3. Die Geburt der Neurose: Das wirkliche Geburtserlebnis
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Viele von uns kommen bei der Geburt dem Tode näher als während ihres ganzen übrigen Lebens; sie stehen buchstäblich an der Schwelle des Todes. Die Möglichkeiten eines Traumas bei der Geburt sind zahlreich. Viele dieser Traumata sind nicht offenkundig, denn was für das Neugeborene außerordentlich traumatisch sein kann, ist vom Standpunkt eines Außenseiters betrachtet »normal«.
Die Geburt ist ein überwältigendes Ereignis, auch wenn sie ganz natürlich vor sich geht: das Neugeborene muß viele rasche Anpassungen durchmachen, einschließlich der kraftvollen Bewegungen der Uteruskontraktionen, des ersten Atemzugs und der grundlegenden Umstellung des Blutkreislaufs. Tatsächlich erfordert die Geburt zahlreichere und größere Adaptationen, als sie die meisten von uns jemals wieder durchmachen werden.
Der Unterschied zwischen einer pathologischen und einer normalen Geburt kann sehr geringfügig sein, und niemand kann wirklich sagen, ob es sich um die eine oder die andere handelt, niemand außer dem Neugeborenen selbst, das es erst später, als Erwachsener, wissen wird — wenn der Erwachsene das Glück hat, das Trauma selbst wiedererleben zu können.
Dann wird er zum erstenmal entdecken, wie es wirklich war. Bis dahin trägt sein Körper die Wahrheit seines Erlebnisses in sich und drückt seinen Urschmerz in Symptomen und neurotischem Verhalten aus. Da sich aber der Körper nicht selbst mitteilen kann, müssen wir zu den tieferen Bewußtseinsebenen vordringen, wo die Geburtserinnerungen eingeprägt sind, um die Wahrheit dieses Ereignisses zu erkennen.
Die normale Geburt
Betrachten wir zunächst kurz eine normale Geburt — paradoxerweise ein ziemlich seltenes Geschehnis. Die normalen Uteruskontraktionen beginnen hinten und bewegen sich sinuswellenartig rhythmisch nach vom: eine wellenartige Muskelbewegung schiebt das Kind sanft vorwärts, etwa wie einen Kolben in einem Zylinder. Der Hauptdruck der Kontraktionen wird von den Füßen und dem Becken des Kindes abgefangen. Die Kontraktionen werden nur allmählich stärker, was es dem Kind ermöglicht, sich emotional auf die bevorstehende Reise und auf den Übergang von sanften zu starken Kontraktionen vorzubereiten.
Wenn alles gutgeht, wird das Kind sanft die V-förmige Gleitbahn hinuntergetrieben, und der Gebärmutterhals öffnet sich. Der Kopf wird durch die Stellwehen im kleinen Becken »fixiert«. Wenn die Wehen stärker werden, erweitert sich der Geburtskanal, um Platz für das Kind zu machen. In diesem Augenblick lösen Hormone eine Dehnung der Bänder zwischen den beiden Hälften des Schambogens aus. Der Mund des Kindes ist nach vorn gerichtet oder gegen die Wand des Geburtskanals gedrückt. Das Fruchtwasser, das das Kind in der Gebärmutter umgab, befindet sich nun größtenteils hinter ihm, so daß es nicht in seine Lungen gepreßt werden kann. Es umgibt jedoch noch genug Flüssigkeit das Kind, um den Weg zu glätten.
Während sich das Kind vorwärtsbewegt, tritt eine automatische Drehung des Kopfes ein, um einen Stoß gegen das hervorstehende Kreuzbein zu verhindern. Wenn der natürliche Austritt des Kindes irgendwie unterbrochen wird, findet die Drehung — die das Kind in die für die Geburt günstigste Lage bringt — nicht statt. Sie muß vom Arzt vorgenommen werden. Bei einer normalen Geburt sollte ein Ohr leicht über das vorstehende Kreuzbein gleiten. (Geschieht das nicht, werden Mund und Nase des Kindes dagegengedrückt. Dieser vorstehende Teil hat eine rauhe Oberfläche, und Patienten, die das Geburtstrauma wiedererlebten, schildern ein kratzendes Gefühl, als werde man über Sandpapier gezogen.) Schließlich wird das Kind ganz ausgetrieben und ist geboren.
Die Geburtssequenz ist eine natürliche und sollte daher fließend ablaufen. Sie ist keineswegs ein notwendigerweise traumatisches Ereignis. Die kräftigen Preßwehen sind an sich nicht traumatisch; sie sind eine biologische Notwendigkeit. Sie »streicheln« die Haut und tragen dazu bei, viele Körpersysteme zu stimulieren, vor allem die harnausscheidenden, gastrointestinalen und respiratorischen.
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Die letzten großen Kontraktionen um den Brustkorb des Kindes herum helfen, die Flüssigkeit aus den Lungen zu pressen und die Atmung einzuleiten. Der Rhythmus der Sequenz oder sein Fehlen wird zu einer Erinnerung wie alles andere, und eine fließende Koordination der Bewegungen und ein Gefühl für Rhythmus haben etwas mit dieser Erinnerung zu tun. Was das Kind während des Geburtsvorgangs lernt, ist, wie man ein einheitlicher Körper ist oder nicht ist — ein vollständiges menschliches Wesen.
Die Geburt unter Narkotika
Vergleichen wir nun die normale Geburt mit der üblicheren — nämlich der Geburt, bei der die Mutter irgendeine Art von Anästhesie zur Linderung der Wehenschmerzen bekommt. Wie ich schon sagte, geht das Medikament durch die Schranke der Plazenta, und zwar in einer Dosis, die für das Kind mehrere hundert Male zu stark ist, so daß weder die Mutter noch das Kind normal reagieren kann, um den Geburtsvorgang zu erleichtern.
Nach der Verabreichung von Narkotika werden die Uteruskontraktionen der Mutter seltener und schwächer. Schlimmer noch: Narkotika blockieren wichtige neurale Botschaften, so daß auch die Sequenz der Kontraktionen von hinten nach vom geändert wird. Das bedeutet, daß das Kind weniger Chancen hat, sanft nach vorn geschoben zu werden. Oft wird es von den unregelmäßigen Kontraktionen gedrückt und gequetscht. Es ist ein wenig so, als würde es durch eine Presse geschoben. Die Bewegungen des Uterus sind stark genug, um zu quetschen, aber nicht rhythmisch oder kräftig genug, um das Kind auszutreiben.
Als nächstes kann sich der Kopf des Kindes nicht richtig in den Eingang des Geburtskanals einpassen. Das bedeutet, daß Fruchtwasser, das die Kontraktionen kräftig nach vorn stoßen, in den Mund, die Luftröhre, die Lungen und den Magen des Kindes gedrückt wird. Mit anderen Worten, das Kind wird gleichzeitig gequetscht und erstickt; es ist praktisch nahe daran zu ertrinken. Da es zu stark narkotisiert ist, ist sein Atmungssystem geschwächt (Betäubungsmittel beeinträchtigen die Atmung schwer), und es hat nicht die Muskelkraft, sich so zu legen, daß es weniger Schmerz erleidet — nämlich in die richtige Geburtslage.
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Wäre das Kind nicht so stark narkotisiert, würde es instinktiv zu seiner eigenen Geburt beitragen. Es könnte seine Muskeln so beugen, daß es schiebt; es könnte eine torpedoartige, enggeschlossene Haltung einnehmen, um so gut wie möglich ausgetrieben zu werden, und es könnte aus seinem Körper eine einzige Einheit machen — Brust und Bauch ein Ganzes. Unter der Wirkung des Betäubungsmittels ist der Körper in einer »losen« Lage, so daß, zum Beispiel, die Hände und Unterarme verklemmt und gequetscht werden können, während sich der Oberkörper vorwärtsbewegt — all das, weil die richtige Koordination gestört wurde.
Wenn das narkotisierte Kind endlich kurz vor dem Austreten ist, muß der Arzt oft von außen ziehen, um zu beenden, was eine natürliche Geburtssequenz sein sollte. Oft wird zu kräftig und aus dem falschen Winkel gezogen, da nur der Körper der Mutter den richtigen kennt. Wird zu schnell gezogen, so stimmt der Zug vielleicht nicht mit dem Rhythmus der Kontraktionen überein. Das Kind wird gegen das Becken der Mutter gestoßen; es kann sich nicht richtig aus eigener Kraft drehen und wird über das Kreuzbein gezerrt. Sein Kopf hat, wenn er endlich frei aus dem Geburtskanal herausgetreten ist, nicht die Hilfe seiner Füße, die nachschieben sollten, und daher kann er nach unten fallen oder nach hinten gedrückt werden. Oft muß das Kind mit einer harten Metallzange herausgezogen werden. Schließlich geht dem Kind, während es eingeklemmt ist und in seinem narkotisierten Zustand nicht weiterkommt, auch rasch der Sauerstoff aus, und sein Blutsystem ändert sich bei dem Versuch, sich zu adaptieren. Daher ist das Gesicht des Kindes bei der Geburt — völlig unnötigerweise — hochrot.
Das ist eine höchst gefährliche Reise. Aber die Gefahr ist vielleicht noch nicht vorüber, wenn das Kind endlich den Geburtskanal verlassen hat. Wie wird es empfangen? Mit groben Griffen, kalten Zangen und auf einem Metalltisch, mit rauhen Handtüchern? Blendet es das Licht? Wird das Kind der Mutter in die Arme oder auf den Bauch gelegt? Oder ist es während der ersten kritischen Minuten und Stunden ohne menschlichen Kontakt? Wird die Nabelschnur zu früh durchtrennt, so daß es nicht das ganze mit Sauerstoff angereicherte Blut bekommt und wieder an Anoxie leidet?
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Wird es nach unten gehalten, so daß alle Flüssigkeit aus ihm ausrinnt? Oder begnügt sich der vielbeschäftigte Arzt damit, notdürftig die Atmung des Neugeborenen einzuleiten, um sich so rasch wie möglich seinen anderen Aufgaben widmen zu können?
Diese ersten Lebensminuten außerhalb des Schoßes sind kritisch, und alles, was sich in dieser Zeit ereignet, hinterläßt, im Guten wie im Bösen, ein dauerhaftes Mal. Wir hören immer wieder aus den Worten unserer Patienten heraus, wie jede dieser Minuten einen Teil des tief Unbewußten formt und zur Grundlage für späteres neurotisches Verhalten wird.
Die Kaiserschnitt-Geburt
Es könnte den Anschein haben, als wäre die Geburt durch Kaiserschnitt die leichteste und am wenigsten traumatische Art, geboren zu werden, da das Kind nicht die Härten zu langer Wehen oder eines engen Geburtskanals zu überstehen braucht, sondern einfach herausgehoben wird. Leider haben wir festgestellt, daß Traumata, die das Kind bei einem Kaiserschnitt erleidet, zwar anders, aber keineswegs leichter sind als die Traumata, die bei einer schwierigen Entbindung durch den Geburtskanal auftreten.
Der Kaiserschnitt wird im allgemeinen unter zwei Bedingungen vorgenommen: entweder wenn die Kontraktionen schon begonnen haben — die Mutter also Wehen hat —, oder wenn die Wehen noch nicht begonnen haben, das Kind aber »überfällig« ist. Besser für das Kind ist es, wenn die Wehen schon eingesetzt haben. Warum? Wenn die Kontraktionen bereits im Gange sind, befindet sich das Kind in einem Bereitschaftszustand; es wird auf eine natürliche, biologische Weise für das bevorstehende Ereignis der Geburt mobilisiert. Die Wehenperiode löst Veränderungen der vitalen Funktionen und Hormone aus, die den Organismus des Kindes physiologisch auf die Geburt einstellen. Das Kind bekommt wenigstens einen Teil von dem, was ihm »zusteht«.
Wenn es zu keinen Kontraktionen kommt — und ein für den Arzt oder die Mutter passendes Entbindungsdatum festgesetzt wird —, versäumt des Kind den ganzen Kontraktionsprozeß. Wir wissen nun, daß die Kontraktionen ein wichtiges Entwicklungsstadium des Kindes einleiten und das periphere Nervensystem stimulieren, das Impulse an das Gehirn weiterleitet und letzten Endes alle wichtigen Systeme beeinflußt.
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Ohne diesen Prozeß kann das Nervensystem nur unzulänglich aktiviert werden, was unter Umständen Folgen für die spätere Entwicklung des Kindes hat. Wie schon früher erwähnt, gibt es kritische Zeiten in der Entwicklung des Gehirns, in denen es gewisse Reize empfangen muß, um richtig zu wachsen. Kritische Zeiten, das muß hervorgehoben werden, denn die massive Stimulation und die Kompression, die durch die Uteruskontraktionen hervorgerufen werden, sind zu diesem, und nur zu diesem, Zeitpunkt notwendig. Keine spätere Art von Stimulation und Kompression kann diesen Mangel in der Entwicklung ausgleichen.
Ein anderes für die Kaiserschnitt-Geburt spezifisches Problem ist das der Blutversorgung. Es ist äußerst schwierig, eine solche Geburt durchzuführen, ohne das Kind in die Höhe und über das Niveau der Blutversorgung zu heben. Bei einer vaginalen Geburt liegt die Nabelschnur seitlich zum Kind, aber beim Kaiserschnitt hängt sie senkrecht herunter, während das Kind herausgehoben wird. Es ist beinahe unvermeidlich, daß ein Teil des Blutes zur Plazenta zurückfließt. In diesem Augenblick sollte das Kind sofort in eine tiefere Lage gebracht werden, so daß ihm das Blut weiter zufließt, aber schon wenige Sekunden des Rückströmens des Blutes bedeuten, daß das Kind asphyxiert wird — ein Gefühl nicht unähnlich dem, das jeder von uns erleben kann, wenn ihm die Luftzufuhr abgeschnitten wird.
Ein weiteres subtiles Trauma tritt in Verbindung mit dem Kaiserschnitt auf. Das Fruchtwasser hat »oberflächenaktive Eigenschaften«, die es zum Schäumen bringen können, wenn das Kind zu atmen beginnt. Obwohl nicht offen sichtbar sein mag, daß das Kind am Ersticken ist, können seine Lungen tatsächlich voll Schaum sein. Das kommt gewöhnlich bei normalen Geburten nicht vor, weil die Kontraktionen während der Wehen der Mutter eine Art Massage ausüben, die die Flüssigkeit aus den Lungen des Kindes treibt. Bei einem Kaiserschnitt dagegen muß die verstopfte Luftröhre des Kindes vom Arzt mechanisch geöffnet werden. Geschieht das nicht augenblicklich, kann das Kind aus Sauerstoffmangel zu ersticken beginnen und blau werden.
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Nachdem es all diese Traumata erlitten hat, wird das Kind aus dem Schoß gehoben — aber selbst wenn es mit großer Feinfühligkeit behandelt wird, trennt man es doch beinahe immer augenblicklich von seiner Mutter, denn sie hat soeben einen größeren chirurgischen Eingriff durchgemacht und muß sich selbst erholen. Außerdem hat sie dabei schmerzstillende Mittel erhalten — ein weiteres Trauma für das Neugeborene.
Es gibt viele Gründe für die Vornahme eines Kaiserschnitts, und diese Gründe haben etwas damit zu tun, wie das Trauma eingeprägt wird. Wenn rechtzeitig erkannt wird, daß das Becken der Frau für eine normale Geburt zu klein ist, so ist das eine Art von Erlebnis: das Kind hatte keine Chance, auf die richtige (natürliche) Weise zur Welt zu kommen. Es begann sein Leben »falsch«. Wenn die Mutter einen großen, den Geburtskanal blockierenden Tumor hat, der erst im letzten Augenblick entdeckt wird, kommt es zu einem anderen mit der Kaiserschnitt-Geburt verbundenen Erlebnis: das Kind kann von den ersten Augenblicken seines Lebens an buchstäblich »mit dem Kopf gegen die Wand gerannt« sein.
Die Steißlage ist wiederum ein anderes Erlebnis. Hier kann das Kind nicht in die richtige Lage gebracht werden — es liegt mit dem Gesäß oder den Beinen voraus und gefährdet sein eigenes Leben und das der Mutter. Ein solches Kind kommt durch Kaiserschnitt völlig desorientiert zur Welt und weiß buchstäblich nicht, wo oben und unten ist. Sein erster Kontakt mit der Welt war rückwärtsgerichtet, und wir werden in späteren Kapiteln sehen, daß es sich für den Rest seines Lebens »nach rückwärts gedreht« fühlen kann. So kann es innerhalb des Geburtstraumas — in diesem Fall dem durch Kaiserschnitt verursachten — viele mögliche Variationen geben, die Kindern sehr verschiedene Arten von Reaktionen einprägen.
Wir kennen den Schaden, den Kaiserschnitt-Geburten anrichten, genau, indem wir die Primals von Patienten beobachten, die auf diese Weise geboren wurden. Diesen Geburts-Primals fehlt der fließende Rhythmus der normalen Geburtskontraktionen. Die Bewegungen sind zielloser und oft heftiger. Es ist, als versuchten die Patienten ein Entwicklungsdefizit durch wilde Bewegungen und durch Umsichschlagen auszugleichen — oder als versuchten sie, die biologische Deprivation zu fühlen, die sie erlitten, als ihnen die Kompressionen der normalen Geburt vorenthalten wurden.
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Tatsächlich scheinen sie nie ihren anfänglichen »Rhythmus« mitbekommen zu haben, da ihnen das anfängliche Erlebnis fehlte, das ihren Körper richtig vorbereitet haben würde. Der Entzug dieses notwendigen Entwicklungserlebnisses ist ebenso schädlich wie die Überlastung des Neugeborenen mit zu vielen nachteiligen sensorischen Reizen. So tragen sowohl die Kaiserschnitt-Geburt als auch die unnatürliche vaginale Geburt auf ihre Weise zur Neurose bei.
Früh- und Spätgeburten
Die Frühgeburt ist traumatisch in jeder Hinsicht. Physisch ist das Kind noch nicht bereit, den Schoß zu verlassen, und daher bedeutet die Frühgeburt gewöhnlich ernsthafte physische Komplikationen — wenn nicht gar einen Kampf ums Leben, bei dem es um Sekunden gehen kann. Zahlreiche Untersuchungen zeigen die schädlichen Wirkungen einer Frühgeburt: von der Gehirnschädigung und geistigen Retardation bis zu körperlichen Entwicklungsstörungen und einer größeren Krankheitsanfälligkeit im allgemeinen. Aber einige der schädlichen Wirkungen sind vielleicht nicht so sehr auf die verfrühte Geburt zurückzuführen, als vielmehr auf die Folgen der Behandlung, die das Neugeborene um der Rettung seines Lebens willen erfährt.
Man vergißt vielleicht, daß das zu früh geborene Kind entwicklungsmäßig noch ein Fetus ist. Als solcher benötigt es die ganze Stimulierung, die es im Schoß erhalten würde. Meistens erlebt es jedoch genau das Gegenteil. Anstatt die besondere körperliche Nähe zu erhalten, die es braucht, wird dem zu früh geborenen Kind auf verschiedene Weise gerade jegliche Nähe vorenthalten: dadurch, daß es seine amniotische Welt zu früh verläßt, versäumt es eine Periode erhöhter Berührung innerhalb des Uterus. Nach der Geburt wird es in einen Brutkasten gelegt und an angsterregende Instrumente angeschlossen. Wenn das Kind endlich nach Hause mitgenommen wird, kann sich die Familie eine Art von »Brutkasten-Psychologie« aneignen, das heißt, die Berührung und Pflege des Kindes scheuen aus Angst, es zu verletzen.
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Dr. Ruth Rice, eine Psychologin aus Texas, entwickelte Methoden, um die emotionale Deprivation auszugleichen, unter der das Kind nach der Geburt leidet. Diese Methoden sind einfach. Das Kind wird oft sanft berührt und gestreichelt, damit es die nötige Stimulierung erhält. Um ihre Methoden zu testen, wandte Dr. Rice die Berührungstechniken bei einer Gruppe von zu früh Geborenen nach ihrer Heimkehr aus dem Krankenhaus an und verglich die Ergebnisse mit denen einer Kontrollgruppe, das heißt einer Gruppe von Kindern, die nicht häufiger berührt wurden. Das Berühren und Streicheln wurde von den Müttern der Säuglinge vorgenommen. Wie zu erwarten, zeigte sich bei den stimulierten Kindern eine bessere Entwicklung. Außerdem wurde festgestellt, daß die Beziehung zwischen Mutter und Kind durch die Stimulierung verbessert wurde.1
Um den Erfolg der Methode zu erklären, zitiert Dr. Rice Studien, bei denen festgestellt wurde, daß die Stimulierung von Tieren durch Berührung die Reifung des ganzen Systems fördert. Eine besonders interessante, von Dr. Rice angeführte Untersuchung (Bovard und Newton, 1953) ergab, daß die frühe Berührung eines Organismus einen normalen Spiegel hypothalamischer Aktivität, die permanent sein konnte, mit einer daraus resultierenden normalen Wachstumshormon-Produktion ermöglichte. Dieses Ergebnis unterstützt eine Hypothese der Primärtherapie, die vor über einem Jahrzehnt aufgestellt wurde und besagt, daß frühe Deprivation die hypothalamische Aktivität auf die Dauer beeinflußt und die Hormonproduktion stört — und daß das Wiedererleben des Traumas in Primais die Störung korrigieren kann.
Der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß ein zu früh geborenes Kind, wenn es überhaupt eine Chance für ein normales Wachstum haben soll, von Anfang an mehr Stimulierung durch Berührung als üblich haben muß. Forschungen von Freedman und anderen sind in dieser Hinsicht aufschlußreich.2 Zwei Gruppen von Zwillingen mit niedrigem Geburtsgewicht (einem so niedrigen, daß sie als Frühgeburten bezeichnet werden konnten) wurden studiert. Eine Gruppe wurde eine Zeitlang regelmäßig gewiegt, die andere nicht. Die Gruppe der gewiegten Kinder nahm rascher zu als die Kontrollgruppe.
1 Befunde berichtet in: Developmental Psychology, 13 (1977), 69-76; Methode beschrieben in: APA Monitor, Nov. 1975.
2 Freedman, D.O., Boverman, H. und Freedman, N., »Effects of the Kinesthetic Stimulation on Weight Gain and Smiling in Premature Infants«, in: American Ortho-psychiatry Association Presentation, April 1960, San Francisco.
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Die negativen Wirkungen einer Frühgeburt können jahrelang sichtbar sein. Die neurologische Entwicklung des Frühgeborenen ist gewöhnlich viel langsamer als die des normalen Kindes, und das kann sich in einer retardierten Entwicklung in bezug auf Koordination, Gleichgewicht und sportliche Fähigkeiten zeigen. Der Körper scheint Jahre und Jahre zu brauchen, um den frühen Mangel auszugleichen. Was nicht so sichtbar ist, sind die emotionalen »Mängel«, die ebenfalls auftraten, aber unerkannt blieben. Nun erhalten wir durch die Geburts-Primals von Patienten, die zu früh geboren wurden, eine Vorstellung davon, welcher Art diese Mängel sind; wir können uns ungefähr vorstellen, wie sich das Trauma der Frühgeburt anfühlt — welche besonderen Urschmerzen eingeprägt werden und wie diese Schmerzen später verarbeitet werden.
Zu spät geboren zu werden, ist ebenfalls körperlich und emotional traumatisch. Da Kopf und Becken des Kindes aufgrund der zusätzlichen Wochen im Uterus größer als normal sind, wird die Geburt schwieriger und traumatischer — wenn nicht tödlich. Tatsächlich ist die Mortalität bei Spätgeborenen zweimal so hoch wie bei zur normalen Zeit Geborenen.
Warum wird ein Kind zu spät geboren? Eine Frau, die sich noch nicht bereit fühlt, Mutter zu werden, die gespannt und »zusammengezogen« ist und dazu neigt, alles bei sich zu behalten, kann ihr Kind unbewußt zu lange zurückhalten. Es kann sein, daß die kombinierten, für den Gebärvorgang nötigen Hormonausschüttungen durch die Neurose der Mutter verzögert werden.
Geburtstraumata und Verletzungen
Verletzungen bei der Geburt sind in den Vereinigten Staaten die fünfthäufigste Todesursache. Bezüglich der Säuglinge, die trotz Verletzungen am Leben bleiben, schätzt man nun, daß einer von sechzehn einen erkennbaren geistigen oder körperlichen Defekt hat. Man schätzt ferner, daß jedes Jahr 20.000 bis 60.000 Geburtsverletzungen auftreten, die vermeidbar wären.
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Es gibt, wie wir gesehen haben, viele Möglichkeiten der Verletzung des Kindes während und nach der Geburt. Während der Geburt stellen Anästhetika, die der Mutter verabreicht werden, wahrscheinlich die häufigste und ernsthafteste Bedrohung des Kindes dar, sowohl bei Kaiserschnitt-, als auch bei vaginalen Entbindungen. Die Kopfdrehung mit der Geburtszange ist eine bei der vaginalen Entbindung übliche Verletzung. Das Heben des Kindes über das Niveau der Blutversorgung ist eine für die Kaiserschnitt-Geburt typische Schädigung. Nach jeder Art von Entbindung wird das Neugeborene gewöhnlich einer Reizüberflutung, der Trennung von der Mutter und ungünstigen Bedingungen im Entbindungsraum ausgesetzt.
Anoxie (während der Geburt)
Wir haben im vorausgegangenen Kapitel viele Ursachen für die pränatale Anoxie gesehen. Anoxie während des Geburtsvorgangs selbst ist als hauptsächliche Todesursache bei Säuglingen bekannt, und sie ist wahrscheinlich auch die häufigste Ursache von Geburtsfehlern. Sauerstoffknappheit während der Wehen oder der Geburt ruft einen Zustand der Asphyxie hervor, der geistige Retardation, Epilepsie, Gehirnlähmung und den Tod verursachen kann. Welches sind die hauptsächlichen Ursachen der Anoxie während der Geburt? »Jeder Zustand, der den richtigen Sauerstoff- und Kohlendioxid-Austausch zwischen der Mutter und dem ungeborenen Kind beeinträchtigt. Verlängerte oder behinderte Wehen. Eine traumatische Entbindung. Eine zu hohe Dosis von schmerzstillenden Mitteln während der Wehen oder eine zu tiefe Anästhesie.«3
Bis vor kurzem wurde noch allgemein angenommen, alle Geburtsfehler seien erblich bedingt. Das ist nicht der Fall. »Man weiß heute, daß Schwachsinn zum großen Teil direkt auf einen Sauerstoffmangel während des eigentlichen Geburtsvorgangs zurückgeht; Anoxie kann bei einem vollkommen normalen Kind während der letzten Augenblicke der Geburt Hirnzellen zerstören.«4
3 Wessel, Helen, Hrsg., Natural Childbirth und the Family, Harper and Row, New York, rev. Ausg. 1974, S. 203.
4 Berichtet in: Los Angeles Times, 11. März 1970.
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Dazu kann es beispielsweise durch Strangulation kommen. Wenn der Arzt von außen ziehen muß, um einem narkotisierten Kind herauszuhelfen, kann sich eine Schlinge der Nabelschnur um die Schulter oder den Kopf des Kindes legen, so daß sie gegen die Seite des Geburtskanals gepreßt wird. Das Ergebnis ist eine Strangulation oder Einklemmung. Das Kind befindet sich gleichsam in einer Aderpresse. Es kann sein venöses Blut nicht loswerden und sein arterielles Blut nicht bekommen. Da es keinen Sauerstoff erhält, tritt Asphyxie ein. Darauf folgt ein verzweifelter Versuch des Systems des Kindes, Sauerstoff ins Gehirn zu befördern. Zu diesem Zweck muß eine massive Vasodilatation oder Gefäßerweiterung erreicht werden, die die größtmögliche Blutzufuhr gestattet. (Wir werden später sehen, wie diese spezielle Reaktion einen Prototyp für Migräne im Erwachsenenalter bildet.)
Der Sauerstoffmangel kann so groß sein, daß das Herz des Kindes Schläge ausläßt oder zeitweilig ganz stillsteht, was zu so offenkundigen Geburtsfehlern wie geistiger Retardation oder Gehirnlähmung führt. Häufiger stellen sich aber subtilere Folgen ein, die unentdeckt bleiben. Im späteren Leben können jedoch bestimmte »leichte« neurologische Symptome auftreten, die sich nur bemerkbar machen, wenn der Betreffende müde ist: ein gewisses Herabhängen auf einer Seite des Mundes oder eines Auges, eine besondere, aber nur leichte Schwerfälligkeit, eine Neigung zum Stottern, zu Ungeschicktheit und Reizbarkeit; eine entwicklungsbedingte einseitige Überlastigkeit des Körpers oder des Gesichts.
Auch subtile emotionale Wirkungen sind mit dem Sauerstoffmangel verbunden, aber sie geben sich erst viel später zu erkennen — und dann wird die kausale Beziehung zwischen der Anoxie bei der Geburt und der Erregbarkeit im Erwachsenenalter nicht erkannt. Die Verdrängungsmechanismen im Gehirn (das Limbische System) werden durch den Sauerstoffmangel beeinträchtigt; als Kind und als Erwachsener ist der so Geschädigte weniger gut imstande zu verdrängen. In Streßsituationen kann er zu hysterischen Reaktionen neigen, bei denen er von frühem Schmerz überflutet wird, der nicht mehr geschleust werden kann. Er fühlt sich ständig zerrissen und überwältigt — und das aus guten (nämlich neurologischen) Gründen.
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Diese Wirkungen einer leichten Anoxie sind nicht so sehr Gehirnschäden als vielmehr Zellschäden — Schäden, die sich auf relativ wenige, aber nichtsdestoweniger wichtige Zellen beschränken. Die Asphyxie während der Geburt ist in Wirklichkeit eine Art von Hirnschlag, aber da sich der Säugling (scheinbar) augenblicklich erholt, werden die tatsächlichen schädlichen Auswirkungen nicht entdeckt und nicht behandelt.
Medikamente, Anästhetika
Man hat angenommen, daß schmerzstillende Mittel nötig seien, um den Schmerz des Gebarens zu lindern. Neuere Forschungen haben jedoch die Anwesenheit von Beta-Endorphin, einer morphinähnlichen Substanz, nachgewiesen, die vom menschlichen System selbst, in der Plazenta, produziert wird. Das bedeutet, daß der Körper der Mutter selbst ein Mittel gegen den Schmerz herstellt, das, wenn man es zur Wirkung kommen läßt, ihre Beschwerden auf die unschädlichste Weise mildern kann. Die Verabreichung von Medikamenten während der Entbindung beeinträchtigt diesen natürlichen Vorgang und kann sogar schädliche Nebenwirkungen haben.
So hat, zum Beispiel, ein Team der UCLA nachgewiesen, daß die nervenblockierenden Anästhetika, die man als unbedenklich für das Kind betrachtete, Schäden verursachen. Dr. Robert O. Bauer, der Leiter des Teams, berichtete auf der Tagung der California Medical Association im März 1970, daß die Anästhetika tatsächlich innerhalb nur weniger Minuten, nachdem sie die Mutter erhalten hat, in signifikanten Mengen in das System des Kindes eindringen. Er sagte, daß solche Mengen eine schädliche Wirkung auf das Gehirn des Kindes haben können, wenn das Kind während der Geburt gleichzeitig noch anderen Streß erleidet. Dr. Bauer betonte, es sei ein Märchen, daß bestimmte lokal angewandte Anästhetika nicht in das Kind übergehen. Den meisten Ärzten, sagte er, sei nicht klar, daß sich Lokal-anästhetika auch auf die nichtanästhesierten Teile des Körpers verteilen.
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Welches sind die langfristigen Folgen der Narkotisierung für das Kind?
Eine Studie, über die 1978 berichtet wurde5, stellte fest, daß die Kinder von Müttern, die während der Entbindung ein Pethidin genanntes Anästhetikum erhalten hatten, noch mindestens ein Jahr lang unter den Wirkungen des Medikaments litten. »Während des ganzen Jahres, in dem sie (die Kinder) beobachtet wurden, waren sie die meiste Zeit schläfrig, sie saugten nicht sehr gut, und die Mütter verbrachten viel mehr Zeit mit dem Versuch, sie wachzuhalten.«
Und Dr. Abraham Lu, Professor für Pathologie an der USC School of Medicin, schätzte, daß 50 bis 70 Prozent aller Tot- und Fehlgeburten durch anoxische Läsionen im Gehirn verursacht werden, von denen viele auf Medikamente zurückgehen können.6 In demselben Sinne wies Harris Sherline, Präsident der United Cerebral Palsy Association, daraufhin, daß die zunehmende Praxis der unnatürlichen Verzögerung der Geburt durch Medikamente immer mehr Fälle von Gehirnschäden und Gehirnlähmung bei Kindern mit normaler Schwangerschaftszeit zur Folge hat.
Kopfdrehung und Verwendung der Geburtszange
Man schätzt, daß Ärzte in ungefähr 90 Prozent aller Fälle bei normalen wie bei komplizierten Entbindungen die Zange gebrauchen, offenbar weil sie glauben, daß die Zange sowohl notwendig als auch hilfreich sei. Bei extrem schwierigen Geburten mag die Verwendung der Zange unvermeidlich sein, aber gilt das tatsächlich für die meisten Geburten? Gewiß nicht. In einer Ansprache vor den Cerebral Palsy Institute Proceedings berichtete Dr. Winthrop Phelps, daß die Verwendung der Geburtszange ebenso wie die Verabreichung vom Medikamenten als mögliche Ursache der Gehirnlähmung in Frage kommt:
»... Wir müssen auch zugeben, daß es Geburtsverletzungen durch die Zange gibt, die Druck, Schädelfrakturen und subdurale Blutungen verursacht. Wir wissen auch, daß in dieser Situation kortikale Schäden auftreten und mit aller Wahrscheinlichkeit auch Lähmungen.«7
5 In: New Scientist, 21. Sept. 1978, 847-849. (Studie von Martin Richards, Medical Psychology Unit, Uni of Cambridge.)
6 Berichtet in: Los Angeles Times, 27. Mai 1970.
7 Berichtet in: Natural Childbirth and the Family, op. cit., S. 204.
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Selbst wenn es zu keinen schweren Schäden kommt, kann es Folgen für das ganze Leben geben. Wenn der Kopf grob gedreht wird oder wenn man zuläßt, daß er bei Beendigung der Geburt abrupt nach vorn fällt, wird der Nacken zum Brennpunkt der Geburtseinprägung. Ich glaube, das ist mit ein Grund dafür, daß Genickverspannungen ein so weit verbreitetes Leiden bei Erwachsenen sind — denn die unsachgemäße Drehung des Kopfes ist ein allgemeines Entbindungs-»Verfahren« in der westlichen Medizin.
Bedingungen im Entbindungsraum und Reizüberflutung
Nachdem das Neugeborene Stunden traumatischer Geburtserlebnisse durchgemacht hat, wird es oft mit einem großen sensorischen Input konfrontiert, der gewöhnlich eine Art Reizüberflutung zur Folge hat. Der Säugling wird zu hellen Lichtern und zu lauten Geräuschen im Entbindungsraum ausgesetzt, die als aufdringlich und überwältigend erlebt werden. Da die inhibitorischen Zentren noch nicht so entwickelt sind wie beim Erwachsenen, kann das Kind noch nichts ausschalten und sich an die Gegebenheiten der äußeren Umwelt anpassen wie ein Erwachsener.
Die Temperatur des Entbindungsraumes, zum Beispiel, kann ebenfalls zur Mißhandlung für das Neugeborene werden. Das Kind, das aus einem 37,8° C warmen Schoß in einen Raum mit Klimaanlage versetzt wird, in dem eine Temperatur von 20° C herrscht, fühlt sich bei dem raschen Wechsel nicht nur unbehaglich; es erlebt in den meisten Fällen einen Schock. Ein solcher Übergang wäre ein körperlicher Schock für einen Erwachsenen, aber der Erwachsene kann sich wenigstens von seinem Schock erholen. Der Säugling kann es nicht. Tatsächlich kann der thermale »Stellpunkt« des Kindes durch den frühen Schock permanent geändert werden, so daß später im Leben der geringste Zug eine Überreaktion auslöst, ein Frösteln oder gar eine Erkältung.
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Trennungsangst
Wenn es so etwas wie ein Grundtrauma mit lebenslangen Folgen gibt, so ist es die Trennung des Neugeborenen von seiner Mutter unmittelbar nach der Geburt.
Als wären der lange Geburtskampf und die Bedingungen im Entbindungsraum noch nicht genug gewesen, wird der Säugling auch noch von dem einen Menschen entfernt, der seine einzige Quelle des Trostes, seine ganze Welt gewesen war. Kein Wunder, daß so viele Neurotiker nicht allein sein können: ihr Eintritt in diese Welt war von dieser katastrophalen Einsamkeit unmittelbar nach der Geburt gekennzeichnet, als sie allein und ungetröstet in einen »Behälter« gelegt wurden. Das Neugeborene muß in diesem Augenblick mehr als zu irgendeiner anderen Zeit seines Lebens gehalten, getröstet und berührt werden.
Die Bedeutung des frühen Kontakts zwischen Mutter und Kind oder der Bindung an die Mutter war lange Zeit nur eine Theorie — aber nun ist durch Untersuchungen an Menschen und Tieren aus der Theorie eine beobachtete und meßbare Tatsache geworden. Bei Versuchen mit Affen wurde festgestellt, daß ein früher körperlicher Kontakt zwischen Mutter und Kind den Spiegel des Streßhormons Kortisol senkte.8 Das bedeutet, daß junge Affen ohne ausreichenden physischen Kontakt unter Streß standen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß dies auch für Menschenkinder gilt.
Untersuchungen an Säuglingen zeigen, daß der Blick-Kontakt unmittelbar nach der Geburt außerordentlich wichtig für die Mutter-Kind-Bindung ist. Früher glaubte man, das Neugeborene könne tagelang seine Augen nicht öffnen und wirklich »sehen«. Jetzt wissen wir, daß das nicht stimmt. Kinder, die natürlich und nichttraumatisch geboren werden, sind durchaus imstande, die Augen zu öffnen und ihre Mutter direkt anzusehen. Dazu kommt, daß die Bindung, die durch den direkten Blick-Kontakt eingeprägt wird, die Bindung durch körperliche Berührung und Nähe vertieft und um eine weitere Dimension bereichert.
8 Berichtet von H.E. Marano in: Medical World News.
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Das Stillen ist ebenfalls ein wichtiges Bindungserlebnis. Es gibt einfach kein Gefühl des Trostes und der Nähe für den Säugling, der allein in seinem Bettchen in der Klinik liegt. Selbst wenn der Säugling mehrere Male am Tag zum Stillen zu seiner Mutter gebracht wird, bleibt das prototypische Erlebnis der Trennung von seiner Mutter, nachdem er für nur wenige Minuten Trost und Nahrung von ihr bekommen hat. (Wir werden in einem späteren Kapitel sehen, wie dieses primäre Trennungserlebnis im Gefühlsleben des Erwachsenen auf vielerlei Arten verarbeitet wird.)
Grobe Behandlung ist ein Trauma, das von unseren Patienten oft wiedererlebt wird, und es scheint mit der Trennungsangst Hand in Hand zu gehen. Mit grober Behandlung meine ich nicht notwendigerweise eine grausame oder verletzende. Aber was ein erwachsener Beobachter als »wirksame«, »kompetente«, »sachliche« oder »professionelle« Behandlung seitens des Personals der Klinik ansehen mag, kann das Neugeborene als kalt, gefühllos und schmerzhaft erleben. Das Neugeborene ist seiner Umgebung vollkommen ausgeliefert. Es müßte geliebt werden, nicht sachlich oder wirksam - sondern so warm und zärtlich wie möglich. Ein Patient schrieb:
»Ich hatte den Kampf bei der Geburt verloren und fühlte mich völlig geschlagen. Das Leben war gegen mich. Ich fühlte, daß ich keine Gewalt über das hatte, was mit mir geschah. Während dieses Primals hatte ich das Gefühl, von verschiedenen Leuten herumgestoßen zu werden. Ich hatte große Angst. Ich weiß nicht recht, worum es bei diesen Feelings ging, denn ich sah im Geiste keine Szenen oder Bilder. Aber ich glaube, es waren der Doktor und die Schwestern, die mich nach der Geburt anfaßten.
Ich fühlte mich so allein. Ich schrie um Hilfe. Wo ist jemand, der sieht, wie sehr ich leide? Ich war sogar wütend darüber, daß sie so dumm sein konnten, mich weinen und schreien zu sehen und einfach weitermachen zu lassen. Ich wollte jemanden, der mich zärtlich hält und zur Ruhe kommen läßt. Dann hatte ich das Gefühl, ich wollte, daß mich niemand berührte, wenn es so grob sein mußte.«
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Elektronische Überwachung des Fetus
Eine neue, eng mit dem Problem der modernen Entbindungsmethoden zusammenhängende Technologie ist die elektronische Überwachung des Fetus — Electric Fetal Monitoring = EFM. Wert und Genauigkeit der dabei verwendeten Geräte sind Gegenstand einer weitreichenden Kontroverse.
Diese Geräte liefern kontinuierliche Aufzeichnungen des Herzschlags und Blutproben aus der Kopfhaut des Fetus. Die geringfügigsten Schwankungen des Herzschlags werden durch diese empfindlichen Instrumente hörbar und sichtbar gemacht. Was jedoch tatsächlich zu geschehen scheint, ist, daß die EFM-Aufzeichnungen bei etwa 80 Prozent der Patienten zu einer Überdiagnose von Störungen führen. Das heißt, daß Kinder als bedroht diagnostiziert werden, wenn sie es gar nicht sind, was in 80 Prozent der Fälle zu unnötigen Eingriffen führt.
Haesslein und Niswander stellten fest, daß »eine EFM-Meldung, von der man herkömmlicherweise annahm, sie zeige eine Notlage des Fetus an, in ungefähr 75 Prozent der Fälle falsch war«, und sie kamen zu dem Schluß, daß »das erhöhte Risiko für die Mutter, das mit einer allzu eifrigen Reaktion auf die eine Notlage des Fetus anzeigende EFM-Meldung verbunden ist, wohl nicht gerechtfertigt ist, wenn zwei Drittel der Säuglinge bei der Geburt keine Asphyxie erkennen lassen«.9
Um Information über EFM aus erster Hand zu bekommen, befragten wir unlängst Dr. Albert Haverkamp, der vier Jahre lang am Denver General Hospital EFM-Geräte auswertete. Er untersuchte insgesamt 483 Mütter mit hohem Risiko: die Hälfte der Frauen wurde während der ganzen Entbindung mit EFM-Geräten überwacht, die andere Hälfte auf die »altmodische« Art — durch Auskultation, das heißt, durch Abhorchen des Herzens des Kindes durch den Bauch der Mutter mit dem Stethoskop oder dem bloßen Ohr. Was Haverkamp und seine Kollegen feststellen wollten, war, ob es signifikante Unterschiede in bezug auf die Gesundheit des Kindes bei der Geburt zwischen den elektronisch überwachten und den auf herkömmliche Weise überwachten Kindern gab. Sie stellten keinen Unterschied fest, das heißt, den Kindern erging es mit Hilfe der EFM-Geräte nicht besser.
Haverkamp erklärt: »Wir haben uns 500 Patienten ohne Monitor angesehen, und der Monitor verbesserte dann nichts am Ergebnis. Bei allen Untersuchungen, die wir an den Kindern vornahmen — biochemischer Test nach der Geburt, Apgar Scores*, Blutgase, Besuch im Kinderzimmer und neurologische Untersuchung der Hälfte dieser Kinder, als sie neun Monate alt waren —, sah man keinen Unterschied.«
9 Haesslein und Niswander, op. cit., S. 245-253.
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Und noch ernüchternder:
»EFM gibt Ihnen mehr Daten, tatsächlich vielleicht zu viele Daten. Es ist sehr demütigend. Ich habe wohl ebensoviel Erfahrung im Auswerten von EFM-Aufzeichnungen wie irgend jemand sonst in den Vereinigten Staaten, und mit meinem ganzen Wissen und unserer ganzen Technologie, mit all den Anschlüssen, all den Geräten brachte ich es nicht so weit, daß dieses System irgendeinen Unterschied ausmachte ...«
Ironischerweise kann diese Art der Überwachung gerade das fördern, was es verhindern soll: die Notlage des Kindes. Wodurch? Durch diese kleinen Piep-piep-Töne, die wir alle aus Fernsehfilmen mit Krankenhausszenen kennen. Die Mutter hört die Schwankungen im Monitor und kann sagen, wann die Töne ein Problem anzeigen. Haverkamp nennt das ein »negatives Biofeedback«.
»Bei mindestens 40 Prozent aller Wehen kommt es zu einem signifikanten Absinken des Herzschlags des Kindes, das die Mutter im Monitor hört. Wenn die Kontraktionen weitergehen, wird die Nabelschnur meistens auf die eine oder andere Art eingeklemmt. Diese Symptome bleiben gewöhnlich nicht lange, und es gibt kein Problem für das Kind. Aber man hört es im Monitor, und die Schwestern reagieren darauf, alle reagieren darauf, und ich glaube, die Mutter macht sich Sorgen. Zumindest bei anderen Tieren, die zu den Primaten gehören, gibt es eine Notlage für den Fetus, wenn man sie stört, während sie ihre Wehen haben. Hier macht man dasselbe mit einem Menschen.
Ich kann es nicht beweisen, aber ich bin fest davon überzeugt, daß* Nach der amerikanischen Anästhesistin Apgar: Klassifizierung des Zustandes Neugeborener durch punktmäßige Beurteilung von Hautfarbe, Atmung, Reflexen, Herzschlag und Muskeltonus. (A. d. Ü.)
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ein negatives Feedback eintritt. Wenn Sie dagegen jemanden auskultieren, kommen Sie einfach herein, horchen und sagen: >Na also, das geht ja wunderbar.< Sie (die Gebärende) muß nicht Stunde um Stunde auf die Herzschläge ihres Kindes horchen, die schwanken. Nun sagen manche, das beruhigt sie. Aber selbst ich als Arzt, der weiß, daß dieses Absinken keine Probleme verursacht ... ich bin besorgt, wenn der Herzschlag plötzlich von 140 auf 60 sinkt. Ich weiß, wenn das so weitergeht, gibt es Schwierigkeiten. Und eine Frau weiß das auch.«
Es scheint daher sehr gut möglich zu sein, daß die Reaktion der Mutter auf die Monitortöne tatsächlich eine Notlage des Kindes verursachen kann, wo zunächst gar keine vorhanden war — die letzte Ironie auf dem Gebiet der Entbindungstechnologie.
Leboyer-Geburten: eine Lösung
Es besteht ein bemerkenswerter Unterschied zwischen der traumatischen und der nichttraumatischen Geburt. Das Kind, das eine natürliche Geburt hatte, ist entspannt und anspruchsloser. Die Eltern fühlen sich nicht erschöpft und aufgerieben, sie können eine freiere Beziehung zu ihrem Kind aufnehmen. Das Kind bekommt allein deshalb von Anfang an mehr, weil es mit weniger Schmerzen geboren wurde.
Paradoxerweise erhält das Kind mit mehr Urschmerz gewöhnlich weniger Aufmerksamkeit, obwohl es gerade mehr braucht. So siegen die Sieger weiter, und die Verlierer verlieren weiter. Das Ganze ist durch und durch unfair, und es beginnt mit dem Anfang des Lebens, wenn das kleine Wesen nichts dazu sagen kann.
Tatsächlich bilden ungeborene Kinder und Neugeborene eine schweigende und bis vor kurzem nicht vertretene Minderheit. Durch die Arbeit des französischen Gynäkologen Frederic Leboyer ändert sich das nun. Nachdem er Tausende von Geburten beobachtet hatte, erkannte Leboyer allmählich die mechanischen, gefühllosen Verfahren, die für Klinikgeburten typisch waren. Unabhängig von der Primärtherapie-Bewegung wurde ihm klar, daß diese Verfahren für das Neugeborene schmerzhaft und traumatisch waren. Interessant ist, daß Leboyers Entdeckungen aus der Beobachtung der Geburt selbst stammten, unsere dagegen aus der Beobachtung vieler Geburts-Primals — und daß wir zu denselben Schlüssen gelangten.
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Leboyer erkannte wie wir, daß die Geburt nicht schwierig oder traumatisch zu sein braucht, wenn sie natürlich und sorgfältig gehandhabt wird. Aber eine endgültige Bestätigung seiner Ansicht fand er, als er unsere Filme von Patienten sah, die die von ihm beobachteten Traumata wiedererlebten. Leboyer änderte seine Entbindungspraktiken, und um sich von dem Erfolg dieser Änderungen zu überzeugen, braucht man nur ein Leboyer-Baby »in Aktion« zu beobachten.
Leboyer wußte, daß Medikamente die Plazentaschranke durchdringen und in das System des Fetus gelangen, daher schaltete er die Verabreichung von Medikamenten an Gebärende aus. Er verstand, daß die gigantische Überdosis das Atmungssystem des Kindes so stark lahmt, daß es durch Schläge zum Atmen gebracht werden muß. (Ein Patient nach dem anderen hat während unserer Geburts-Primals gespürt, wie die Medikamente in sein System eindrangen. Sie werden schlaff, manche riechen so etwas wie Äther oder andere Narkotika, haben das Gefühl völliger Betäubung, sind gelähmt und werden bewußtlos.)
Leboyer trennt die Nabelschnur erst einige Minuten nach der Geburt durch, so daß das Kind noch eine Weile das mit Sauerstoff angereicherte Blut erhält. Das macht das erste Einziehen dieser neuen, Luft genannten Substanz etwas weniger schmerzhaft. Es hilft dem Neugeborenen, sich langsam an das Atmen zu gewöhnen. (Wir hatten Patienten, die während der Primais ein Brennen in der Nabelgegend spürten, sich aber dieses Gefühl nicht erklären konnten. Offensichtlich ist das frühe Abnabeln mit einem Trauma verbunden. Dieser vorzeitige Eingriff beeinträchtigt die Sauerstoffmenge im Organismus, und das Kind spürt die Unterbrechung, bevor es bereit ist, selbständig zu atmen.)
Das nächste, was Leboyer und wir wußten, ist, daß die ersten Schreie des Kindes auf dieser Welt nicht die natürlichen Begleiterscheinungen des beginnenden Lebens sind, sondern Angstschreie als Folge eines überwältigenden Traumas. Daher wird das Kind, statt daß man es mit dem Kopf nach unten hält und ihm auf das Gesäß klatscht — eine wahrhaft barbarische Praxis —, sofort in ein warmes Bad getaucht und dann der Mutter auf den Bauch gelegt. All diese Erlebnisse sind beruhigend.
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Leboyers Entbindungen werden alle bei stark gedämpftem Licht vorgenommen, so daß das Neugeborene nicht geblendet wird. Schließlich gibt es ja auch keine hellen Lichter im Mutterschoß. Leboyer selbst spielt leise auf der Flöte, während das Kind auf den warmen Leib seiner Mutter gelegt wird. Es wird massiert und gestreichelt. Seine Geburt war in jeder Hinsicht eine Freude. Bezeichnenderweise öffnet es die Augen, sieht — und lächelt. Konventionelle Ärzte halten das für unmöglich.
Es gab keine Zange und keine Drehungen, keine Narkosemittel, keinen Lärm, keine künstlichen Eingriffe, keine Trennung von der Mutter. Dem Kind wird ein kontinuierlicher Übergang vom Schoß zum Leib der Mutter ermöglicht. Alles ist Liebe, Wärme, Zärtlichkeit und Berührung. Es ist schwer, mit dieser Methode etwas falsch zu machen — sie scheint so selbstverständlich und natürlich zu sein —, und trotzdem ist Leboyer heute noch heftig umstritten. Tatsächlich zeigte sich in Kliniken ein starker Widerstand gegen die Durchführung der Leboyer-Geburt, das heißt ein Widerstand seitens der Ärzte. (In manchen Gebieten haben schwangere Frauen und ihre Ehemänner die Kliniken unter Druck gesetzt, die Leboyer-Geburt einzuführen.) Es scheint, daß sich Ärzte lieber auf Geburtenstatistiken verlassen als auf ihren eigenen Instinkt und ihre Logik.
Ich habe viele Leboyer-Kinder gesehen. Sie unterscheiden sich offensichtlich von anderen Kindern. Sie sind klug und aufgeweckt von einem Alter von nur wenigen Monaten an. Sie sind neugierig und lebhaft. Sie lachen laut. Sie weinen nur selten. Sie wimmern nicht. Ihre Augen glänzen, und sie haben keine Angst. Sie strecken ihre Arme nach Fremden aus. Ihre Gesichter drücken Intelligenz aus, und sie haben eine große Ruhe an sich. Sie sehen gesund aus. Sie schlafen weniger als andere Kinder, und ich glaube, sie schlafen besser.
Tatsächlich beweisen Untersuchungen, daß Leboyer-Kinder in vielerlei Hinsicht gesünder sind. Bei einer Studie, die Daniele Rapaport vom Französischen Nationalen Zentrum für Wissenschaftliche Forschung durchführte, wurde festgestellt, daß sich Leboyer-Kinder körperlich rascher und besser entwickelten. Sie begannen früher zu gehen, hatten weniger Schwierigkeiten bei der Erziehung zur Reinlichkeit und begannen früher, selbst zu essen. Sie litten nicht an Koliken wie andere Kinder.
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Und eine seltsame Entdeckung: die meisten waren beidhändig.10 Im allgemeinen glaube ich, daß das etwas mit einer besseren Ausgewogenheit zu tun hat. Gut ausgewogen zu sein, das kann eine buchstäbliche (physiologische) Bedeutung haben. Eine UCLA-Studie unserer fortgeschrittenen Patienten zeigte tatsächlich eine Veränderung in der Beziehung zwischen der rechten und der linken Hirnhälfte in Richtung einer größeren Harmonie.
Wir haben erst einige Jahre Studien und Beobachtungen hinter uns, daher wissen wir noch nichts von den Langzeitwirkungen, aber es scheint, daß die verbesserte Entwicklung von Dauer sein wird. Was abzuwarten bleibt, ist der Grad, bis zu dem die Leboyer-Geburt das Kind kräftigt, um spätere Traumata und Schwierigkeiten zu bewältigen.
Auch die Eltern von Leboyer-Kindern machten Veränderungen durch. Sie empfanden den Geburtsvorgang als ein tief ergreifendes Erlebnis. Die Väter zeigten ein außergewöhnliches Interesse an der Geburt. Die Wissenschaftler glauben, daß der Prozeß die Eltern-Kind-Bindung stärkt.
Mütter, die ein Kind nach der herkömmlichen und eines nach der Leboyer-Methode bekamen, berichten von einem großen Unterschied zwischen den beiden Kindern. Meine eigenen Beobachtungen an Kindern, die eine Leboyer-Geburt, und solchen, die eine konventionelle Geburt hatten, zwingen mich, dem voll und ganz zuzustimmen. Es scheint, daß Kinder spätere Traumata zweimal so gut verkraften können, wenn sie eine gute Geburt hatten. Die Empfindlichkeit des Nervensystems bei der Geburt, die hohe Valenz von eingeprägtem Urschmerz der ersten Ebene — das alles neigt dazu, das System zu stören. Die Traumata zerstören das Ich des Kindes, bevor es noch im Leben Fuß fassen kann.
Was ich über Leboyer-Geburten sagte, gilt in einem gewissen Grade auch für Menschen, die Geburts-Primals hatten. Sie haben sich selbst eine bessere Geburt geschaffen in dem Sinne, daß sie einiges von dem Schaden, der bei ihrer ursprünglichen Geburt angerichtet wurde, aufgelöst oder von sich abgestreift haben. Nach vielen Monaten der Auflösung von (Säuglings-)Urschmerzen der ersten Ebene sind diese Erwachsenen gesünder und ruhiger, und sie fühlen sich besser.
Offensichtlich ist die Auflösung eines Geburtstraumas nicht so gut wie das Nichterleben dieses Traumas. Geburts-Primals sind nicht dasselbe wie das Erlebnis einer behutsamen Geburt. Aber die Veränderungen, die wir bei Patienten sehen, wenn sie ihren Urschmerz wiedererleben, zeigen uns ebenfalls, was für ein großer Schaden durch frühe Traumata entsteht. Die dramatischen Persönlichkeitsveränderungen nach Geburts-Primals beweisen nur zu deutlich, zu was für Verzerrungen und Entstellungen es durch diese ersten Urschmerzen kommt.
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10 Für diese Tatsache gibt es verschiedene Deutungen. Es kann sein, daß sich das Gehirn in besserer Harmonie befindet, und ein wirklich harmonisches Gehirn funktioniert eben so: beide Seiten gleich. Man hat Beweise für Beidhändigkeit bei alten Völkern, wo der Geburtsvorgang, wie man annimmt, vollkommen natürlich war. Es führen mehr Nervenstränge zur linken Hirnhälfte (die für die rechte Hand zuständig ist). Ein Geburtstrauma kann die aufsteigenden Nervenstränge überlasten, besonders die zum linken Hirn, das mehr Stränge hat, um den Primal-Sturm zu absorbieren. Das kann zur Rechtshändigkeit führen.
Janov 1983