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    Teil 2    Die Mechanismen, die die Persönlichkeit formen   Janov-1983

4  Die Einprägung perinataler Ereignisse

 

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Werfen wir, ohne uns mit technischen Details zu belasten, einen kurzen Blick auf die Struktur des Gehirns, um besser zu verstehen, wie und wo Primär­schmerz festgehalten wird. Das Gehirn ist in drei konzentrischen Sphären oder Zonen organisiert. Jedes Sphäre besteht aus spezifischen Reihen von Nervennetzwerken, die ihr eigenes Bewußtsein und ihren eigenen Erinnerungsspeicher haben. Jede ist für einen anderen Funktions­bereich zuständig.

Die innere Zone des Gehirns nenne ich die erste Bewußtseinsebene; sie ist das innerste Gehirn, und ihre Aufgabe ist die Vermittlung aller viszeralen Funktionen. Urschmerzen, die vor, während oder einige Monate nach der Geburt auftreten, sind Schmerzen der ersten Ebene; sie traten zu der Zeit auf, in der sich die erste Bewußtseinsebene entwickelte.

Die mittlere Zone des Gehirns bildet die zweite Bewußtseinsebene; es ist die Ebene, die Gefühle und Emotionen vermittelt und verarbeitet. Urschmerzen der zweiten Ebene sind solche, die nach dem Alter von etwa einem Jahr auftreten, wenn die Entwicklung der zweiten Bewußtseinsebene beginnt. Hier werden emotionale Kindheitstraumata gespeichert. Die äußere Schicht des Gehirns bildet die dritte Bewußtseinsebene und entwickelt sich als letzte. Sie ist der Bereich des »Intellekts«, wo Ereignisse, die sich auf der ersten und der zweiten Ebene abspielen, durch Sprache und Symbolisierung ihre Bedeutung erhalten. Urschmerzen der dritten Ebene beginnen ungefähr im Alter von sechs Jahren und sind am wenigsten traumatisch.

Das Geburtstrauma und die ersten Bewußtseinsebenen    

Um die Wirkungen des Geburtstraumas auf das Neugeborene zu verstehen, müssen wir uns näher mit der ersten Bewußt­seinsebene beschäftigen, denn sie ist die einzige Ebene, die zum Zeitpunkt der Geburt ausreichend entwickelt ist.

Die erste Bewußtseinsebene kontrolliert viszerale Funktionen und umfaßt den Teil des Gehirns, der Reaktionen in der Mittellinie des Körpers vermittelt, das heißt in bezug auf Herz, Atmungsmuskeln, Harnblase, Magen, blutbildende Organe und Hormon­regulierung. Alles, was die erste Ebene betrifft, betrifft auch diese Funktionen. Die Reaktionen, gleich, ob es sich um die des Magens, der Lungen, des Herzens oder des Dickdarms handelt, werden mit einer Permanenz und Dauerhaftigkeit registriert, die größer sind als alle später erlernten Verhaltensweisen. Wir reagieren mit unserem Körpersystem, bevor wir schreien können, schreien, bevor wir durch Laute kommunizieren können, kommunizieren durch Laute, bevor wir Wörter aussprechen und sprechen Wörter aus, bevor wir ihre Bedeutung kennen. Jede Funktion ist von der Entwicklung des Nervensystems abhängig.

Die primitivsten Reaktionen haben mit der alten Mittellinie des Zentralnervensystems zu tun, die für Saugen, Schlucken, Würgen, Atmen, Keuchen, Verdauen, Ausscheiden und Schreien zuständig ist. Störungen, die während der Entwicklung des Mittel­liniensystems auftreten, können später Anorexie, Asthma, Kolitis, zwanghaftes Erbrechen und Magengeschwüre zur Folge haben. Auf jedes schmerzhafte Ereignis vor und während oder unmittelbar nach der Geburt erfolgt eine Reaktion im Sinne des Systems, das zu diesem Zeitpunkt ausreichend entwickelt und funktionsfähig ist.

Das Neugeborene und der Fetus können auf Bedrohung nur durch viszerale Funktionen reagieren. Der Herzschlag kann beschleunigt werden, der Blutdruck steigen, der Atem rascher und heftiger werden, die Magensekretionen können zunehmen und so fort. Alle diese körperlichen Reaktionen sind Verhaltensweisen, obwohl sie physischer und nicht verbaler Natur sind.

Traumatischer Druck auf der ersten Ebene manifestiert sich gewöhnlich in Form von Hyperaktivität und Hypermotilität des Kindes. Es ist aktiver, hat sehr unregelmäßige Schlafgewohnheiten und stößt ständig auf. Dreißig Jahre später hat dieselbe Energiequelle Schlaflosigkeit, Zwangsvorstellungen, Zwangshandlungen und Arbeitssucht zur Folge. Diese Kraft ist es, die jemanden zwingt, unaufhörlich zu trinken oder zu rauchen oder zu spielen. Jeder Impuls erfüllt seinen Zweck, da Trinken und anderes »impulsives« Verhalten nichts anderes ist als die Umwandlung dieser frühen elektrischen Impulse in psychologisches Verhalten. Das Verhalten ist zwingend, weil diese Impulse der psychologischen Hemmung durch einen entwickelten Kortex um Jahre vorausgehen.

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    Die Entladung von Primärschmerz    

 

Die Eingeweide und tief inneren Organsysteme der ersten Bewußtseinsebene erzeugen und erhöhen den Energie-Output des Organismus. Das steht im Gegensatz zu den anderen Bewußtseinsebenen, die dazu dienen. Energiezustände zu nutzen und damit zu vermindern. Die zweite Ebene, die die Tätigkeit der Körperwand (Muskulatur) steuert, vollbringt Arbeit, bei der Energie verbraucht wird; die dritte, für die Geistestätigkeit zuständige Ebene, verwendet für ihre Arbeit ebenfalls Energie.

Das alles bedeutet, daß Säuglings-Urschmerzen, die die erste Ebene betreffen, ein chronisch hyper­energ­etisches und hypermetabolisches System hervorbringen. Die erste, für die Steuerung und Regulierung des Stoffwechsels zuständige. Ebene muß Mehrarbeit leisten, um den Urschmerz zu verarbeiten. Daher geht ein erhöhter Stoffwechsel auf Schmerz und nicht notwendigerweise auf Gene zurück. Es wird dann eine lebenslange Aufgabe der beiden anderen Ebenen, diese überschüssige Energie auf die eine oder andere Weise zu entladen.

Jede Ebene entlädt überschüssige Primärenergie in der Reihenfolge ihrer Entwicklung. Zuerst, wenn das System noch nicht voll entwickelt ist, ist die Entladung beinahe rein viszeral (erste Ebene); in dem Maße, in dem sich die physische und die Muskelkoordination und der emotionale Ausdruck entwickeln, kann die Energie in die Körperwand oder Muskulatur fließen (zweite Ebene), wo wir körperlich reagieren, so daß sich die Muskeln spannen; und wenn schließlich der Neokortex (dritte Ebene) voll entwickelt ist, können Ideen die Energie absorbieren und entladen.

Im Erwachsenenalter geht die Energiefreisetzung den gleichen Weg. Zuerst fängt der Körper ein gegenwärtiges Trauma viszeral ab, dann über das Muskelsystem, und schließlich, wenn sich diese beiden Systeme als unzulänglich erweisen, schalten sich Ideen ein.

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Jede Ebene wirkt als Abwehrschranke für die nächste. Kommt der Schub von der ersten Ebene her, versucht die zweite, damit fertig zu werden, und es gibt emotionale Ausbrüche, Wutanfälle oder Alpträume. Später kommen dann jagende Gedanken. Es ist eine sich aufwärtsbewegende Aufeinanderfolge. Der Intellektuelle, der ganz mit dem Kopf lebt, kann oft zusammenhängende Gedankensysteme entwickeln und Urschmerz der ersten Ebene gut zudecken — so gut, daß er sich nie der Triebkraft bewußt wird, die hinter seiner Intellektualität steckt. Menschen, die nicht verstandesmäßig orientiert und physisch ungewöhnlich angespannt sind, können auf den Körper zurückgreifen, um Energie zu entladen. Zwanghaftes Dauerlaufen könnte als Beispiel dienen.

Wir haben also ein durch Verdrängung blockiertes Geburtstrauma, das einen Überschuß an Energie im System des Kindes aufbaut. Diese Energie wird allmählich in die Viszera kanalisiert und später Angst genannt; sie wird in die Muskeln geleitet und Spannung genannt; und sie wird schließlich in Ideen umgewandelt, aus denen die Zwangsvorstellungen des Neurotikers werden. Diese drei Arten der Behandlung desselben Urschmerzes sind nicht verschiedene Krankheiten, sie sind einfach verschiedene Manifestationen derselben Krankheit.

Selbstverständlich verschärfen Traumata der zweiten und dritten Ebene das Problem. Sie vergrößern die allgemeine Schmerzlast. Aber diese Schmerzebenen sind leichter zugänglich. Da der Schmerz im späteren Verlauf der Entwicklung des Gehirns aufgetreten ist und nichts mit der Geburt zu tun hat, geht es nicht um Leben oder Tod, und seine Valenz ist daher viel geringer als die von Urschmerz der ersten Ebene. Ein Verlust der Stellung kann quälend sein, aber er kann nie so schmerzhaft sein wie die Abschiebung in ein Internat im Alter von sechs Jahren. In ein Internat gesteckt zu werden, kann oft entsetzlich sein, aber es ist im Hinblick auf den Urschmerz und die Spannung, die im System geschaffen wird, nie so traumatisch, wie bei der Geburt beinahe von der Nabelschnur erwürgt zu werden.

Ein Grund ist einfach der, daß das Gehirn, mehr Mittel einsetzt, um das Trauma zu bewältigen, während es sich entwickelt. Es gestattet mehr alternative Reaktionen. Der Erwachsene kann sich bei seinem Ehepartner beklagen. Er kann rauchen, trinken, ein Beruhigungsmittel nehmen oder jemanden anrufen.

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Auch das Kind kann viel mehr tun als der Säugling, der absolut nichts tun kann — außer den Schmerz ertragen. Der Säugling hat nur eine Alternative: den Schmerz fühlen oder ihn verdrängen. Aber nach einer seltsamen Dialektik muß er ihn weiter fühlen, wenn er ihn verdrängt. Das heißt, er muß ihn unbewußt weitererleben.

Die auf jeder Bewußtseinsebene eintretenden Traumata bleiben als reverberierende Kreisläufe von Urschmerz zurück. Diese Schmerz-Kreisläufe alarmieren den Körper gegen Gefahr — gegen die Gefahr des Bewußtseins. Schmerz der ersten Ebene erreicht das durch Stimulierung der Ausschüttung von Endorphine genannten schmerzbetäubenden chemischen Substanzen. Gewöhnlich entspricht die Ausschüttung der betreffenden Stärke des Schmerzes.

Schmerzen der ersten Ebene bewirken die Produktion von morphinähnlichen Substanzen, die bis zu tausendmal wirksamer sein können als im Handel erhältliches Morphin (Morphium). Ist jedoch der chronische Schmerz zu stark, kann die Endorphin-Produktion ihre Aufgabe nicht erfüllen. Ein zerrüttender Schmerz erreicht zu früh das Bewußtsein, und Wahnsinn oder der Tod kann die Folge sein. Das menschliche System ist somit darauf abgestimmt, Unbewußtheit zu erhalten (indem es den Urschmerz einprägt, anstatt ihn bewußt zu fühlen), um seine Integrität zu bewahren.

 

    Die Einprägung    

 

Drei kritische Faktoren sind an der Einprägung eines frühen Traumas beteiligt: Input (oder Quantität), Reaktion (oder Qualität) und der Zeitfaktor. Alle drei Faktoren vereinigen sich, um Primärschmerz als physische Realität in unseren Körper einzuprägen oder zu kodieren.

Input und Reaktion

Die Einprägung des Geburtstraumas umfaßt zwei Arten von Erinnerung: die Erinnerung an das Ereignis selbst, den Kontext und die damit verbundenen Empfindungen und die Erinnerung an die jeweilige Schmerzmenge.

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Diese beiden Erinnerungen besetzen verschiedene neurale Schaltkreise. Übermäßiger Input wird in die Teile des Gehirns abgeleitet, die genetisch dazu bestimmt sind, Überbelastungen zu bewältigen. So wird die Information nicht durch eine Relaisstation (bekannt als Thalamus) an den Kortex weitergegeben, wo sie bewußt werden würde. Sie wird vielmehr in eine Art von Reservoir umgeleitet und dann an Gehirnbereiche weitergegeben, die entsprechend reagieren können. Das betrifft gewöhnlich das Limbische System und das aktivierende retikuläre System, die zusammen das ganze System mobilisieren. Die Energie hallt außerhalb des Limbischen Systems das ganze Leben lang wider. Daher weiß der »Geist« nicht, was unten vorgeht, aber der Körper weiß es und reagiert entsprechend. Wir werden »angekurbelt« und wissen nicht, warum.

Wann immer ein Schmerz in das Nervensystem eingraviert wird, wird auch die Reaktion auf diesen Schmerz eingeprägt. Daher haben pränatale und natale Traumata sowohl eine quantitative als auch eine qualitative Wirkung. Da ist zum einen der Input oder die Überbelastung (Quantität) des Schmerzes, der registriert und auf unteren Ebenen des Gehirns verarbeitet wird, und zum anderen eine Registrierung der Reaktion auf diesen Input (Qualität), die fixiert wird und später den Verhaltenstyp determiniert. Schmerz und Reaktion sind eine Einheit, die prototypisch wird, so daß unter jedem späteren Streß das ursprüngliche Reaktions­muster wieder automatisch ausgelöst wird.

Die Erinnerung an den Schmerz-Input nimmt die Form von zurückbleibender Spannung oder Energie an, die eine gewisse Valenz hat und durch den ganzen Körper nachhallt, um durch das eine oder andere System absorbiert zu werden, sei es das Blut, die Muskeln oder das Gehirn. Dieser Prozeß kann gemessen werden: ein Elektromyograph zeigt eine übermäßige Muskelspannung an, und eine Blutdruckmessung ergibt einen höheren Druck.

Die Menge der angesammelten Energie (Quantität) bestimmt die Stärke und Hartnäckigkeit der späteren neurotischen Reaktion, während die Art der Situation und Reaktion (Qualität) die Richtung festlegt, die das Verhalten einschlagen wird. Eine massive Verabreichung von Medikamenten an die Mutter (Input), die den Fetus beinahe tötet, prägt für das ganze Leben eine Passivität und Lethargie ein (Reaktion).

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Lange, schwere Wehen (Input), während derer der Fetus hart um sein Leben kämpfen mußte, prägen fürs Leben Aggressivität und Tatkraft ein (Reaktion). Input und Reaktion sind Zwillingsaspekte des eingeprägten Traumas, und wir werden später sehen, wie beide Aspekte in der Art, wie sie eingraviert wurden, wiedererlebt werden müssen, um die Wirkungen dieses Traumas aufzulösen.

 

    Der Zeitfaktor  

Der Zeitpunkt des Inputs bestimmt entscheidend den Grad des Traumas. Ein bestimmter Input von Schmerz während der Zeit, in der das Nervensystem und seine Hormone gerade erst organisiert werden, muß eine viel verheerendere Wirkung haben als derselbe Input Monate später. Je früher das Trauma eintritt, desto größer ist seine Wirkung auf die spätere Funktion und Entwicklung (und desto schwerer ist es aufzulösen). Eine Stunde lang unmittelbar nach der Geburt (Zeitfaktor) in einem Klinikbettchen allein gelassen zu werden (Input) kann für das System des Säuglings viel traumatischer sein (Reaktion), als im Alter von drei Monaten eine Stunde lang allein gelassen zu werden.

 

    Der Kodierungsprozeß    

 

Die Einprägung des Geburtstraumas wird von den Teilen des Nervensystems kodiert, die weit genug entwickelt sind, um den Schock zu registrieren. Eine der Methoden festzustellen, welche Strukturen entwickelt sind, ist die Beobachtung des Grades der Myelinisierung. Myelin ist in der aus Fetten und Eiweiß bestehenden Scheide enthalten, die die Nervenfasern umhüllt und deren Funktionsbereitschaft anzeigt. Die Einprägung wird im ganzen Nervensystem selbst und in den verschiedenen Schlüsselstrukturen aufgenommen, die sensorischen Input verarbeiten.

Bei der Geburt registriert das Nervensystem Schmerz, Druck, Schwerkraft, Drehung, Geruch, Temperatur, Berührung und bis zu einem gewissen Grade Sehen und Hören. Die sensorischen Wurzeln, die Hör- und Sehnerven, haben bei der Geburt alle schon mit der Myelinisierung begonnen. Die Information über Hautbewegungen ist schon vor der Geburt gut entwickelt.

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Diese sensorischen Eindrücke werden vom Säugling nicht in Form von Ideen und Begriffen, sondern in Form von reinen Empfindungen erlebt. Ein Erwachsener, der seine Geburt im Entbindungsraum wiedererlebt, kann die Menschen sehen, auf das Licht reagieren, stählerne Gegenstände wahrnehmen, den Druck fühlen und dann, mit Hilfe seines später entwickelten Kortex, im Primal erkennen, daß das, was er wiedererlebt hat, ein Teil der Entbindungsszene war. Das ist die Berührungsstelle zwischen den Empfindungen des Neugeborenen und den bewußten Wahrnehmungen des Erwachsenen, und sie gestattet die Integration und das Verständnis von zusammenhanglosen Empfindungen, die früh auftraten, als das Nervensystem noch nicht voll entwickelt war.

Die Empfindungen, die der Säugling registriert, werden im System fixiert, jedoch auf eine unverbundene Weise, so daß der Erwachsene später unter Streß einen gewissen Schmerz im Rücken oder Nacken, ein Druckgefühl im Kopf, in einem Gelenk oder in einer Gruppe von Muskeln spürt, aber keine Ahnung von irgendeiner spezifischen Ursache hat. Auch die Alpträume des Erwachsenen registrieren diese Empfindungen, und die zweite und dritte Bewußtseinsebene bauen um sie herum eine Geschichte auf, um sie sowohl symbolisch als auch logisch zu machen. Sie können, wie wir noch sehen werden, den Stoff für epileptische Anfälle oder das Material für psychotische Halluzinationen liefern.

 

Schmerzforschung

Die Bestätigung der Tatsache, daß Schmerz buchstäblich ein eingravierter Prozeß ist, liefert die Arbeit von Morpurgo und Spinelli1. Sie entdeckten, daß die anatomischen Einprägungsbereiche im Gehirn mit zunehmendem Schmerz größer werden: der Schmerz besetzt eine größere Oberfläche des Gehirns und kann sogar die meisten Gehirnfunktionen beherrschen.

Morpurgo, C. B. und Spinelli, D. W., »The Plasticity of Pain Perception«, in: Brain Theory Newsletter, Vol. 2, No.1, Okt. 1976, S. 15.

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Das anhaltende Schmerzerlebnis wird in neue neurale Gehirnschaltkreise eingraviert, so daß »mehr und mehr von der Neuromaschinerie darauf vorbereitet wird, als schmerzhafte Reize zu erkennen, was bei einer normalen Person völlig unbeachtet bleiben würde«.

Das bedeutet, daß die ursprünglich unbeteiligten Neuronen Teile der Neuromaschinerie des Schmerzes werden. Es entsteht ein Schmerz-»Filter«, durch das wir die Welt zu sehen beginnen. Dieses Schmerzfilter formt unsere Wahrnehmungen, Einstellungen und Anschauungen und verleiht den äußeren Ereignissen eine bestimmte Bedeutung. Ein immer größerer Teil des Gehirns wird in das Schmerzsystem umgewandelt, und es bleibt weniger übrig für die echte Arbeit der Lösung der täglichen Probleme. Das Gehirn selbst erleidet eine Verzerrung, so daß es nicht mehr normal funktioniert. Die Frequenz und Amplitude der Hirnwellen ändern sich, und ebenso ändert sich die Beziehung zwischen der rechten und der linken Himhemisphäre. Werden die frühen Traumata wiedererlebt, so wird diese Beziehung wieder normalisiert. Diese Veränderungen können von Neurologen gemessen werden und wurden auch gemessen.2) 

Eine weitere Implikation der Untersuchungen Morpurgos und Spinellis ist, daß die Schmerz­reaktions­schwelle herabgesetzt wird. Das heißt, daß auch schon ein sehr geringer Streß eine traumatische Reaktion auslösen kann. So kann, zum Beispiel, die Einprägung, die zu einem Asthmaanfall führt, durch einen flegelhaften Kellner, oder die Einprägung für einen epileptischen Anfall kann durch ein Händeklatschen oder einen lauten Ruf aktiviert werden.

Die Forschung zeigt, daß frühe schmerzhafte Erlebnisse physisch größer sind als neutrale Erlebnisse, daß sie tatsächlich die Gehirnstruktur verändern und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinträchtigen. Die Charakteristika jedes einzelnen Neurons im Gehirn hängen von der Natur unserer frühen Erlebnisse ab, und die Art, wie das Gehirn als Ganzes später im Leben arbeitet, ist das Ergebnis dieser sehr frühen formenden Erlebnisse.

Hoffman, Eric, »Report on the Hemisphere Changes in Patients Undergoing Psychotherapy«, 1980, zus. mit Professor Leonid Goldstein, Rutgers University.

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Morpurgo und Spinelli erklären, daß »die Nervenschaltkreise, die Schmerz wahrnehmen, sowohl was die Beschaffenheit als auch was die Anzahl betrifft, selbst durch frühere Erlebnisse strukturiert sind«.

In <Gefangen im Schmerz> sagte ich: 

»Die Einprägung von Urschmerz fixiert ein permanentes Ungleich­gewicht in der Biochemie des Gehirns — ein Ungleichgewicht, das entsteht, um frühen Streß zu bewältigen ... Die verschobene biochemische Anordnung bleibt während des ganzen Lebens bestehen und zwingt den Menschen, sich eine neurotische Umwelt zu konstruieren, um in Übereinstimmung mit seinem veränderten System zu bleiben. Beispielsweise wird sein persönliches Tempo beschleunigt, um einem aktivierten Gehirn zu entsprechen. So baut eine Umwelt ein neues Gehirnsystem auf, das sich wiederum eine neue Umwelt schafft

 

Ich glaube, daß unter der Wirkung des Geburtstraumas die verwundbaren Zellen vielleicht eine große Anzahl von »neutralen« Neuronen rekrutieren müssen, um die Verletzung zu absorbieren. Das Trauma beeinträchtigt dann einen ungewöhnlich großen Gehirnraum und kann so unser Verhalten beherrschen. Die rekrutierten Neuronen bilden eine diese Prägung umgebende Barriere und sorgen dafür, daß sie nicht das Bewußtsein erreicht. Wenn das nicht geschähe, wenn es keine Schleusen gäbe, die im Gehirn wirken, um uns verdrängt und unbewußt zu erhalten, würden das Neugeborene, der Säugling, das Kind von einem katastrophalen Urschmerz überwältigt, der leicht zur völligen geistigen Zerrüttung oder zum Tod führen könnte.

Die Arbeit E. Roy Johns, eines bedeutenden Wissenschaftlers am <New York Medical College> auf dem Gebiet der Neuro­physiologie, ist auch in bezug auf Einprägungen aufschlußreich. Er versetzte Tiere in traumatische Situationen und konditionierte (paarte) einen neutralen Reiz, etwa einen Summton, mit dem Trauma. Später weckte der Summton allein ein Faksimile des frühen Traumas in den Hirnwellenmustern der Tiere. Kurz, die Tiere reagierten auf ihre eingeprägte Geschichte anstatt auf die gegenwärtige Wirklichkeit. Das zeigt, wie früher gespeicherte Erinnerungen, wenn sie ausgelöst werden, Reaktionen bestimmen, die wenig mit dem zu tun haben, was in der Gegenwart vor sich geht.

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Von etwas abgehalten werden, was man tun möchte, kann Wut bei einem Menschen auslösen, der eine gespeicherte Erinnerung daran besitzt, daß er während der Geburt von einer Schwester zurückgehalten wurde. Die latente Wutreaktion ist ein Teil der alten Einprägung. Ebenfalls in Gefangen im Schmerz schrieb ich:

»Das Trauma ist eingeprägt, so daß ein exaktes Duplikat des ursprünglichen Ereignisses im Gehirn weiterlebt. Der Körper und das Gehirn reagieren dann so, <als ob> die ursprüngliche Situation noch immer bestehen würde, und das biochemische Ungleichgewicht wird aufrecht­erhalten.«

Aber die Einprägung ist nicht nur im Gehirn vorhanden. Sie ist in beinahe jeder Nervenzelle des Körpers kodiert. So werden, zum Beispiel, Zellen, die genetisch dafür programmiert sind, Gefühle zu vermitteln, für die Zwecke der Verdrängung verwendet. Neue, umdirigierte Nervenbahnen werden dazu benutzt, die Schmerzbotschaft von überlasteten Zentren wegzuleiten, und Zellen ändern sich in bezug auf ihre Durchlässigkeit, ihr Aktionspotential und ihre Reaktivität. Durch diese Prozesse wird die Erinnerung fixiert. Das genetische Programm ist verkümmert. Unter dem Angriff des Schmerzes kann das DNS-Molekül, das den genetischen Code weitergibt, zu einer neuen Schablone werden, so daß die Zelle nun einen anderen Code verwendet. Der Schmerz hat regelrecht »die Spielregeln geändert«.

Mehr über Einprägungen erfahren wir noch auf eine andere Weise. Bei gewissen Erkrankungen des Gehirns mit einer ausgedehnten Schädigung des Kortex gibt es oft ein »Freisetzungs«-Phänomen, das den Betroffenen augenblicklich in die fetale Geburtslage versetzt. So erfahren wir, wie tief im System diese Geburtsereignisse kodiert sind. Anders gesagt, der Säugling in uns wartet ständig darauf hervorzutreten, und dieser Säugling wird vom Kortex niedergehalten. Wird diese Hemmung gelockert, so sehen wir auch schon die Geburtsbewegungen. Das Sichwinden und die Lähmung der Hände und Handgelenke zeigen wieder, mit was für einem primitiven Nervensystem wir es zu tun haben.

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Die Unterleibsmuskeln der Mittellinie arbeiten in einer Art von Sinuswellen-Rhythmus im Verein mit den Muskeln links und rechts der Wirbelsäule und bringen die salamanderartigen Bewegungen zustande, die wir beim Neugeborenen beobachten — aber auch bei Fischen und Schlangen. All das unterliegt der Kontrolle des Nervensystems der Mittellinie, das die innersten Teile des Gehirns bildet, das heißt die Teile, die schon vor der Geburt voll organisiert sind. Die Tatsache, daß höhere Funktionen während der Geburtssequenz nicht in Erscheinung treten, sagt uns, was für eine Art von Nervengewebe im Spiel ist.

 

Das Gehirn muß sich, um zu überleben, auf seine ältesten Strukturen stützen, wenn seine in jüngerer Zeit erworbenen Strukturen aus dem einen oder anderen Grund nicht funktionieren können. Im Falle eines massiven Traumas ist der Kortex überwältigt und kann seine Aufgabe nicht erfüllen. In der Primärtherapie haben wir Mittel gefunden, die Funktion des Kortex zeitweilig zu beeinträchtigen, um das »Freisetzungs«-Phänomen zu erreichen. Und dann sieht man die Säuglingshaltung, das Weinen und Wimmern des Säuglings, die abnormalen Kopf- und Handhaltungen. 

Dieses freie Verhalten stellt eine Kombination von Erinnerung und einem »Abschälen« höherer neurolog­ischer Funktionsebenen dar. Es muß betont werden, daß man diese primitive Reaktion unabhängig davon erhält, ob der Neokortex psychisch oder physisch ausgeschaltet wird. Die Freisetzung geht auf die Einprägung zurück, nicht auf die Ursache der Beeinträchtigung. Es gibt, kurz gesagt, eine innere infantile Organisation, und durch diese Organisation wird die Prägung freigesetzt. Das ist nicht nur eine Erinnerung; es ist eine Gruppe von Verhaltens­weisen, die auftreten, wenn eine gewisse Ebene der Hirnorganisation wirksam wird. Dies ist ein ziemlich komplizierter, aber wichtiger Punkt: die Prägung wird freigesetzt, sobald die oberen Bewußtseinsschichten weggeschält werden und damit die tieferliegende Organisation auf ihre Weise wirken kann.

Beim Beginn eines Primais kommt es zu einem enormen Input an elektrischer Energie von innen, die die Funktionen des Kortex blockiert und damit den Körper automatisch dazu bringt, sich auf die nächsttiefere Ebene zurückzuziehen.

Es gibt eine Gehirnstruktur, die als Speicher für all diese Schmerzen dient und den Zugang zu den Erinnerungen eröffnet: den Hippokampus. Durch chirurgische Methoden, ist es möglich, diese Sammlung von »Karteikarten« regelrecht schichtenweise wegzuschneiden und die frühen Erinnerungen zu beseitigen.

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Die Erinnerungen sind im Hippokampus außerdem von den frühesten bis zu den späteren in einer bestimmten Reihenfolge festgelegt. Dieses Register-System erlaubt uns den Zugang zu Erinnerungen, die in holographischer Form über das ganze Gehirn verteilt sind, so daß beinahe jeder Aspekt oder jeder Bereich der Erinnerung in der sogenannten »Reminiszenz« die ganze Erinnerungssequenz reaktivieren kann. In der Primärtherapie kann ein Äthergeruch oder der Anblick weißer Mäntel oder irgendein anderer einschlägiger isolierter Reiz eine ganz frühe Sequenz der Erlebnisse des Neugeborenen im Entbindungsraum reaktivieren.

Unlängst wurde eine Reihe hypnotischer Experimente mit kleinen Kindern durchgeführt, bei denen diese ihre Geburt in Einzelheiten zu beschreiben imstande waren, und zwar in Übereinstimmung mit den offiziellen Aufzeichnungen über ihre Geburt und mit den Erinnerungen ihrer Eltern. Diese Ergebnisse wurden sowohl von David Chamberlain bei den American Society of Clinical Hypnosis Meetings im Jahre 1980 als auch von David Check, einem Gynäkologen in San Francisco und bekannten Hypnoseforscher, berichtet.

Chamberlain sagte, daß »Geburtserinnerungen einen Durchbruch liefern können, um ein Bild, das durch andere Bemühungen sorgfältig zusammengetragen wurde, zu verstehen oder weiter zu vervollständigen«. Er dokumentierte einhundert Fälle von berichteten Geburts- oder Uterus-Erinnerungen und kam zu dem Schluß, daß die »üblichen Rituale der Geburtshelfer dringend der Vermenschlichung bedürfen«.3 Chamberlain hob hervor, daß Geburtserinnerungen echt und wahr sind.

Die Erinnerung an die Geburt bleibt zweifellos erhalten und kann wieder geweckt werden. Die Kinder erinnerten sich bei den erwähnten Experimenten an Dinge bei ihrer Geburt, obwohl sie keine Wörter oder Begriffe besaßen, um diese Dinge zu beschreiben, als sie sich ereigneten. Als Neugeborene sahen sie helle Lichter, glänzende Gegenstände, weiße Mäntel und Gesichtsmasken — aber nur als nichtverbale Eindrücke. Erst später, mit der Entwicklung des Kortex, waren sie imstande, all die unvereinbaren Eindrücke in Worte zu fassen und ein ganzes Bild von dem Geschehenen zu schaffen.

Aus Brain / Mind Bulletin, 20. Jan. 1981, Bd. 6, No. 4, S. 2.

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Was ich hier darlegen möchte, ist, daß das ganze Erlebnis des Traumas weiterlebt und seine Wirkung auf das System hat. Die Erinnerung an das Leiden wirkt auf einer anderen Bewußtseinsebene als die Erinnerung an die Szene selbst. So ist es jemandem möglich, sich leicht an ein traumatisches Kindheitserlebnis zu erinnern, aber die Erinnerung ist völlig neutral, da die Leidens­komponente noch verdrängt ist. Die Leidenskomponente der Erinnerung bleibt unaufgelöst, und sie ist es, die schließlich wiedergefunden werden muß, damit die Einprägung endlich aufgelöst wird.

Die Einprägung und die Quantität ihrer Energie oder ihr Affekt werden von der Größe der Bedrohung des Lebenssystems des Organismus bestimmt. Je größer die Bedrohung, desto tiefer der Urschmerz und desto umfangreicher und tiefer auch die Einprägung. Diese Art von Einprägung wird anschaulich dargestellt in der klinischen Arbeit des Neurologen unseres Mitarbeiterstabs. 

Das folgende Beispiel zeigt, worum es geht:

Ein Mann, der für ein Gaswerk die Zähler ablas, wurde auf einer seiner Runden von einem Hund angefallen, der ihn an den Unterleibsmuskeln packte und nicht mehr loslassen wollte. Der Mann schlug den Hund mit einem Stock beinahe bewußtlos, und als er sich gerade ein wenig erholt hatte, griff der Hund wieder an und packte ihn am Schenkel. Sosehr der Hund auch geschlagen wurde, er ließ nicht los, und der Schenkel des Mannes wurde zerfleischt. Der Mann erkannte, daß sein Leben in Gefahr war und daß er sterben mußte, wenn er nicht rasch etwas unternahm. Es gelang ihm, sich auf den Hund zu werfen und ihn zu erdrücken.

Dies war eine Prägung, und zwar eine so starke, daß der Mann, wann immer er später die Augen schloß, den angreifenden Hund sah und die ganze diesem Erlebnis entsprechende Angst empfand. Er wurde nachts viele Male von demselben Alptraum des an seinem Schenkel hängenden Hundes geweckt. Es war wie eine Art »Standfoto« aus einem Film, auf dem das Ereignis für alle Zeiten festgehalten war. Man kann hier wieder sehen, wie ein massives Geburtstrauma auch diese Art von Rückblenden-Phänomenen mit wiederkehrenden Alpträumen, schlechtem Schlaf und so fort produzieren kann. Diese Erinnerung ist ein reverberierender Kreislauf.

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Die Geburtseinprägung hinterläßt Folgeerscheinungen anderer Art — nicht visuelle Szenen, sondern »Feelings«. Ein enger oder überfüllter Aufzug, zum Beispiel, kann das Geburtserlebnis mit seinem Gefühl der Klaustrophobie wiedererwecken. Diese frühe verknüpfte Furcht wird später, wenn man einen Aufzug benutzt, zu amorpher Angst; die Verbindung zu den Wurzeln ist verlorengegangen. Nach der Wiederverknüpfung wird aus der Angst Furcht und Schrecken im Zusammenhang mit dem ursprünglichen spezifischen Trauma.4

Man braucht wohl so etwas wie die Begegnung mit einem tollen Hund, um, was die Stärke anbelangt, der Geburtseinprägung nahezukommen. In all diesen Situationen wird die Energie im Limbischen System eingeschlossen, das dann als Kondensator wirkt und die Energie auf verschiedene Weise entlädt — in Form von Tics, Weinanfällen, Schreien, Wutausbrüchen, Epilepsie oder Stottern. Damit entledigt sich der limbische Kondensator eines Teils seiner Last, so daß der Organismus einen gewissen Grad von Gleichgewicht und Stabilität aufrechterhalten kann.

Einige neue Forschungen haben gezeigt, daß sich, je näher man längs der Nervenbahnen dem Limbischen System kommt, die Anzahl der Opiat-Rezeptoren vermehrt. Diese Opiat-Rezeptoren sind dafür ausgerüstet, Verdrängung biochemisch zu bewerkstelligen, und sie zeigen an, wie das Schleusen oder Blockieren zunimmt, wenn man sich dem Limbischen System nähert. Dieses System scheint also die Aufgabe zu haben, Überlastung zu bewältigen. Je näher man der Überlastung kommt, desto nötiger ist es zu schleusen und zu verdrängen. Das Limbische System muß den Organismus gegen katastrophalen Schmerz schützen, so daß er nicht Schock, Tod oder chronische Anfälle erleidet.

 

Es gibt neue Hinweise darauf, daß Nervenzellen eine Substanz absondern, die bestimmt, welche anderen Nervenzellen sich mit ihnen verbinden. Die Identität des Stoffs ist noch unbekannt, aber seine Existenz gilt als erwiesen. Bei dem Trennungsprozeß zwischen Feelings und dem bewußten Gegenstück können gewisse neurale Schaltkreise einander nicht mehr »erkennen«. Bei der Wiederverknüpfung wird die Biochemie des Gehirns normalisiert, so daß die Nervenfortsätze einander schließlich wieder finden und den Schaltkreis nach der ursprünglichen Absicht vervollständigen. Dies entspricht dem Erkennen eines Antigens durch einen spezifischen Antikörper bei der Immunreaktion.

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In Zukunft wird es möglich sein, durch Messung der Spannung bestimmter Teile des Limbischen Systems die Quantität der Neurose zu bestimmen oder zumindest die mit der Einprägung verbundene Energiemenge und damit die Quantität der Motivierungskraft späteren neurotischen Verhaltens im Erwachsenenalter zu messen. Umgekehrt wird es durch Primals möglich sein, den Grad der Auflösung von Schmerzquantitäten zu messen und dabei zu entdecken, wie sehr das Unbewußte hinsichtlich seines Motivationsdrucks auf die Symptome und das Verhalten Erwachsener reduziert wird.

    Wirkungen der Prägung    

Da die Einprägung eines Traumas ein vollständiges System umfaßt, entstellen oder beeinträchtigen Schmerzen der ersten Ebene viele Funktionen. Wir werden in späteren Kapiteln sehen, wie es beispielsweise zu chronischen Magenbeschwerden oder einem raschen Herzschlag, einem zu hohen Blutdruck oder einer leicht erhöhten Körpertemperatur kommen kann. Ebenso kann es Hormonstörungen geben, die zu Krankheiten wie Hypoglykämie und Diabetes führen. Kurz, alle Arten von körperlichen Leiden können ihren Ursprung in einem frühen Trauma haben. Die Funktionsstörungen und nachfolgenden Leiden sind Teile der Erinnerung an das Trauma. Die Leiden sind mit der Einprägung als eine einzige Reaktionseinheit verflochten. Chronische Hypersekretionen von Magensäure, die zu Geschwüren führen, sind Teil eines eingeprägten Erinnerungsschaltkreises. Ein anderes Beispiel wäre die zu Asthma führende Verengung der Bronchiolen.

Das bedeutet, daß »Erinnerung« nicht nur etwas ist, woran wir denken und was wir uns wieder vor Augen führen. Die körperliche Erinnerung ist immer da und mahnt uns, daß etwas Schreckliches geschehen ist, dessen wir uns nicht bewußt sind. Das Leiden ist nun Teil der Erinnerung. Das müssen wir beachten, wenn wir an Auflösung denken; denn wir müssen zurückgehen und die gesamte Erinnerung in einem Trauma wiedererleben, und dazu gehören auch Hypersekretionen. Da die Erinnerung psychobiologisch ist, muß auch die Auflösung durch Wiedererleben psycho-biologisch sein. Die bloße Psychotherapie genügt nicht.

Da biologische Prozesse die Einprägung widerspiegeln, tritt eine Veränderung in der Beziehung der verschiedenen Streßhormone ein; es kommt zu einer Änderung der Sexualhormone, einer ständigen Konstriktion verschiedener Blutgefäße und einer permanenten, wenn auch leichten Erhöhung aller vitalen Funktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck und Puls.

Die Einprägung wird durch diese biochemischen und neurophysiologischen Veränderungen »festgehalten«. Sie ist gerade deshalb so schwer auszumerzen, weil sie die Erinnerung an eine Adaptation ist. Und der Körper zögert, seine lebensrettenden Erinnerungen aufzugeben.

Die Wirkung einer eingeprägten, aber unzugänglichen Erinnerung ist, daß sich die Persönlichkeit um die Einprägung herum entwickeln muß. Blockierte Feelings dirigieren die Entwicklung. Diese Feelings werden nicht für die Reifung genutzt. Größere Abschnitte des Gehirns sind dem Zugang verschlossen, und das Bewußtsein muß sich ohne die Hilfe all seiner potentiellen Fähigkeiten abmühen.

Die Tatsache, daß die Neuronen und die Biochemie schon sehr früh im Leben konditioniert werden, bedeutet, daß man die Welt danach durch den Schleier der eigenen Geschichte sieht. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist von der Geburt an durch diese verwandelten Neuronen eingeschränkt. Was der Neurotiker dann sieht, sind alte Bedeutungen in neuen Situationen. Er ist immer im richtigen Feeling, aber im falschen Kontext. Das ist die Bedeutung der Neurose.

Ein Neurotiker schafft sich, um in Übereinstimmung mit dem eingeprägten Ungleichgewicht zu bleiben, eine Umwelt, die der frühen Streßsituation nahekommt. So kann, zum Beispiel, der Kampf, aus dem Schoß zu kommen, einen Menschen formen, der in seinem Leben viele Kämpfe sucht. Wer den Geburtsvorgang nie richtig abgeschlossen hat, kann vielerlei beginnen, ohne es jemals zu Ende zu bringen. 

Offensichtlich muß sich die Therapie auf die Gehirneinprägung konzentrieren, die das neurotische Ungleich­gewicht aufrechterhält. Die Auflösung ihrer Kraft ändert das innere Milieu, so daß sich das Gehirn schließlich rehabilitieren kann. In dem Maße, in dem ein immer kleinerer Teil des Kortex mit Schmerz beschäftigt ist, lassen die Abwehren nach, der Geist klärt sich, die Wahrnehmung wird scharf, und man sieht die Welt, wie sie ist. »Ausgeschlossen« zu sein, ist tatsächlich ein biologischer Zustand, nicht nur eine Einstellung oder ein Wert.

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Janov 1983