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4  Das geschleuste Gehirn

 

Janov 1980

 

 

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Die Nervenzellen und ihre Verknüpfungspunkte erleichtern und hemmen die Informations­übermittlung im Gehirn. Dies ist ein elektro­chemischer Prozeß. Die Informations­hemmung wird Schleusung genannt, eine normale Funktion des Gehirns. Das Schleusen­system ist im ganzen Gehirn tätig, doch konzentriert es sich auf Schlüsselzonen, welche die Urschmerz­reaktionen gestalten.

Es ist das Schleusensystem, das die drei Bewußtseinsebenen auseinanderhält. Im Falle der Neurose arbeitet das Schleusensystem ununterbrochen, um uns unbewußt zu halten. Die oberste Bewußtseinsebene gibt uns normalerweise Bedeutung, Ursachen und das Ausmaß des Urschmerzes an. Nach der Schmerzschleusung sind wir uns der Bedeutung der Ereignisse nicht mehr bewußt.

Wenn zum Beispiel die dritte Ebene operativ vom Rest des Gehirns abgetrennt wird — wie bei der Lobotomie —, hat der Mensch eine verminderte Einsicht in Schmerz und ist sich des Leidens relativ unbewußt. Er weiß, daß er unter Urschmerzen leidet, kann aber nicht sagen, wie sehr und kümmert sich sowieso nicht darum. Sie haben ihre Bedeutung verloren.

Das Schleusensystem ist der Agent der Verdrängung und kontrolliert den Input in das ganze Nervensystem. Deshalb kann Information über Urschmerz auf der maßgebenden Ebene der Nervenachse blockiert werden. Haben Schleusung und Verdrängung erst einmal eingesetzt, sind die neuralen Kreisläufe funktionell abgetrennt und scheinen ein unabhängiges Leben zu führen. Gedanken, die sich von Feelings gelöst haben, besitzen eine eigene Lebensfähigkeit. Die Energie der Feelings bewegt sich schleifenförmig auf den unteren Ebenen des Gehirns. Diese Energie wird auf den Körper verteilt, als hätte sie nichts mit ihrem kognitiven Gegenstück zu tun. Der Mensch mag sich angespannt fühlen, hat aber keine Vorstellung, warum das so ist.

Schleusung arbeitet nach dem Überlastungsprinzip. Mehr Urschmerz, als der Körper integrieren kann, reizt das Schleusungs­system zum Handeln. Dieses Prinzip läßt sich mit dem Elektroreiz illustrieren.

Elektrische Implantate im Rückenmark können, wenn sie aktiviert werden, höchst intensive körperliche (Ur-) Schmerzen ausschalten. Kurz gesagt, wenn der Organismus von elektrischen Impulsen überflutet (überlastet) wird, setzt das Schleusungssystem ein. Es scheint eine optimale Ebene zu geben, auf der Nervenzellen reagieren, und eine kritische Ebene darunter; wird sie überschritten, können die Zellen nicht mehr reagieren.

Die Schleusung wirkt in zwei Richtungen, sie hält Informationen der unteren Ebene von den höheren Ebenen zurück und verhindert, daß Ideen und Konzepte unsere emotionale Ebene beeinflussen. Wenn wir sagen, daß jemand den Kontakt mit der Realität verloren hat, sollten wir in erster Linie begreifen, daß Schleusung eine Bewußtseinsebene von einer anderen losgelöst hat. Jemand verliert den Kontakt mit der äußeren Welt erst, nachdem er den zur inneren verloren hat.

Wenn wir sehen, wie die Schleusung im alltäglichen Leben funktioniert, können wir sie besser verstehen. Zum Beispiel hat jeder von uns Vorsätze (Ich höre auf, soviel zu essen, zu rauchen, zu trinken ...), die er nie ausführt. Vorsätze auf der dritten Ebene scheinen dort zu bleiben und unser emotionales Selbst nicht zu beeinflussen. Wir essen weiter zuviel, egal was wir uns vornehmen. Mit anderen Worten, die dritte Ebene hat Schwierigkeiten, mit der zweiten und ersten zu kommunizieren. Es scheint eine Art Barriere zu geben, die Entscheidungen des Intellekts daran hindert, reale Auswirkungen zu haben.

Unterhalb der Ebene unmittelbarer Bewußtheit gibt es eine Macht, die Willenskraft irrelevant und unwirksam macht. Es ist eine Primärkraft. Es ist möglich, diese Kraft genau zu erkennen und sie dauerhaft zu beseitigen; nicht indem man von oben hinunter­langt, sondern indem man die Kraft von den unteren Ebenen aufsteigen läßt. Auf diese Weise entwickelt sich das Gehirn, und so setzt sich auch Schmerz fest. Es ist ein logischer Verlauf, daß Feelings von dort aus, wo sie sich aufgebaut haben, ihren Weg ins Bewußtsein der oberen Ebene nehmen.

Ein weiteres Beispiel, das vielen von uns vertraut ist, sind die Einsichten, zu denen man in der Psychoanalyse kommt. Ungeachtet dessen, wieviel wir über unser Verhalten wissen und von ihm verstehen, ganz gleich, wie sehr die Quantität der Einsichten sich anhäuft, unser Verhalten ist noch immer das gleiche, oder fast das gleiche. Wir verstehen es besser, wir akzeptieren es und finden uns damit ab, aber es bleibt bestehen.

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Der Angriff auf das Begriffsvermögen der dritten Ebene verstärkt die intellektuellen Prozesse, erhöht die Schleusung und stellt mehr Un-Bewußtsein her, nicht weniger. In diesem Sinne verstärkt intellektuelles Erkenntnis­vermögen allein die Verdrängung und die Neurose. Deshalb vertiefen Analyse und Einsicht die Krankheit im Namen des Fortschritts.

Für den Vorgang der Schleusung gibt es viele anschauliche Beispiele. Beim Fußball stehen Spieler oft die ganze Spielzeit mit Knochenbrüchen durch, ohne sich der Schmerzen bewußt zu werden. Erst hinterher, wenn ihre Aufmerksamkeit nicht mehr von der Intensität des Spielverlaufs beansprucht wird, leiden sie. Das gleiche gilt auch für Schockerlebnisse wie etwa bei einem Autounfall. Es kann vorkommen, daß wir die Verletzungsschmerzen für einige Zeit nicht wahrnehmen.

Sich zu betrinken ist ein weiteres Beispiel. Nach einem »Zug durch die Gemeinde« kann es vorkommen, daß der Mensch keine Erinnerung an sein Tun und die Beweggründe hat. Seine dritte Bewußtseinsebene funktionierte nicht mehr. Er handelte auf einer tieferen Ebene, war erregt, lachte, war zornig, streitsüchtig oder sexuell erregt — alles Sachen, von denen ihn die dritte Ebene gewöhnlich zurückhält.

Uns allen ist es vertraut, daß jemand im Schlaf redet oder umherwandelt. Es handelt sich um ein komplexes Verhalten mit ziemlich komplexen Funktionen, die ohne Hilfe der aktiven obersten Bewußtseinsebene ausgeführt werden. Es gibt Leute, die einen Anfall hatten und die noch Auto fahren konnten, die aber dann keine Vorstellung haben, wie sie an einen bestimmten Ort gekommen sind. Sie waren nicht durchgängig »bewußtlos«, sie handelten auf einer anderen Bewußtseinsebene.

Das Schleusungssystem gestattet es uns, auf eine Art zu fühlen und auf eine andere Art zu handeln. Es hilft uns, eine zu belastende Kindheit zu vergessen, und hält uns davon zurück, uns dieser frühen Erlebnisse zu erinnern. Wir können uns an harmlose Daten und Tatsachen erinnern, doch wenn es um die Erinnerung emotionaler Szenen aus der Kindheit geht, geschieht gar nichts. Das liegt daran, daß wir zuerst unser Leiden schleusen oder verdrängen und daß assoziierte Erinnerungen, die das Leiden wieder auslösen könnten, mitgezogen werden. Nach und nach werden ganze Szenen, Orte, Tage oder Monate vollständig begraben. Die Verdrängung des Leidens ist ein Schlüsselkonzept.

Die Beseitigung der Blockierung setzt eine beträchtliche Anzahl von Erinnerungen und Assoziationen frei.

Das Aufheben der unteren, ursprünglicheren Schleusen kann für die Wiederkehr von Druckstellen bei Patienten verantwortlich sein, welche die Agonie des Geschlagenwerdens bei der Geburt wiedererleben. Zugang zum Leiden bringt alle Assoziationen, mentale und physiologische, die ursprünglich weggeschleust wurden, wieder hoch. Die Mechanismen, mit denen das Schleusungs­system betrieben wird, arbeiten mit den Endorphinen und körpereigenen Morphinsubstanzen. Die Schleusen zu öffnen ist buchstäblich eine körperliche Entziehungskur. Die Schleusen sind unten, und das Leiden strömt mit all seinen Begleit­erscheinungen heraus.

Patienten, die sich schließlich der sehr frühen Urschmerzen bewußt werden, weisen radikale Veränderungen einer Vielzahl physiologischer Funktionen auf. Das bedeutet, daß Un-Bewußtsein nicht nur die Abwesenheit von Bewußtsein ist, sondern ein sehr aktiver Prozeß; das Gehirn verrichtet Schwerarbeit, um sich unbewußt zu halten, und das Quantum an verrichteter Arbeit deutet das Ausmaß von Unbewußtsein an. Wenn das Unbewußte bewußt wird, fällt dieser Teil der Arbeit weg.

Unbewußtsein ist keine verwässerte Form von Bewußtsein. Schmerzhafte frühe Ereignisse waren in keiner Weise jemals bewußt. Ihre Verarbeitung ist unterbewußt, auch wenn sie Veranlassung zu Vorstellungen geben können, die ins Bewußtsein übergehen. Diese Vorstellungen und Auffassungen bilden einen Teil dessen, was als »falsches Bewußtsein« bekannt ist. Schleusen existieren, weil die Natur in ihrer Weisheit darauf achtet, daß wir nicht zuviel leiden. Man darf da nicht hineinpfuschen. Man muß über ein gründliches Wissen ihrer Mechanismen verfügen, bevor man in ihre Arbeit eingreift.

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5. Die Einprägung von Urschmerz   

 

 

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Um zu erkennen, wie traumatische Erfahrungen das Gehirn angreifen können, müssen wir erst verstehen, wie Urschmerz sich dem Gehirn einprägt, sobald das Schleusen- oder Filtersystem einmal seine Arbeit getan hat. Eine Untersuchung von Morpurgo und Spinelli hilft uns, diesen Einprägungsprozeß zu verdeutlichen.1) Sie zeigen, daß als Folge einer schmerzhaften Erfahrung das Gehirn immer mehr in die Beschäftigung mit Schmerz verwickelt wird.

Der anatomische Bereich der Einprägung wird mit zunehmendem Urschmerz größer. »Neue Kreisläufe werden durch die fortlaufende schmerzhafte Erfahrung eingraviert, so daß immer mehr Teile der Neuromaschinerie darauf vorbereitet sind, Reize, die von einem normalen Subjekt gar nicht bemerkt würden, als schmerzhaft zu erkennen.« Einmal an die Schmerzen gebunden, lassen sich Neuronen nicht so leicht ändern.

Morpurgo und Spinelli sind der Ansicht, daß die Charakteristika einzelner Neuronen sehr von der Natur ihrer frühen Erfahrungen abhängig sind. Mit anderen Worten, die Art, in der sich Neuronen verhalten, hängt davon ab, was im frühen Leben mit ihnen geschieht.

Wenn der Urschmerz einmal eingeprägt ist, wird das Gehirn zum großen Teil zu einer schmerz­verarbeit­enden Maschine, denn es hat sich nicht nur eine Erfahrung eingeprägt, sondern die Einprägung ist physisch größer, wenn das Erlebnis schmerzhaft ist, als wenn es neutral ist. Mit der Zusammensetzung von Urschmerz wird das Gehirn immer mehr umgewandelt, so daß weniger übrigbleibt, um die wirkliche Arbeit des Wahrnehmens, Denkens und Problemlösens zu erledigen.

Die Tatsache, daß der Hirnbereich, der mit Urschmerz beschäftigt ist, viel größer ist als die Einprägungen harmloser Erfahrungen, hat mindestens zwei Implikationen. Es bedeutet, daß die Reaktionsschwelle auf Urschmerz niedriger ist. Es bedeutet auch, daß etwas normalerweise Triviales als schmerzhaft wahrge­nommen wird.

1) Morpurgo und Spinelli, <Plastidty of Pain Pereeption>, in Brain Theory Newsletter, Bd.2, Nr.1, Oktober 1976, S.15


Neurose gestattet dem System, sich bedrohlichen Schmerzebenen anzupassen, doch als eine Folge davon ist das Gehirn hinterher weniger anpassungsfähig für normale, nicht-bedrohliche Reize. Es entsteht ein kleineres Reaktionsrepertoire. Man wird unbeweglich hinsichtlich der Art, wie man mit Situationen umgeht, und deshalb weniger anpassungsfähig an Veränderungen. Die Nervenzellen, die dafür bestimmt waren, sich mit dem Leben zu beschäftigen, verarbeiten jetzt Urschmerz. Obwohl die ursprüngliche Anpassung zum Überleben notwendig war, macht andauernde Verdrängung das Gehirn für das Überleben weniger geeignet. Um die Neurose zu verändern, müssen wir uns mit den Einprägungen beschäftigen, die das Gehirn physisch verändert haben.

Die Arbeit von Morpurgo und Spinelli zeigt, daß es im Gehirn eine Basis dafür gibt, Ereignisse als Folge eingeprägten Urschmerzes falsch zu interpretieren. Ihre Arbeit bringt die Schleusen-Theorie einen Schritt weiter, weil »die Nervenschaltungen, die Schmerz wahrnehmen, durch Erfahrungen der Vergangenheit selbst strukturiert sind, sowohl qualitativ als auch quantitativ«.2 Urschmerz stellt ein eigenes Netzwerk her, um noch mehr Urschmerz zu verarbeiten. Da immer häufiger Alltagserlebnisse als schmerzhaft wahrgenommen werden, kommt es dazu, daß die in das Netzwerk einbezogenen Bereiche unser Leben beherrschen.3

E. Roy John vom New York Medical College, ein bedeutender Forscher auf dem Gebiet der Neurophysiologie, hat einen Essay mit dem Titel »Das Modell des Bewußtseins«4 geschrieben, in dem er das Bewußtsein als Ergebnis äußerer Ereignisse definiert, die sich mit Erinnerungen der Vergangenheit verbinden und zur Wahrnehmung gelangen. Das ist bedeutsam für die Primär­therapie. Wie auch immer, John gelangte zu dieser Folgerung durch seine Forschung, bei der er die Tracer-Technik verwendete. Bei dieser Technik wird einem Tier in einer charakteristischen Reihenfolge ein Reiz verabreicht. Elektrische Rhythmen erscheinen dann der Frequenz der Reize entsprechend in verschiedenen Gehirnbereichen.

2  Alle Zitate S. 15, op. cit.
3  Ein Teil des Gesamtaufbaus und der Entwicklung des massiven menschlichen Kortex die Geschichte hindurch mag etwas mit der Notwendigkeit, Schmerz zu verarbeiten, zu tun gehabt haben.
4  In G. Schwartz und D. Shapiro, Consciousness und Self Regulation, Bd. I, Plenum Press, New York 1976.

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Diese Reaktionen werden »labeled responses« genannt. In ihnen äußert sich die Verarbeitung der herein­kommenden Information. Nachdem ein Tier durch diesen Reiz konditioniert worden ist, wird es einer ähnlichen Situation ausgesetzt, diesmal jedoch ohne den üblichen Reiz. Das Gehirn des Tieres zeigt auch beim Wegfallen des Reizes das charakteristische Bild. Es verhält sich, »als ob« der Reiz verabreicht worden wäre. Das Gehirn stellt ein Faksimile seiner Geschichte her. Allem Anschein nach werden früher gespeicherte elektrische Muster — und wahrscheinlich auch biochemische Muster — freigesetzt, um ein spezifisches Verhalten durchzusetzen. Verhalten wird durch Erinnerung exakt so durchgesetzt, als ob der ursprüngliche Reiz vorläge.

Die alte Erinnerung ist dominant. Genau dies ist auch bei der Neurose der Fall. Input im frühen Leben kann bestimmte Muster erzeugen, die im späteren Leben reaktiviert werden, wenn ein Reiz auftritt, der an den ursprünglichen erinnert. Der Mensch reagiert dann auf seine Vergangenheit anstatt auf seine Gegenwart.

John hat entdeckt, daß es die empfundene Bedeutung eines Reizes ist, die ein spezifisches Muster elektrischer Aktivität hervorruft. Dieses Detail läßt sich mit den Untersuchungsergebnissen von Morpurgo und Spinelli über die sich erweiternde Einprägung von Schmerz verbinden, und zwar insofern, als die Bedeutung physische Schmerzen zu dem macht, was sie sind, und daß sich ferner die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß gewöhnliche Reize so empfunden werden, als käme ihnen eine Bedeutung zu, die mit Urschmerz verknüpft ist.

Wenn sich Urschmerz bildet, wird ein großer Teil des Gehirns und somit auch des Körpers verändert und dahingehend umgewandelt, daß es sich mit Abwehrmanövern und lebensrettenden Operationen mehr beschäftigt als mit dem Prozeß des Lebens. Ein Netzwerk aus Urschmerz durchdringt auf mörderische Weise die Erinnerungen der Säuglingszeit. Das Endresultat können wir bei der psychogenen Epilepsie sehen, wo ein Händeklatschen oder ein Lichtstrahl genügt, um einen Anfall auszulösen. Die neutralsten Reize werden in den Urschmerzapparat hineingezogen und laufen sofort auf ein Symptom hinaus. Die rezeptiv-reaktive Oberfläche des Gehirns ist größer, als sie sein sollte. Diese größere Oberfläche ist fast buchstäblich das Gebiet, das die Neurose repräsentiert.

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All die verschiedenen Anpassungen, die der Körper die Geschichte hindurch vollzogen hat, bleiben bestehen. Der Grund, warum die Urschmerzeinprägung nur so schwer zu beseitigen ist, liegt darin, daß es sich dabei um die Erinnerung einer Anpassung handelt. Der Körper gibt seine lebens­rettenden Erinnerungen nur sehr widerwillig auf.

Vielleicht ist dies ein guter Zeitpunkt zu erklären, wie die Einprägungen im Gehirn verändert werden. Wenn sich sehr früh im Leben ein Trauma ereignet, ändern sich Zellen, Biochemie und neuroelektrische Systeme. So werden zum Beispiel Zellen, die genetisch dazu programmiert sind, Feelings zu vermitteln, so verändert, daß sie zu Mittlern der Verdrängung werden. Neue, umgeleitete Nervenbahnen werden nutzbar gemacht, um die Schmerzbotschaft von den überlasteten Zentren abzulenken, und die Zellen verändern sich in ihrer Durchlässigkeit und Reaktivität. Durch diese Art von Prozessen wird das Erinnerungsvermögen festgelegt. Das genetische Programm ist durcheinandergeraten. Unter dem heftigen Angriff der Urschmerzen kann das DNS-Molekül, das den genetischen Kode übermittelt, zu einer neuen Schablone werden, womit die Zelle einen anderen Kode verwendet.

Ein Beispiel für die Änderung des genetischen Kodes finden wir in einer neueren Untersuchung über weibliche Ratten.5 Ihnen wurden Substanzen verabreicht, die den Serotoninspiegel (ein schmerz­block­ierend­er Neurotransmitter) senkten. Das hatte einen vorzeitigen Menopause-Zustand zur Folge. Das normale genetische Programm dieser Tiere wurde durch eine Neuordnung der Neurotransmitter im Gehirn verkürzt. Dies deutet auch auf eine mögliche Beziehung von Urschmerz zu der Veränderung der menstruellen Funktion hin.

Wenn in der Primärtherapie der Urschmerz aus dem Organismus beseitigt wird, kommt es zu einer Normalisierung der oben erwähnten Prozesse.

Das Interesse muß sich auf die Gehirneinprägung konzentrieren, die das Ungleichgewicht aufrechterhält. Löst man ihre Kraft auf, verändert sich die innere Umgebung, so daß sich das Gehirn korrigieren kann. Wenn sich das Gleichgewicht herstellt, können wir dramatische Veränderungen der Körpergröße, des Wachstums von Füßen und Händen und anderer Muskulatur, wie etwa der des Kiefers, der Brust- und der Schultern beobachten.

Science, Bd. 206, 16. November 1979.  Rezension von Jean Marx.

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Diese körperlichen Veränderungen sind Hinweise auf die Änderung der Transkription des genetischen Kodes, der sich jetzt in Richtung seiner ursprünglichen Bestimmung entwickeln kann. Rückblickend kann man deshalb sagen, daß die Körpergröße, der Brustumfang und die Größe der Glieder ein Hinweis auf die Neurose sein können. Die Veränderungen, die wir bei unseren Patienten sehen, treten an der Stelle auf, an der die ursprüngliche Entwicklungs­sequenz blockiert war.

Anhaltspunkte dafür, daß der genetische Kode einer Spezies unterdrückt werden kann, lieferten kürzlich Wissenschaftler der University of Connecticut. Sie verbanden embryonales Mundgewebe von Mäusen und Hühnern — die ja zahnlos sind — miteinander. Die verbundenen Gewebe wurden einige Wochen kultiviert. Nach Ablauf der Zeit entwickelte die Kultur voll ausgebildete Zähne »mit einer Wurzelbildung in angemessener Beziehung zur Krone«. Die entstandenen Zähne waren reptilienartig, was darauf hindeutet, daß das genetische Muster zum Aufbau von Zähnen während der Evolution der Vögel nie verlorengegangen, sondern »nur unterdrückt« worden ist.

Es wird angenommen, daß in einer bestimmten Umwelt, in der Zähne unbedingt notwendig gewesen wären, diese im Verlauf der Evolution von Vögeln nie verschwunden wären. Die Fähigkeit des Hühnergewebes, Zähne hervorzubringen, könnte darauf hinweisen, daß Zahnlosigkeit von Vögeln nicht das Resultat einer totalen Veränderung des genetischen Kodes, sondern nur eine Beeinträchtigung der für die Bildung von Zähnen zuständigen genetischen Formel ist. Kurz, Vögel, die eine evolutionäre Weiter­entwicklung der Reptilien sind, behielten den genetischen Plan für Zähne und wahrscheinlich auch für andere frühere evolutionäre Strukturen bei. Das Gehirn des Vogels und das Gehirn des Reptils sind fast identisch; man könnte Vögel als »fliegende Echsen« betrachten. Daraus folgt, daß Spezies im Verlauf der Evolution nie wirklich etwas verlieren. Es hat den Anschein, daß wir Menschen die ganze vorhergehende Geschichte aller Gattungen in uns tragen.

Schon seit langer Zeit wissen wir, daß die menschliche Entwicklung parallel zu frühen Lebensformen verläuft; die fötalen Kiemen zeugen davon. Sogar die Art, wie wir geboren werden, zeigt den Einfluß früherer Lebensformen. Wir erkennen es an unseren S-förmigen, reptilienartigen Bewegungen.

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Die Tatsache, daß der genetische Kode aller Gattungen entlang unseres Entwicklungspfades in uns weiterbesteht, diese Tatsache bedeutet, daß wir unsere eigene archäologische Entdeckung sind. Es könnte fruchtbarer sein, in unserem Nervensystem nach unseren Ursprüngen zu suchen, als Ausgrabungen im Iran und in Afrika zu veranstalten. Die Ontogenese rekapituliert nicht nur die Phylogenese, sie ist allzeit in ihr enthalten.

Der Darwinsche Evolutionsbegriff schreibt dem Zufall die Entstehung einer neuen Gattung zu. Es kann gut sein, daß in der Evolution ein weiterer Faktor wirksam ist, der für die Entwicklung neuer Strukturen und auch neuer Gattungen verantwortlich ist. Dieser Faktor ist das dialektische Wechselspiel zwischen Organismus und Umwelt, das Strukturen hervorzubringen scheint, die es mit der Umwelt aufnehmen können, während veraltete abgeschafft werden.

Die Psychotherapie hat sich bis jetzt nur den neuen evolutionären Systemen gewidmet und die alten Systeme, deren Gefangene wir sind, vernachlässigt. Erkenntnisse über die Phylogenese gewinnen wir nicht über das Studium des Individuums und seiner persönlichen Entwicklung, mehr über die Individualpathologie erfahren wir durch das Studium der phylogenetischen Evolution. Der Mensch selbst ist das biologische Abbild dieser Evolution.

Folge eingeprägter unzugänglicher Erinnerungen ist der Umstand, daß sich die Persönlichkeitsentwicklung um die Einprägung herum formieren muß, statt mit ihr zusammenzuarbeiten. Ein sorgfältig ausgearbeiteter Persönlichkeitsüberbau wird rund um die blockierten Feelings errichtet. Diese Feelings werden nicht für den Reifungsprozeß nutzbar gemacht. Zu großen Teilen des Gehirns ist der »Zutritt verboten«, und das Bewußtsein muß sich ohne die Hilfe all ihrer potentiellen Fähigkeiten abmühen. Die versteckten Erinnerungen stehen dem Menschen nicht mehr als Orientierungsrahmen zur Verfügung.

Sehen wir uns ein Beispiel an. Wenn man als Erwachsener keine Hilfe annehmen kann, weil der Urschmerz, der dadurch entstand, daß einem nie geholfen worden ist, sehr groß ist, dann ist die Antwort auf ein hilfreiches Anerbieten womöglich ein sofortiges »Das kann ich allein« oder » Glaubst du, ich kann mir nicht selbst helfen?«, »Ich bin doch kein Dummkopf« sein. Die Erwiderungen können unterschiedlich sein, doch sie sind unterschiedslos neurotisch, weil der frühe Urschmerz so ausgeprägt ist, daß ihn sogar alltägliche und einfache Statements freisetzen können.

Diese Befunde machen uns im einzelnen deutlich, wie das Gehirn die Persönlichkeit formt, wie wir das werden, was wir sind, und darüber hinaus wie wir das, was wir geworden sind, ändern können.

Das spät erworbene Gehirn, der Kortex, muß unter der Belagerung von Urschmerz die Abwehr gegen die Erfahrung stützen und kann sie nicht sorgfältig durcharbeiten. Er verändert die Erfahrungsbedeutung, und diese Veränderung steht im Einklang mit dem eingeprägten Urschmerz. Deshalb kann ein Neurotiker einer absolut neutralen Unterhaltung seltsame Bedeutungen unterschieben, und infolgedessen kann sein Verhalten und seine Reaktion den Bezug zur Realität verlieren. Er reagiert auf ein Ereignis der Vergangen­heit, dessen er sich vollkommen unbewußt ist.

Wenn der Kortex immer weniger von Urschmerz bedrängt wird, verringert sich die Abwehr, der Geist wird klarer, die Wahr­nehmung schärfer, und man sieht die Welt, wie sie ist. Immer weniger Dinge werden als bedrohlich angesehen, und der Mensch wird seiner Welt gegenüber offener. »Offen« zu sein ist ein biologischer Zustand, keine Einstellung.

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6.   Der  Bedeutungsverlust  

 

 

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Wenn wir von unseren Feelings abgetrennt werden, verlieren wir auch die Bedeutung unserer Erfahrungen. Da die Bedeutsam­keit unserer frühen Erfahrungen sie so niederdrückend macht, wird Verdrängung eingesetzt, um sie bedeutungslos zu machen. Menschen, die von Urschmerz überwältigt werden, erkennen nicht, wovor sie stehen, und verlieren das Gefühl dafür, in was für einer Lage sie sich befinden. Wenn die Verdrängung zunimmt, kommt es zu einem noch größeren Verlust an Bedeutsamkeit, bis man ein bedeutungsloses Leben führt.

Eine der Möglichkeiten, wie Erlebnisse ihrer Bedeutung entledigt werden, besteht in der Stillegung jener Bereiche des Gehirns, die sich mit Bedeutsamkeit befassen. Im Gehirn gibt es primäre Zentren für unsere sinnlichen Wahrnehmungen wie zum Beispiel Riechen und Berühren. Diese Empfindungen werden sorgfältig ausgeformt und bekommen durch eine enge Verbindung mit Bereichen, die sekundär-assoziativer Kortex genannt werden, eine Bedeutung. 

Ein Großteil dieser sekundären Nervenzellen ist zum Zeitpunkt der Geburt nicht gebunden, doch wenn sich Erfahrungen einprägen, werden sie von einer neuen Textur umgeben, die Szenen, Erinnerungen, Kontext und ein Gefühl für die Vorgänge bereitstellt. Bedeutung wird überwiegend in den temporal-parietalen Regionen aufgebaut, die auch vom größten Teil des sekundär-assoziativen Kortex umgeben sind. In diesem Bereich erlangen Ereignisse der Vergangenheit ihre Bedeutung —: »Sie lieben mich nicht. Ich kann nichts machen, damit sie mich wollen.«

Normalerweise wird Information in der Hierarchie des Nervensystems, der Nervenachse, über stielartige, vertikale Einheiten nach oben befördert. Diese Information erreicht den Kortex und breitet sich über die sekundär-assoziativen Bereiche aus. Als Reaktion auf den Urschmerz und seinen massiven elektrischen Ansturm werden jedoch bestimmte Zellen stillgelegt, weil die Bedeutung des Ereignisses lebensbedrohlich ist. Diese Stillegung hat eine Schutz­funktion und ist eine der vielen Möglichkeiten, wie wir uns von überlastenden primären Empfindungen loslösen können.


Traumata sind unumgänglich elektrischer Natur, und das Gehirn kann nur bis zu einem gewissen Grad mit elektrischen Reizen umgehen. Wenn ein Ereignis das Gehirn überfordert, müssen bestimmte Zellen stillgelegt werden. Um die Bedeutung früher Ereignisse wiederzugewinnen — und damit auch ein sinnvolles Leben —, muß man das alte primäre Leiden wieder einbeziehen, die vorher stillgelegten Neuronen reaktivieren und das Gehirn wieder erwecken. Die wiedereinbezogene Agonie muß ein spezifisches Spannungsniveau haben. Ein Zuviel hat eine Überlastung und Abtrennung zur Folge, möglicherweise verursacht es Halluzinationen oder körperliche Symptome.

Die Agonie ist von Bedeutung. Deshalb ist es wichtig, daß die vom Limbischen Speicher freigelassene Agonie ein optimales Maß erreicht, so daß der Kortex sie integrieren und etwas mit ihr anfangen kann. Ein Primal (das aktive Wiedererleben einer spezifischen alten Szene), das unter korrekter Supervision erlebt wird, scheint genau soviel elektrische Energie freizusetzen, daß Aspekte des sekundär-assoziativen Kortex eröffnet werden und sich spezifische Bedeutungen unbewußter Ereignisse ergeben.

Um die Energie eines verdrängten Erlebnisses an den relevanten assoziierten Kortex zu binden — und dadurch ein Primal zu erzeugen —, muß die freigesetzte Stromstärke in höchstem Maße selektiv und qualitativ sein, und zwar in dem Sinne, daß die Entladung dem Feeling entspricht. Alles in allem wird die aktivierte Energiemenge am Ende der des ursprünglichen Traumas entsprechen. Wenn das Trauma gigantisch war, dann wird es vieler Primais mit optimaler Intensität bedürfen, um ein einziges Ereignis oder Feeling und damit auch das ihm entspringende Verhalten oder die Symptome aufzulösen.

Hatte das Trauma eine relativ geringe Wertigkeit, werden weniger Primals notwendig sein, um den sekundären Kortex wieder einzubinden.

Daher erfordert ein Primal sowohl eine spezifische Qualität als auch eine optimale Quantität der Aktivierung. Diese beiden Kriterien sind für die Heilung und das Wachstum von wesentlicher Bedeutung. Diese Art der optimalen Aktivierung gestattet ein neues Wachstum der Dendriten und eine Wiederaufnahme der Reifung von früher stillgelegten Teilen des Gehirns.1 Die vertikalen Funktionseinheiten werden durch alle drei Ebenen menschlicher Funktionen hindurch physiologisch vereinigt.

1)  Dendriten sind zweigartige Gebilde, die Impulse an die Nervenzellen leiten. 

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Man kann eine direkte Beziehung zwischen der Stillegung oder Abkopplung und schmerzhaften Lebens­erfahrungen erkennen. James Prescott vom National Institute of Mental Health untersuchte Heimkinder, die in den ersten Lebensmonaten und -jahren unter großer Deprivation von körperlicher und emotionaler Wärme litten.2 Er glaubt, daß das hohe Maß an Deprivation strukturelle Schäden verursacht — geringeres Dendriten­wachstum und damit weniger interzellularen Kontakt. Diese Schäden aufgrund massiver Überlastung legen mehr jener Bereiche, die ich oben erörtert habe, still, und zwar so viele, daß sich die Gehirnstruktur ändert. Mit anderen Worten, der Begriff »Gehirnschaden« gewinnt eine neue Bedeutung. Psychische Ereignisse können eine Art Gehirnschaden hervorbringen, der nicht weniger physisch oder dauerhafter ist als der durch einen Schlag auf den Kopf verursachte.

Wenn umgekehrt die Menge des frühen Inputs optimal ist, scheint sich ein stärkeres Neuronenwachstum einzustellen. Eine Reihe von Untersuchungen, über die in der Zeitschrift <Science> 1977 berichtet wird, kommt zu dem Ergebnis, daß Ratten, die in einer gut ausgestatteten und anregenden Umgebung aufwachsen, mehr Gehirn entwickeln — einen schwereren Kortex und eine größere Anzahl von Dendritenverbindungen —, mit dem sie sich in der Welt besser behaupten können. Die Autoren R. Cummins und seine Mitarbeiter der Stanford University Medical School stellten die Hypothese auf, daß es in Tiergehirnen Neuronengruppen gibt, die sich nur bei adäquater sensorischer Stimulation voll entwickeln. Wenn man ein Tier isoliert — oder es Schmerzen aussetzt —, wird die Neuronen­entwicklung verzögert.

Was den Urschmerz anbelangt, hat der Kortex eine doppelte Funktion. Er macht es uns möglich, die Bedeutung unserer Erfahrungen zu verstehen, und er trägt dazu bei, die Informationsmenge, die wir verarbeiten, in Grenzen zu halten. Er hemmt übermäßige Information. Daher ist die Abkoppelung und Stillegung für unser Überleben genauso wichtig wie die spätere Wieder­verbindung. Ein Versagen der Abkoppelung kann zum frühen Krippentod oder zu epileptischen Anfällen führen, bei denen das Gehirn stark überlastet ist.

Wer vom ersten Lebenstag an physischer Wärme beraubt ist, der wird überlastet, und das wiederum belastet den Hemmungs­kortex. Bei nachlassender Hemmung greifen alle Primärreize sofort über; die Folgen sind Zerstreutheit, Unaufmerk­samkeit und schlechtes Konzentrations­vermögen.

Der sekundär-assoziative Kortex ist nur ein Bestandteil des Abkoppelungsprozesses. Es gibt andere Möglichkeiten, mit denen sich das Gehirn abstellt. Doch ungeachtet der Mechanismen, eines ist sicher: Nach dem Verlust von Feelings kann man kein sinnvolles Leben mehr führen.

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2) James Prescott, <Touching>, in <Intellectual Digest>, März 1974. 

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7.  Die Pfade der Verknüpfung  

 

 

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Verknüpfung — das Bewußtmachen einer vorher ausgekoppelten Erfahrung — setzt eine spezifische Menge gefangener Energie frei, die mit einem eingeprägten Trauma assoziiert ist. Die Verknüpfung ist für den Heilungsprozeß entscheidend, weil sie bedeutet, daß umgeleitete Impulse eine endgültige Verbindung zu den korrekten und ursprünglichen Bahnen hergestellt haben. Verknüpfung heißt, daß neue Situationen keine gespeicherten Explosionen mehr auslösen können, da es nun weniger versteckte elektrische Stürme gibt. Sie bedeutet, daß es keine unterschwellige Energie mehr gibt, die einen dazu bringt, außer Kontrolle zu geraten, irrational zu reagieren. Energie, die zu Ruhelosigkeit, Muskelverspannungen, Magensekretionen, gewalttätigem oder zwanghaftem Verhalten führen kann, ist endlich korrekt verbunden und aufgelöst worden.

Die Verbindung gespeicherter Erinnerungen mit Erkenntnis auf höherer Ebene bedeutet, daß ein Mensch schließlich auf physio­logische Weise die Verbindung zu sich selbst gefunden hat. Der Organismus, der sehr damit beschäftigt war, die Abkoppelung aufrechtzuerhalten, kann sich endlich entspannen. Diese Verbindung ist, wenn sie während eines Primals gefühlt wird, unzerstörbar daran festgemacht. Die Verknüpfung ist ein unmiß­verständliches Erlebnis.

Falls keine exakte Verknüpfung zustande kommt, fährt die Energie abgekoppelter Urschmerzen fort, den Organismus zu aktivieren und erzwingt neue Entlastungs­kanäle. Einige dieser neuen Kanäle können sozial akzeptabler sein als andere, und viele Therapie­formen sind mit wenig mehr beschäftigt als der Umleitung abgekoppelter Urschmerzen in sozial akzeptables Verhalten. Ohne Verknüpfung ist das ein endloses Unterfangen. Bewußt zu werden, wenn man im Sinne der Primärtherapie ein Neurotiker ist, heißt, sich erst der Urschmerzen bewußt zu werden. Sich der Urschmerzen nicht bewußt zu sein heißt, bis zu einem gewissen Grad bewußtlos zu sein. Da es ein biologisches System zur Herabsetzung von Bewußtsein gibt, kann eine Bewußtseins­zunahme nur über eine Beschäftigung mit eben diesem biologischen System erreicht werden. Wenn man nicht unter Urschmerz steht, kann man nicht bewußter werden, als man ist.


Verknüpfung ist nur auf eine Art und Weise gesichert — durch Wiedereintritt der Agonie eines Feelings oder einer Erinnerung; die Agonie treibt eine alte Erinnerung in Richtung auf Bewußtsein und Auflösung. Dazu muß man sich am Nervensystem hinab­bewegen, um so auf die Ebene des Feelings zu gelangen. Es gibt keine bewußte, vorsätzliche Möglichkeit, das zu tun, ganz gleich wie stark die Motivation ist. Es ist zum Beispiel ein nutzloses Unterfangen zu versuchen, mit verbalen Mitteln Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, die aus einer Zeit stammen, in der der Kortex noch nicht bestand. Bewußtsein erlangt man nur durch Verknüpfungen, die auf der entsprechenden Ebene gemacht werden.

Ein Patient, der eine (ur-)schmerzhafte Szene aus seiner Kindheit wiedererlebt, hat sich von den fort­geschritt­ensten zu den ursprünglichsten Hirnfunktionen hinabbewegt. In neurologischem Term heißt das: Der Kortex hat das Limbische System angeregt, die gespeicherten schmerzhaften Erinnerungen freizusetzen, die wiederum den Hypothalamus aktivieren, um die Leidens­komponente des Feelings zum Ausdruck zu bringen. Dieser Urschmerz aktiviert das neurale Aufgebot, von dem ich weiter oben sprach. Die ehemals stillgelegten kortikalen Bereiche sind aufgewacht, um den Feelings eine Bedeutung zu verleihen, sie ermöglichen die umfassende Reaktion des Bewußt-Seins.

Bei der Wiederverknüpfung werden während einer Sitzung nur einige Aspekte des gesamten Feelings erlebt. Mit jeder neuen Verknüpfung gewinnt man neue Einsichten, da immer mehr der sekundär-assoziativen Bereiche des Kortex zum Verständnis­prozeß herangezogen werden.

Wenn der Verknüpfungsprozeß stattfindet, werden alle ursprünglichen, das frühe traumatische Ereignis umgebenden Reaktionen offenkundig. Wenn zum Beispiel ein Patient ein Geburtstrauma wiedererlebt, kann es zu spontanem Würgen kommen. Der Patient kann weder weinen noch Worte hervorbringen. Die Ebene der Gehirnstruktur entspricht dem Erlebnis. Im Moment der Verknüpfung verschwinden alle assoziierten symbolischen Reaktionen, und es bleibt Klarheit, Bewußtsein. Der Patient fühlt das Feeling des Integriert­werdens.

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Da die Last der Urschmerzen abnimmt, kann der Mensch anfangen, die schwereren Urschmerzen, welche tiefer im Gehirn und in der Vergangenheit liegen, zu erleben.1 Er kann Urschmerzen unterer Ebenen fühlen und sie integrieren, weil auf ihnen nicht mehr die jüngeren Schmerzen lasten. Der Organismus fängt entsprechend an, sich zu entspannen. Für den Leidenden ist es subjektiv wahrnehmbar, für den Beobachter offensichtlich. Es besteht beträchtlich weniger »Druck«.

Wir erkennen die Entspannung, die aus Verknüpfungen herrührt, besonders am Abfall der Werte vitaler Körperfunktionen und an der Veränderung der Gehirntätigkeit. Eine Untersuchung am <UCLA Brain Research Institute> ergab eine 83prozentige Abnahme neuraler Aktivität der Hirnwellen (Amplitude) von Primär­patienten. Durch die Verknüpfung verändern sich Träume dahingehend, daß der Symbolismus abnimmt, und Symptome verschwinden.

Wahrscheinlich kommen die Einsichten, welche die Feelings begleiten, auf zweierlei Art zustande. Schnelle Einsichten, die einem Feeling unmittelbar folgen, sind wahrscheinlich überwiegend neuroelektrische Vorgänge. Doch dauert der Prozeß der Einsicht nach einem Feeling tagelang an, ist sie höchst­wahr­scheinlich auf biochemische Umwandlungen von Nervenzellen zurückzuführen, die sich früher aufgrund von Urschmerz abnorm verhielten.2

Integrierbare Agonie ist der Schlüssel zum Verständnis der Verknüpfung. Wenn zu viele Primärschmerzen auf einmal freigesetzt werden (etwa durch LSD oder durch Drängen des Patienten), hat das überschüssige Energie zur Folge, die wieder neurotisch umgeleitet werden muß. Das bedeutet, daß sich das Leiden fortsetzt. Bei zu geringer Energieversorgung ist der Kortex nicht ausreichend aktiviert.

1)  Es ist natürlich möglich, daß im späteren Leben katastrophale Ereignisse stattfinden. Aber diese Ereignisse, wie etwa der Verlust der Eltern, sind nicht so katastrophal, wenn man in den Zwanzigern ist, als wenn man sechs oder sieben ist. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns im Umgang mit Traumata ist in den ersten Lebensjahren noch nicht so vollständig entwickelt wie in späteren Jahren.
2)  Es ist möglich, daß verzögerte Einsichten nach einem Feeling auf irgendeine Art von einem allmählich wiederhergestellten biochemischen Gleichgewicht abhängen. Um es anders auszudrücken, Urschmerz blockierte ursprünglich die Fertigstellung bestimmter biochemischer Ziele des genetischen Kodes für bestimmte Neurotransmitter. Das verhinderte ein korrektes Verständnis der Realität; es kann einige Zeit dauern, bis das Wiedererleben von Urschmerz die Neurotransmitter so »korrigiert«, daß die ganze Realität wieder wahrgenommen werden kann.

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Dies geschieht oft beim Abreagieren, bei dem Menschen zwar die Schritte eines Primär-Feelings durch­machen, dies aber »absichtlich«, vom Standpunkt eines Erwachsenen, der versucht, ein Baby zu sein. Schreien und Um-sich-Schlagen können eintreten, doch fehlt ein entsprechendes Maß an Urschmerz; Verknüpfungen werden nicht hergestellt, vielleicht mit Ausnahme einiger intellektueller Einsichten, denen eine sehr oberfläch­liche Qualität eigen ist. Ein Therapeut mit nicht unzureichendem Wahrnehmungs­vermögen kann die Abreaktion oft nicht mitbekommen und unabsichtlich das Abwehrsystem stützen.

Sowohl Abkoppelung als auch Verknüpfung sind biologische Prozesse und Notwendigkeiten, jedes zu seiner Zeit. Da zum Zeitpunkt der Geburt bereits ein rudimentärer Neokortex vorhanden ist, muß angenommen werden, daß diese tief im Nerven­system eingeprägten Traumata weiter oben eine Art schwachen Korrelats haben. Bei der Wiederverknüpfung könnten sie die unteren und oberen Erlebnis­einprägungen jetzt auf eine Art »wiedererkennen«, die, sobald die Schleusen geöffnet sind, unmittelbar und unausweichlich ist.

Die neuere Forschung hat gezeigt, daß Nervenzellen eine Substanz absondern, die festlegt, welche anderen Nervenzellen sich mit ihnen verbinden; allerdings ist die genaue Identität der Substanz unbekannt.3 Wenn Urschmerz die Biochemie der Nervenzellen verändert, greift er offensichtlich in den Prozeß des Erkennens und Verknüpfens ein. Umgewandelte Nervenzellen »erkennen« sich nicht mehr genug, um miteinander in Berührung kommen und eine dauerhafte Verbindung eingehen zu können. Bei der Wieder­verknüpfung wird die Biochemie des Gehirns normalisiert, so daß Nervenvorsprünge sich wiederfinden können und infolgedessen einen Kreislauf so vollführen, wie er ursprünglich geplant war. Für Nervenbahnen, die durch Verdrängung abgekoppelt wurden, scheint es tatsächlich so etwas wie ein »Zuhause« zu geben.4

Der Faktor des Wieder-Erkennens kann auf der Zellebene beobachtet werden. Ein Wissenschaftler kann zwei Gruppen von Herzzellen auf die gegen­über­liegenden Seiten einer präparierten Platte plazieren und zwei Gruppen von Leberzellen auf die beiden anderen Seiten. Die Leberzellen bewegen sich auf die Leberzellen zu, die Herzzellen auf die Herzzellen.

3) Rezension von Jean Marx in Science, Bd. 206, 26. Oktober 1979, S. 437.
4) Ein Bericht im Brain-Mind-Bulletin, 1. Jan. 1979, weist darauf hin, daß die Speicherung von Erinnerungen von der Verknüpfung und nicht von einzelnen Zellen abhängt. Ein Erinnerungsdefizit basiert auf »fehlerhaften Verknüpfungen«.

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Dieses zellulare Erkennen ähnelt unserer Erinnerung an einen alten Freund, es geht einfach nur auf einer anderen Ebene vor sich. Die Erinnerung an einen alten Freund ist — wenngleich auch ein hochentwickelter Prozeß — das Resultat eines Konglomerats zusammenwirkender Zellen. Die Herzzellen auf der Platte des Wissenschaftlers haben zwei verschiedene Leben. Sie pulsieren unterschiedlich. Doch wenn sie zusammen­kommen, pulsieren sie einheitlich.

Es scheint Zellen angeboren zu sein, sich mit gleichartigen Zellen verbinden zu können. So können zum Beispiel abgetrennte Nervenzellen aus dem Zentralnervensystem von Blutegeln sich wieder mit ihren normalen Kontaktstellen verbinden — auch wenn sie diese unter Hunderten von anderen Zellen heraussuchen müssen. Es dauert ungefähr zwei bis drei Wochen, bis Impulse einer durchschnittenen Zelle durch das abgetrennte Segment wieder zu ihrer verbindenden Zelle gelangen. Also, Nervenzellen von Blutegeln heilen durch Wiederverbindung. Dieser Prozeß physiologischer Wiederverknüpfung könnte ein Modell dafür abgeben, wie neurochemisch abgekoppelte Nervenzellen im menschlichen Gehirn wieder verbunden werden.

Nach der Entwicklung des Kortex in der Geschichte des Menschen zu urteilen, könnte es ein Bestreben gegeben haben, für jede Erfahrung auf höheren Ebenen nach einer Bedeutung zu suchen. Auf unteren Ebenen blockierter Schmerz strebt nach bewußter Verknüpfung. Der Neurophysiologe Steven Rose erklärt, daß »viele Kodierungsaspekte des Leitungsnetzes des Zentral­nerven­systems auf ähnliche Weise funktionieren. Sie sind genetisch festgelegt, so daß bestimmte Verbindungen obligatorisch sind.«5

William Gevarter von der National Aeronautics and Space Administration hat mit Nachdruck die Wichtigkeit der Verknüpfungen von tiefliegenden Gehirnprozessen betont. Er bemerkt: »Die einzigen Therapien, die lang­anhaltende Veränderungen bewirken, sind die, die permanent alte Gehirnprogramme entschärfen.« Er weist darauf hin, daß die Psychoanalyse »eher Neuhirn-Einsichten und Wissen« bietet »als eine Heilung«, weil sie normalerweise eher die bewußte Beurteilung ändert als die unbewußte. Dr. Gevarter ist der Ansicht, daß alte Gehirnprogrammierungen durch permanente Modifizierung der »reverberierenden Kreisläufe« alter emotionaler Spannungen attackiert werden müssen.6

Was Dr. Gevarter die <Modifizierung reverberierender Kreisläufe> nennt, nennen wir <Verknüpfung>. Verknüpfung ist der Kern der Primärtherapie. Verknüpfungen herzustellen heißt gleichzeitig, von zwingenden Kräften des Unbewußten zu befreien. Verknüpfung löscht ein frühkindliches Bedürfnis nicht aus und befriedigt es auch nicht. Aber sie reduziert es auf ein altes Bedürfnis, auf etwas, das der Vergangenheit angehört.

Wenn der Kreislauf erst einmal verbunden ist, bleibt er verbunden, das ist eine physiologische Tatsache. Aufgrund dieser dauerhaften Verknüpfung wird man nicht wieder neurotisch. Mit jeder hergestellten Verknüpfungen gewinnt man einen Teil von sich hinzu. Je mehr Verknüpfungen, desto unzerteilter, vollständiger wird der Mensch, und desto mehr wird er »er selbst«. Das ist es, was es bedeutet, wirklich »du selbst« zu sein.

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5)  Steven Rose, The Conscious Brain, Weidenfeld & Nicolson, London 1973, S. 170.
6)  Brain-Mind Bulletin, 18. September 1978, S. 1.

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