schweren Prügel aus, und daß man meine Bücher ins Feuer warf, aber mir das Klavier zu entziehen, das war zuviel. Später erinnerte ich mich, daß ich in mein Schlafzimmer gegangen war und mir gesagt habe: »Ich weiß, was ich tun werde ... Ich tue einfach so, als ob ich mir nicht so viel draus mache, dann kann's meine Mutter nicht mehr als Strafe verwenden.« Diesen Entschluß behielt ich für die folgenden vier Jahre bei, und ich erinnere mich, daß ich mir oft sagte, irgendwas sei mir gleichgültig, obwohl es mir überhaupt nicht egal war. So gab es keine Möglichkeit mehr, das als Waffe gegen mich zu wenden und mich zu »verletzen«.
Am letzten Tag meiner Intensivphase erinnerte ich mich an eine Zeit, als ich zehn Jahre alt war und im Bett über eine Stunde auf meinen Vater warten mußte, der mir eine Tracht Prügel verabreichen wollte. Von diesem Zeitpunkt an habe ich angefangen, mich zu belügen. Ich erinnerte mich daran, wie ich zu mir gesagt habe:
»Es macht mir doch nichts aus, wenn er mich schlägt... Es macht mir nichts aus . . . usw.« Ich glaube, seit der Zeit weiß ich nicht mehr, was ich irgendwelchen Dingen gegenüber wirklich empfinde.*
In der Primärtherapie ermöglichen wir dem Patienten, an der Kette der Urschmerzen hinabzusteigen, um eine reale Bedeutung wiederzuerlangen. Das kann mit einem Feeling oder einem Bedürfnis anfangen. »In meiner Ehe habe ich überhaupt keine Freiheit.« Oder: »Für mich ist kein Platz, überall sind meine Kinder im Wege.«
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Es kann dann in ein Gefühl übergehen, zu Hause keine Ecke für sich zu haben, und sich fortsetzen in: »Ich fühle mich so eingeengt. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich fühle mich total eingeschränkt«, und dann zu einem Geburtserlebnis führen. Das frühe Feeling der Beengung und das projizierte Bedürfnis nach dauerhafter Freiheit werden zu festgelegten Reaktionen auf ähnliche Lebenssituationen, was zu irrealen Einstellungen führen kann, welche die Ehe bedrohen. Den Kontext von Einstellungen zu fühlen, ändert sie radikal und führt dazu, die Ehe anders wahrzunehmen. Die Beziehung bekommt eine neue Bedeutung.
Wenn sich ein Mensch, der das Gefühl hat, nichts wert zu sein, einer konventionellen Therapie unterzieht, kann es gut sein, daß man den Schwerpunkt dort auf Lernen und nachdrücklicheres Fordern legt. Er kann ermutigt werden, die Bedienung in einem Restaurant zu rufen, um sich zu behaupten und das Gefühl zu bekommen, der Mühe wert zu sein. Diese Bemühung ist sowohl irreführend als auch nutzlos. Zweifellos kann man jemanden soweit ermutigen, mit wichtigtuerischem Handeln seine Angst vor der Kellnerin zu überwinden. (»Du bist in diesem Restaurant genauso wichtig wie jeder andere, und das mußt du dir auch selber sagen.«) Man kann jedoch nicht mit geistigen Tricks etwas überwinden, das in der Physiologie liegt. Das in der Physiologie Liegende wird von der nächsten Situation wieder zutage befördert. Man kann Bedürfnisse nicht überwinden.
Grundsätzlich führt der Abstieg an der Kette der Urschmerzen zu primären Bedürfnissen. Einzig und allein durch das Fühlen von Bedürfnissen findet ihre Auflösung statt. Man kann gegen Wände hämmern, schreien, brüllen und toben und doch niemals etwas auflösen, selbst wenn man auch annimmt, sich in der Vergangenheit zu befinden. Wut ist eine so überwältigende Reaktion, daß sie grundlegend oder fundamental zu sein scheint. An sich ist sie keines von beiden. Wut zu äußern mag ein wichtiger erster Schritt sein. Aber man muß die Reihenfolge der Abläufe verstehen: Erst stellt sich das Bedürfnis ein, dann folgt die Frustrationsreaktion auf das unbefriedigte Bedürfnis, und dann steigt Zorn oder Wut auf. In der umgekehrten Reihenfolge wird der Ablauf aufgelöst. Nichts anderes ermöglicht die Auflösung, weder Schreien, noch so laut man kann, »Mammi!« brüllen. Derartiges Verhalten hat mit Bedürfnis direkt nichts zu tun.
Aus diesem Grunde war die Primärtherapie nie »Urschrei«-Therapie, noch ist sie es heute. Die Leute schreien oft, wenn sie zu dem grundlegenden unerfüllten Bedürfnis hinuntergelangen; aber ohne Zusammenhang zu schreien ist nutzlos.
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Man schreit nicht, um zu fühlen, man schreit, weil man den Kontakt zu einer schmerzhaften Erinnerung hergestellt hat. Es ist keine Übung für sich. Verknüpfung und Erinnerung sind das heilende Moment. Der plötzliche Energieausstoß bei einem Schrei oder bei heftigem Weinen hat jedoch eine Funktion. Er setzt die mit dem verdrängten Feeling gestaute Energie frei. In den Gruppen, die simulierte Primais mit Schreien, jedoch ohne Feelings hatten, traten keine gravierenden physiologischen Veränderungen auf. Deshalb reicht Schreien, obwohl es eine deutliche Freisetzung angestauter Energie bewirkt, nicht aus, um eine wirkliche und dauernde Befreiung herbeizuführen. Diesen Punkt kann ich gar nicht genug betonen. Was auflösend wirkt und einem hilft, wieder zu fühlen, ist das vollständige, bedeutungsvolle Erleben. Das Wiedererleben von Urschmerz ist die entscheidende Antwort auf die Macht der Neurose.
STELLA:
Ich verlor meine Mutter am 11. März 1930. Ich habe sie während eines Feelings nie gesehen oder gerochen oder gar ihre Stimme gehört, und doch erscheint sie mir jetzt wirklicher als die meisten Ereignisse in meinem verrückten Leben, die ich in Erinnerung habe.
Ich wurde in Kanada geboren, meine Mutter war Amerikanerin, mein Vater Kanadier. Irgendwann in meinem ersten Lebensjahr zogen wir nach Tulsa in Oklahoma (meine Mutter kam von dort), und wir blieben dort, bis meine Mutter an einer verpfuschten Abtreibung starb. Der Abtreiber wurde wegen Mordes angeklagt, und deshalb ließ sein Anwalt durchblicken, daß meinem Vater das gleiche passieren könne, wenn er sich nicht über die Grenze absetze. Mein Vater verstand den Wink und machte sich mit mir davon. Da er der einzige Zeuge der Abtreibung war, wurde das Verfahren eingestellt und der Abtreiber freigelassen. Ich wurde in das düstere Haus der Eltern meines Vaters gebracht, wo ich lernte, mich in dunklen Ecken zu verstecken, um kein Aufsehen zu erregen.
Im Juli bin ich nach Tulsa gefahren und habe im Gericht die Akten über das Verfahren herausgesucht. Sie besagten, daß die Abtreibung am 9. März 1930 stattgefunden hatte und daß meine Mutter zwei Tage später an einer Bauchfellentzündung gestorben war. Vor meiner Reise nach Tulsa wußte ich nicht einmal ihr Todesjahr. Ihre Familie hatte die ganzen Ereignisse in totales Schweigen gehüllt.
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Im Elternhaus meines Vaters wurde der Name meiner Mutter nie erwähnt. Ich nannte seine Mutter »Mutter«, weil es alle taten, ihr Ehemann eingeschlossen; für sie war er Mr. Mac Donnell. Die zwei Schwestern meines Vaters, die auch dort lebten, rief ich bei ihrem Vornamen. Mildred, die jüngere, hatte die Funktion eines vierten Elternteils, also nach meinem Vater und dessen Eltern. Mein Großvater war ein passiver Mann, der von allen geliebt wurde. Er lebte auf Kosten seiner Frau in ihrem Haus: ein Mann, der nicht einmal auch nur einen Finger gerührt hat, um den Scheußlichkeiten, unter denen ich dort zu leiden hatte, Einhalt zu gebieten. Dorothy, die ältere Schwester, war geisteskrank. So wie ich hielt sie sich im Hintergrund oder litt unter kurzen periodischen Wutanfällen. Die meiste Zeit verbrachte sie mit verschränkten Armen und fest geschlossenen Augen auf der Kante eines Stuhls im Vorderzimmer.
Nachdem Mildred meinen Vater bei einem Streit um mich versehentlich getötet hatte, wurde ich zwischen den Großmüttern hin und her geschoben, bis ich mit vierzehn Jahren endgültig in die Vereinigten Staaten zog. Ich war trübsinnig, verwirrt und verängstigt. Meine amerikanische Großmutter bestand darauf, daß ich sie »Mutter« rief, und hängte mich an das Ende ihrer Familie, statt mir den Platz als älteste Enkelin einzuräumen.
Über meine Mutter wurde in Tulsa ausführlich gesprochen, wie über eine ältere Schwester, die ein kurzes, tragisches Leben geführt hatte, in dem ich nicht vorkam. Ich empfand nichts für sie.
Ich war es gewohnt, eine Frau, die mich liebte, »Mutter« zu nennen, aber sie hielt es für ein Zeichen der Schwäche, es zu zeigen. Eine meiner ersten Einsichten in der Primärtherapie bezog sich auf den Tag, an dem ich sie zum letztenmal gesehen habe. Ich befand mich im abfahrenden Zug und winkte meiner Großmutter auf dem Bahnsteig zu. Sie hatte zwar einen Schirm, um sich vor der Sonne zu schützen, aber ich sah im Schatten doch die Tränen über ihr Gesicht laufen. Sie liebte mich, und ich habe es nie gewußt. Ich wollte den Zug anhalten, wollte durch das geschlossene Fenster rufen, daß ich sie auch liebte, aber ich konnte es nicht. Es war zu spät. Das gute Gefühl, das mir diese Einsicht verschafft hatte, hielt einen Tag an. Während der Sitzung am nächsten Tag erkannte ich, daß sie mich zwar geliebt hatte, es mich jedoch nie hatte wissen lassen. Ich habe nach Liebe gehungert, und sie hat sie mir vorsätzlich vorenthalten.
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Es wurde von mir verlangt, eine andere Frau »Mutter« zu nennen, die von sich behauptete, mich zu lieben, sich aber nie von ihren Aufgaben in der Schule freimachte oder in der Nacht bei mir blieb, als ich mein erstes Kind verlor. Ihre tröstenden Worte in diesem Fall waren: »Stella, ich hoffe, du siehst, daß es nicht Gottes Wille war, daß du Kinder bekommst.«
Was mich angeht, so hatte ich nie eine Mutter. Mütter waren etwas, das andere Mädchen hatten. Feelings in bezug auf meine Mutter fingen am 11. März 1976 an.
An dem Abend ging ich in sehr aufgeregtem Zustand zur Gruppensitzung. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Ich warf mein Kissen in die Ecke eines der kleineren Zimmer und ließ die Ruhe und Dunkelheit auf mich wirken. Ich entwickele selten Phantasiebilder, doch an dem Abend sah ich Hände: Hunderte von ausgestreckten Händen, die etwas wollten, was ich nicht geben konnte, oder Hände, die ausholten, um mich zu schlagen. Früher habe ich - harmlose - Hände gemalt, so wie andere Leute Kreise oder Würfel kritzeln.
Ich begann sie anzuschreien, daß sie wegbleiben sollten. »Tut mir nicht weh!« Ich versuchte mich von ihnen wegzudrehen. Aus dem Meer von Händen tauchte mein jüngster Sohn auf, er streckte seine Hände aus, um mir zu helfen. Er ist mein Lieblingssohn. Er ist mir gegenüber sehr zärtlich, und wenn er mir seine Liebe zeigt, fühle ich mich sehr unbehaglich. Dann wußte ich auch warum. Seine Liebe war ein Geschenk. Seine Hände waren nicht zum Schlag erhoben oder um Hilfe bittend. Er wollte mir helfen. Er ist das einzige meiner fünf Kinder, das es für großartig hielt, daß ich in die Therapie ging. Die Meinungen der anderen rangierten zwischen uninteressierter Langeweile und Aufschreien wie: »Wie kannst du es wagen, meinen Vater zu verlassen!«
Ich fing an zu weinen: »Wally, hilf mir! Hilf mir!« Immer wieder bat ich ihn weinend, mir zu helfen, bis das Weinen zu einem Schrei wurde: »Mama!« Wally und die Hände verschwanden, und ich weinte und weinte um die hübsche junge Frau, die ich bis zu diesem Augenblick nicht gekannt hatte und von der ich nur ein Bild gesehen habe. Ich fühlte den Schmerz meines Verlustes, und mir wurde warm.
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Ich bin immer kalt gewesen. Meine Hände und Füße wurden nie warm, wenn die Temperatur nicht auf über 38 Grad stieg. Als ich Feelings über meinen Vater hatte, bekam ich eine Gänsehaut, und ich hatte das Gefühl, im kalten Wind zu stehen. Nachdem ich um meine Mama geweint hatte, lag ich ausgestreckt in dem winzigen Raum, und die Wärme taute meinen gefrorenen Körper auf. Ich erkannte, daß mit dem Tod meiner Mutter soviel Wärme mein Leben verlassen hatte, daß ich physisch kalt wurde — ein wandelnder Leichnam. In der Nacht, als ich meine Mama gefunden hatte, fing ich an zu leben, und das Blut strömte wieder durch meine Adern. Als ich hinterher in der Gruppe auf wackeligen Beinen erzählte, was passiert war, flogen mir von allen Seiten Kommentare zu, wie phantastisch ich aussähe, und das steinerne Äußere, das ich so sorgfältig aufgebaut hatte, begann zu zerbröckeln.
Seitdem war es mir möglich, nur durch ein Rufen nach Mama in ein Feeling zu kommen.
Es war dermaßen leicht, daß ich manchmal überlegte, ob ich mir nichts vormachte. Aber ich wußte, daß es nicht so war. Ich spiele nie was vor. Das Gefühl von Verlust ist zu real. Ich habe versucht, Mut zu fassen und meine Therapeutin zu bitten, mich in den Armen zu halten, aber ich habe monatelang gezögert. Sie erinnert mich an meine Mutter. Sie ist auch klein und sprüht vor Leben. Aber wenn sie sich ausruht, bekommt ihr Gesicht einen traurigen, süßen Ausdruck, wie das Bild meiner Mutter. Als mich die Verzweiflung letztlich doch in die Arme meiner Therapeutin trieb, fühlte ich mich wirklich klein, alleingelassen, bedürftig und hilflos. Ihre Umarmung führte mich durch eine Zeit wortlosen Schreckens, von dem ich erlöst werden mußte.
Ich habe engen Kontakt zu der Schwester meiner Mutter, Ruth, gehalten. Sie war Teil einer meiner wichtigsten Einsichten. Eines Abends in der Gruppensitzung, nachdem ich einige Zeit um mich geschlagen und »Tu's nicht« geschrien hatte, wandelte sich das Weinen in ein immer wiederkehrendes: »Ich will meine Mama.« Darauf kam aus der fernen Vergangenheit die freundliche Stimme von Ruth und sagte: »Deine Mama ist fort, Stella.« Ich weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.
Als ich klein war, hat Ruth tatsächlich diese Worte gesagt, und ich hatte mich schweigend abgewendet. Im Alter von einem Jahr und zehn Monaten wußte ich, daß es ein »für immer fort« war. Meine Mama würde nie wiederkommen. Der Schmerz war nicht auszuhalten. Ich habe mich zugemacht. Bis ich in die Therapie kam, habe ich danach nie mehr um mich geweint, außer einmal während des Films »Lassie«, als Lassie am Ende nach Hause gefunden hatte. Für mich gab es nie ein Zuhause.
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Meine Eltern waren das Kollektiv »sie«, die vier Neurotiker, die mein Leben beherrschten, nachdem man mich allein gelassen hatte. Ich habe meine Mama angebettelt, »sie« davon abzuhalten, mich zu töten, so wie »sie« sie umgebracht hatten. Sie haben meinem Vater gestattet, sie körperlich zu mißbrauchen und sie zu einer Abtreibung zu zwingen, die sie nicht wollte; danach haben sie ihm ein Zuhause gegeben, als er vor dem Gesetz geflohen war, anstatt ihn auszuliefern. Sie haben mich umgebracht, indem sie mir Liebe vorenthielten und mich wie eine Unperson behandelten.
Ich habe geweint, weil beide Familien sich so angestrengt haben, meine Mutter aus meinem Leben auszulöschen. Ich habe fast den ganzen Nachmittag auf dem Friedhof in Linsborg in Kansas geweint, als ich auf einem ornamentverzierten Grabstein eines Olson saß und in einem Meer von Olson-Grabmälern auf die freie Stelle blickte, wo Juanita Melba MacDonnell hätte sein sollen. Das Rathaus von Tulsa County verfügt über bessere Aufzeichnungen der Existenz meiner Mutter als ihre eigene Familie.
Ich habe sie angeweint: »Du warst so schön, bevor du gestorben bist.« Tod durch Bauchfellentzündung ist nie schön. Ich habe geweint: »Ich war schön, bevor ich gestorben bin.« Ich war ein hübsches Baby, aber als ich im Primal Institute ankam, sah mein Gesicht so aus, als hätte man es hastig aus nicht passenden Teilen anderer Gesichter zusammengesetzt: zu einer dauernden Grimasse verzerrt. Seit der Nacht, in der ich die ersten Feelings über meine Mutter hatte, sagt man mir, ich würde hübsch.
Ich erwarte nicht, meine Mutter während eines Feelings zu sehen. Die einzigen greifbaren Sachen, die ich von ihr besitze, sind drei Schnappschüsse, ein Porträt, ein Kochbuch, eine billige Puter-Bratenplatte, ein Schuh der Größe 35½ und ein Brief, der mich zum Weinen bringt, weil darin steht: »... das Baby ist krank, deshalb habe ich es auf dem Arm, während ich dies schreibe.«
Sachen von oder auf Friedhöfen haben keine große Bedeutung mehr. Weil ich eine schöne, junge Frau kenne, die einmal mit mir auf dem Arm im Zimmer herumgetanzt ist und die mich so geliebt hat, wie ich war. Ich nenne sie Mama.
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