8 Die geistigen Implikationen des Geburtstraumas
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Was wir durch Verdrängung lernen, ist, wie man die Wirklichkeit verändert. Wir verwandeln wirkliche Ereignisse in Abkömmlinge. So können wir auf einer Ebene Urschmerz in sexuelle Energie verwandeln. Auf einer anderen Ebene können wir ihm durch emotionale Ausbrüche ein Ventil schaffen. Und auf wieder einer anderen Ebene können wir diese Energie in Ideen umformen.
Aus verdrängtem frühen Urschmerz stammende Ideen stellen die geistigen Implikationen des Geburtstraumas dar. Ihre Aufgabe ist es, die Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen, Weltanschauungen, Ideologien und politischen Überzeugungen und unserer inneren, verdrängten Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Es ist ein Zyklus. Ereignisse aus der Zeit unserer Geburt und frühen Kindheit formen unsere Persönlichkeitsmerkmale und unser emotionales Wesen, und dann rechtfertigen und verstärken wir all das, indem wir uns Ideen zu eigen machen, die unsere innere Verfassung und Einstellung weiter festigen. So schafft ein neurotischer Beginn Konsequenzen, die sich selbst fortsetzen.
Wenn beispielsweise jemand eine neurotische Selbständigkeit als starkes Persönlichkeitsmerkmal hat, wird er auch starke Ideen über die Notwendigkeit und die Tugend der Unabhängigkeit als Lebensweise für alle haben. Er kann fest davon überzeugt sein, daß jeder seinen eigenen Weg aus eigener Kraft gehen muß, daß das Wohlfahrtssystem nichts anderes ist als eine Kapitulation vor der Schwäche, daß der Sozialismus den Untergang der Welt bedeutet, daß nur die Tüchtigsten überleben, daß Armut selbstverschuldet ist, daß »Auge um Auge, Zahn um Zahn« die richtige Maxime sein sollte. Diese Ideen sind lediglich die Verarbeitung seiner Abwehren auf kognitiver Ebene, und sie entsprechen der Stärke des Urschmerzes.
Die Natur der Ideen
Wie geht das alles vor sich? Das erste, woran wir uns erinnern müssen, ist, daß das Gehirn die angeborene Tendenz zu innerer Konsistenz hat, auch wenn diese neurotisch ist. Eine pathologisch begründete Konsistenz scheint besser zu sein als Inkonsistenz und Widerspruch.
Der Neokortex oder die dritte Bewußtseinsebene ist für alle kognitiven Aspekte zuständig: Logik und Problemlösen, Ideologie und Philosophie, Begriffe, Hypothesen, Theorien, Täuschungen und Illusionen, Wahrnehmungen und Fehldeutungen. Faßt man alle diese Elemente zusammen, so erhält man einen voll arbeitenden Intellekt, der seine Rolle in der neurotischen Balance spielt, indem er Urschmerz in Ideen verwandelt.
Diese Ideen können die eindeutig mit einer Neurose assoziierten hartnäckigen, obsessiven und manischen Ideen sein oder die einfachen, aber unerschütterlichen Meinungen eines Bauern oder Arbeiters oder die komplexen, zu philosophischen und intellektuellen Systemen verknüpften Ideen. In jedem Fall ist die Ideenbildung die kognitive Erweiterung des Urschmerzes, und sie kann die kognitiven Implikationen des Geburtstraumas darstellen.
Selbstverständlich gehen nicht alle Ideen der Welt auf Geburts- oder Kindheitstraumata zurück, aber viele Ideen, die Menschen über die Welt haben, sind oft Ausarbeitungen weit zurückliegender Primärerlebnisse. Wie kann man nun eine neurotische Idee von einer nichtneurotischen unterscheiden? Durch ihre Valenz, durch ihre Hartnäckigkeit, ja sogar durch ihre Syntax und grammatikalische Komposition.
Ein Mensch kann, zum Beispiel, so leidenschaftlich die Idee vertreten, daß der Kapitalismus die Lösung der Weltprobleme darstellt, daß ihm bei der bloßen Erwähnung des Sozialismus die Adern schwellen. Er ist einfach außerstande, das Für und Wider maßvoll und mit der nötigen Distanz zu diskutieren. Hier verrät die Valenz oder das Reaktionsniveau der Anschauung, daß etwas Primäres auf dem Spiel steht.
Ein anderer ist vielleicht weniger emotional, aber nicht weniger unbeugsam. Während er zwar eine gefaßte und »distanzierte« Haltung einnimmt, weigert er sich andererseits einfach, alternative Ideen in Betracht zu ziehen. Die Hartnäckigkeit der Einstellung weist darauf hin, daß tiefere Kräfte am Werk sind.
* (d-2015:) wikipedia Implikation wiktionary Implikation
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Ein weiteres verräterisches Zeichen kann rein sprachlicher Natur sein. Mit oder ohne Valenz und Hartnäckigkeit kann eine Behauptung einfach durch den Gebrauch der Pronomina, modifizierenden Adjektive und grammatikalischen Attribute die Beziehung zu Primärerlebnissen enthüllen. Zum Beispiel: »Jeder, der in der Sozialfürsorge arbeitet, ist faul.« — »Alle Politiker sind korrupt.« — »Die ganze Welt geht in die Brüche.« — »Niemand ist sicher vor Gefahr.« — »Wir können nichts dagegen tun.« Und so fort. Summarische Verallgemeinerungen und Einstellungen des »Alles oder nichts« beziehen ihre Energie beinahe immer aus Urschmerz, und oft hängt ein erheblicher Teil dieses Schmerzes mit der Geburt zusammen.
Verallgemeinerungen gehen zurück auf die Verallgemeinerung des Urschmerzes, die nötig wird, sobald er von seiner eigentlichen Verknüpfung losgetrennt wird. Die Kraft wird gleichsam wahllos »versprüht«, so daß beispielsweise ein Haß auf die Mutter später zu der festen Überzeugung wird, daß alle Frauen grausam seien. Diese Tendenz zur Verallgemeinerung endet, wenn spezifische Verknüpfungen mit dem Urschmerz hergestellt werden.
Die Verallgemeinerung kommt auf allen Bewußtseinsebenen vor. Sie gehört nicht allein in den Bereich der Erkenntnis und Ideenbildung — sie ist dort nur leichter zu entdecken. Das Gefühl, abgelehnt zu werden oder wertlos zu sein, nur weil ein Kellner oder eine Verkäuferin ein wenig unhöflich war, ist ein Beispiel für emotionale Verallgemeinerung. Eine Tendenz, leicht blaue Flecke zu bekommen oder sich zu verletzen, kann ein Beispiel für Verallgemeinerung auf rein körperlicher Ebene sein. Eine Patientin neigte dazu, blaue Flecke zu bekommen, wenn sie sich nur leicht anstieß, bis sie die heftigen, aber spezifischen Blutergüsse spürte, die sie bei der Geburt erlitten hatte. Kurz, alle Ebenen — die physische, die emotionale und die kognitive — arbeiten zusammen, um den Urschmerz auszugleichen und zu »verteilen«.
Da die Primäreinprägung eine elektrisch-chemische Energiequelle ist, gründen sich die Ideen, die aus ihr resultieren, auf eine wirkliche physiologische Kraft. Diese Kraft ist es, die sie fanatisch, hartnäckig, unnachgiebig und manisch macht. Erfahrung ändert nichts an Ideen. Der Mensch beharrt trotz Erfahrung auf denselben Gedanken, oder, schlimmer noch, Erfahrungen werden dazu verwendet, die primären Vorurteile zu verstärken.
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Schlaflosigkeit ist eine weitere Manifestation von Urschmerz, der in Ideenbildung auf der dritten Ebene umgewandelt wurde. Wir hatten viele Patienten, die jahrelang an Schlaflosigkeit litten, weil sie von Ideen bestürmt wurden, so daß sie nie zur Ruhe kamen. Sobald sie zu schlafen versuchten, setzte dieser unvermeidliche, unaufhörliche Gedankenstrom ein. Tatsächlich sind nicht die Ideen unaufhörlich. Es ist vielmehr die Energie, die sie antreibt. Ideen passen nur die Primärkraft an.
Der Primärdruck, der die Gedanken »wie verrückt« rasen läßt, trägt viel zum Wesen des Eiferers und Fanatikers bei. Der Druck ist in ein Vorstellungssystem eingekapselt, macht sich aber mit einer Stärke bemerkbar, die den Menschen dazu zwingt, seine Ideen mit derselben Heftigkeit zu verfolgen, die sie ursprünglich entstehen ließ. Man kann an den Fanatiker nicht »herankommen«, weil man es mit einer unnachgiebigen starren Kraft zu tun hat. Die primäre Überlastung wurde in die Gegenwart, in Ideen übergeleitet. Die Neuronenkreise wurden umgeschaltet, und das Ergebnis ist eine starrsinnige Haltung, die jede Vernunft ausschließt.
Die Kraft dieser Umschaltung bestimmt weitgehend die Kraft der Ideen und die Hartnäckigkeit, mit der man an ihnen festhält. Die einzige Möglichkeit, die Ideen zu ändern, besteht darin, die ursprüngliche Kraft »anzuzapfen«. Die Einsichtstherapien haben hier eine unmögliche Aufgabe, denn sie verwenden Ideen, um Ideen zu bekämpfen, während das Problem anderswo liegt. Die Kraft wirkt weiter, so vernünftig und überzeugend die Argumente auch klingen mögen.
Die Verbindung zwischen gegenwärtigen obsessiven Ideen und dem ursprünglichen Schmerz ist oft undurchsichtig und buchstäblich umwegig, aber sie ist der Schlüssel zum Urschmerz — wenn der Betroffene gewillt ist, sie bis zum Ursprung zu verfolgen. Wenn die Idee eher als Schlüssel betrachtet werden kann und nicht als die Wirklichkeit selbst, besteht Hoffnung — sowohl für den an Urschmerz Leidenden als auch für den Therapeuten, der ihn behandelt. Folgt man der Spur, die zum Urschmerz führt, so ist die erste Haltestelle die spätere Kindheit. Als nächstes kommt die frühe Kindheit, und schließlich kann man dann die Kraft zurückverfolgen bis zu den ersten Minuten des Lebens.
Ein Patient beschrieb sehr gut die Berührungspunkte, die er zwischen seiner Ideenbildung auf der dritten Ebene und seinem frühesten Schmerz der ersten Ebene erlebte:
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»Unter dem Feeling der ersten Ebene, daß ich um mein Leben kämpfen muß, kommt, eine Sprosse tiefer auf der Leiter, ein anderes Feeling, das ich nur leicht gefühlt habe. Ich bin zurückgegangen zu dem Feeling des Steckenbleibens, während ich geboren werde. Ich muß mich aus dem Geburtskanal herauskämpfen. Schließlich ist mein Kopf draußen, aber der Rest will nicht nachkommen. Dieses Feeling ist eine solche Analogie zu meinem Leben: mein Kopf ist immer draußen: ich denke und denke und denke immerzu, aber das übrige von mir ist untätig. Mein Körper fühlt sich nicht mit dem Kopf verbunden. Ich lebe so oft in meinem Kopf, und erst vor kurzem fing ich an, meinen Körper als einen mit mir zusammenhängenden Teil zu empfinden.
Zurück zu dem Feeling: >Ich fühle mich steckengeblieben. < Mein Nacken schmerzt. Er schmerzt sogar, während ich darüber schreibe. Es fühlt sich an, als zerrte jemand an meinem Hals, und das tut sehr weh. Mein Kopf schwankt von Seite zu Seite, und meine Stimme stößt leise wimmernde Laute großer Angst aus. Wieder kämpfe ich um mein Leben, und es gibt keine Hilfe. Ich muß sogar aus eigener Kraft geboren werden. Meine Mutter hilft mir nicht heraus. Das ist das ständige Thema meines Lebens gewesen - keine Hilfe, schlag dich selber durch. Es scheint, als hätte schließlich mein Kopf den ganzen Kampf übernommen.«
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Philosophien
Einige der interessantesten Verbindungen, die unsere Patienten herstellen, sind die zwischen Philosophien, die sie als Erwachsene übernommen, und Geburtstraumata, die sie als Säuglinge erlebt haben. Ich nehme an, diese Arten von Verbindungen sind am überzeugendsten, weil sie am unerwartetsten sind. Einerseits ist die Philosophie so weit entfernt von den Wirklichkeiten des Alltagslebens, ganz zu schweigen von den rauhen Wirkungen von Urschmerz und Trauma. Andererseits ist die Philosophie von einer Mystik des Reinen umgeben: sie gilt als das innerste Heiligtum gelehrten Strebens, in sicherer Entfernung von der Ansteckung durch unbewußte Motivationen und unbewußten Schmerz. Wer würde glauben, daß Philosophie in den meisten Fällen eine Verkleidung und Abwehr ebendieser Motivationen und dieses Schmerzes ist.
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Existentialismus
Eine unserer Patientinnen war in ihren Jugend jähren Existentialistin geworden. Das war die Philosophie der Verzweiflung — eine Philosophie, die ganz präzise von der parasympathischen Einprägung herrührte, mit der ihr Leben begonnen hatte. Diese Philosophie ließ ein elementares, unbeschreibliches Gefühl rational erscheinen, das sie begleitet hatte, so weit sie zurückdenken konnte. Sie war ideal dafür geeignet, und als sie ihr begegnete, machte sie sich diese Philosophie mit der größten Selbstverständlichkeit zu eigen. Ihr Elend war in eine Ideation verwandelt worden, bevor es zu einem bewußten Zustand wurde — und die Ideation hielt dadurch das Elend im Zaum.
Die Übertragung des Geburtstraumas auf die kognitive Ebene wird auch veranschaulicht durch eine Patientin, die jahrelang ihre »Identität« unter der Verkleidung wissenschaftlicher Betätigung gesucht hatte. Sie hatte auf dem College Philosophie als Hauptfach gewählt und sich auf das Studium der Identität spezialisiert.
In ihrer Therapie wurde ihr bewußt, daß sie sich als einziges Kind abgelehnt und »am Eßtisch wie ein Möbelstück« gefühlt hatte, weil ihre Eltern selten mit ihr sprachen. Während der Primal-Sequenz kam sie zuerst auf diese Kindheits-Feelings, von ihren Eltern nicht anerkannt zu werden, zurück und dann auf den Kampf langer Wehen. Daher kam ihr die Einsicht, daß ihre Existenz niemals anerkannt worden war. Sogar im Schoß, sogar während der Schmerzen der Geburt war ihre Verzweiflung ignoriert worden. Ihre Suche nach Identität wurde damit als das enthüllt, was sie war: ein Kampf darum zu fühlen, wer sie war, ja ob sie überhaupt existierte. Sie erkannte, daß sie den Schmerz darüber, daß ihre Anwesenheit nicht zur Kenntnis genommen und sie in ihrer Identität nicht bestärkt worden war, in Intellektualismus und Philosophien verwandelt hatte und daß die Kraft ihrer Suche in der Kraft dieser eingebetteten Urschmerzen lag.
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Laissez-faire
Ein anderer Patient verband eine ökonomische Philosophie des Laissez-faire mit seiner Geburt. Der Grundgedanke des Laissez-faire ist vollkommene Freiheit ohne Kontrolle. Man lasse die Wirtschaft arbeiten, wie sie will, ohne zuviel Einmischung seitens des Staates. Der Patient erkannte, daß »vollkommene Freiheit« auf ihn einen so starken Reiz ausübte, weil seine Geburt das genaue Gegenteil gewesen war: als das winzige, wehrlose Baby, das versuchte, geboren zu werden, war er völlig beherrscht und durch die nervöse Verfassung seiner Mutter stark zurückgehalten worden. Er hatte nicht die Freiheit, seinen eigenen Geburtsimpulsen zu folgen; er hatte sie der stärkeren Kraft unterordnen müssen — seiner Mutter. Später hielt er sich an eine Wirtschaftsphilosophie, die genau, aber objektiv und leidenschaftslos ausdrückte, was er brauchte. Doch wenn auch die Philosophie leidenschaftslos war, so galt das nicht für sein Bedürfnis, sie zu verteidigen. Es lag ihm (unbewußt) ungeheuer viel daran, sie auch angesichts neuer Tatsachen beizubehalten. Deshalb wollen so viele Menschen nicht mit Tatsachen belästigt werden: Tatsachen stören, was verteidigt wird.
Totalitäre Systeme
Die Erfahrung wieder einer anderen Patientin zeigt, wie Geburtsschmerz auf der zweiten und auf der dritten Ebene verarbeitet wird. Wut und politische Philosophie scheinen weit voneinander entfernt zu sein, aber als diese Patientin ihre Geburt wiedererlebte, wurde klar, daß beides aus demselben Urschmerz entstanden war. Sie hatte bei dem Versuch, den Schoß zu verlassen, eine schwere Frustration erlebt. Ein Tumor hatte ihren Weg blockiert, und sie mußte durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. Dieses Erlebnis schuf ein prototypisches Muster von Wut und Niederlage als Reaktion auf jede spätere Frustration. Als Kind und Erwachsene wurde sie wütend, sobald sie auf etwas warten mußte -und dann hätte sie am liebsten immer gleich aufgegeben. Sie drückte das Gefühl des Aufgebenwollens angesichts einer Herausforderung aus als: »Ich kann den Weg nicht zu Ende gehen.« Und tatsächlich hatte sie bei der Geburt den Weg nicht zu Ende gehen dürfen - man hatte ihr nicht erlaubt, ihren eigenen Geburtsimpulsen auf natürliche Weise bis zum Ende zu folgen.
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Als junge Erwachsene verschrieb sie sich einer politischen Philosophie, die in der Demokratie eine überholte Organisationsform sah. Ihr »Argument« lautete, daß man in einer Demokratie nichts erreichen kann, wann man es will. »Sie ist zu langsam und zu schwerfällig.« Sie mochte die Vorstellung nicht, daß jeder etwas mitzureden haben sollte. Sie konnte nicht abwarten, bis jeder seine Meinung geäußert hatte. Dieser ideologische Überbau wurde später durch das Feeling geklärt: »Ich halte es nicht aus, nicht tun zu können, was ich will, wann ich es will.« Das war der primäre Kontext.
Der Ausdruck des Geburtstraumas in der Literatur
Bewußte oder unbewußte Anspielungen auf das Geburtstrauma sind in der Literatur nicht selten zu finden. Es liegt außerhalb des Rahmens dieses Buches, einen Überblick zu geben, aber ich möchte einen besonders aufschlußreichen Absatz aus Henry Millers <Wendekreis des Krebses> zitieren:
»Dieselbe Geschichte überall. Wenn du Brot willst, mußt du dich ins Geschirr legen, in Reih und Glied marschieren. Über der ganzen Erde eine graue Wüste, ein Teppich aus Stahl und Zement. Produktion! Mehr Schrauben und Muttern, mehr Stacheldraht, mehr Hundekuchen, mehr Rasenmäher, mehr Kugellager, mehr hochexplosive Stoffe, mehr Panzer, mehr Giftgas, mehr Seife, mehr Zahnpaste, mehr Zeitungen, mehr Erziehung, mehr Kirchen, mehr Bibliotheken, mehr Museen. Vorwärts! Die Zeit drängt. Der Embryo drängt sich durch den Gebärmutterhals, und es gibt nicht einmal ein bißchen Spucke, um den Durchgang zu erleichtern. Eine trockene, strangulierende Geburt.« (Kursivschreibung durch den Autor.)
Bilder des Geburtstraumas findet man auch in der Lyrik.
Aber auch hier kann es nicht der Zweck des Buches sein, einen Überblick zu bieten. Besonders treffend sind vielleicht die Gedichte, die unsere Patienten geschrieben haben, um die wortlosen Erlebnisse der Geburtstraumata, die sie durchgemacht haben, in Worte zu fassen.
Ein Patient schrieb:
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Ich kam auf diese Welt, streckte Fühler aus,
Millionen feinfühliger Fäden,
Griff um mich, die Wärme, das Licht, die Luft zu spüren,
Den Geruch, die Berührung von Händen,
Die Musik, die Bewegung des Lebens,
Suchte nach Nahrung und lächelnden Augen,
Hoffte, die gefiederten Blätter zu finden, die See,
Die Weichheit eines runden, sanften Alls.
Ich wurde angestarrt
Von einer häßlichen, grellen Lampe,
Stürzte in einen kalten, aseptischen Raum.
Mein Kopf ward gespalten mit einem Hieb,
Rauhe Hände warfen mich fort,
Zerschunden ganz,
Bis meine Fühler verdorrt nach innen wuchsen.
Ich lag auf dem Rücken, gab vor
Nichts zu fühlen.
Denn ich hatte die Berührung abgeschnitten
Mit draußen und zeigte der Welt
Eine runde, glatte, fühlerlose Gestalt.
Spät in der Nacht erst,
Wenn alles still und geborgen war,
Schlitzte ich mir den Bauch auf,
Nahm meine Fühler hervor,
Lebendig vor Erinnerung, pulsierend vor Angst und Furcht;
Sie sprechen zu mir
Von Tod und frühem Begräbnis
Meiner Gefühle.Und ein anderer:
Langsam gegen Fleischfetzen schiebend
Blut und Finsternis atmend
Keuchend, gestaltlos zerquetscht
Meine Glieder vergessend
Und enthauptet von Zeit zu Zeit
An den Toren des Lebens wartend
Auf eine hilfreiche Hand
Die mich aus meinem Grabe zieht.
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So verbringe ich Tage und Jahre
Auf das große Ereignis hoffend
Das meine Augen mit Licht füllt
Meine Lungen mit Luft.Und ich will die Welt erfüllen
Mit Liedern und Liebe.
Warten ist alles, was geschieht.
Ich kämpfe schluchzend und mich windend
Oder in tödlich gefrorener Stille
Schreie in tiefe, dumpfe Tunnels
Die nur meine eigene Stimme zurückwerfen
Und zähle die Schläge meines Herzens
In stummer Wut
In der Hoffnung, daß ich eines Tages
Den Wunsch ganz verliere
Geboren zu werden.
Intellekt, Neugier, Verwirrung
Wir haben einige der offensichtlichen kognitiven Ergebnisse des Geburtstraumas in bezug auf die Formung des Intellekts beobachtet. Wenn die Mutter narkotisiert wurde, kommt der Fetus halb tot und betäubt zur Welt. Als Folge davon kann es eine eingeprägte Trägheit und eine lebenslange Lethargie geben, die die spätere Schärfe des Geistes beeinträchtigt. Die prototypische Reaktion kann ein allgemeiner Mangel an Aufgewecktheit sein.
Andererseits kann ein Kind, das weniger narkotisiert zur Welt kam und während der ganzen Zeit kämpfte, das Geburtstrauma sehr wach überstehen — wach für alle möglichen Gefahren. Dies kann zu einem überwachen Zustand führen, der buchstäblich ein höheres Intelligenzniveau »verursachen« kann; oder vielmehr, der überwache Zustand »veranlaßt« den Menschen, jede in seine Gene eingeschriebene Spur von Intelligenz voll, aber neurotisch auszunutzen. Die prototypisch träge Person würde nicht genug Energie mobilisieren können, um so etwas zu tun.
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Neugier
Die Neugier hat teil an der Formung des Intellekts. Manche psychologische Schulen behaupten sogar, Neugier sei ein eigener Trieb — eine Art von angeborener motivierender Kraft, die uns zwingt zu suchen und Fragen zu stellen. Eine Patientin, die ein Geburts-Primal hatte, gab uns einen Einblick in die Ursprünge gewisser Arten von Neugier. Sie hatte unter langen und schweren Wehen gelitten, aus denen sie halb tot hervorgegangen war. Sie wurde dann mit dem Kopf nach unten gehalten, bekam einen Klaps auf das Gesäß, wurde ihrer Mutter weggenommen und in ein Spezialbett gelegt. Sie hatte dieses Trauma in einer vollkommenen Gefühlsverwirrung durchgemacht. Sie war desorientiert, nicht in einem geistigen Sinne, sondern organismisch.Später wurde sie eine eifrige Leserin, eine Sammlerin von trivialen Dingen, aber auch eine unersättliche Sammlerin von Wissen. Sie mußte einfach alles wissen. Es war nicht nur ein Wunsch - es war ein Zwang. Nach einer Therapie von einem Jahr hatte sie ein Wiedererlebnis ihrer Geburt, und sie fühlte und verstand ihre Verwirrung und Desorientierung. Sie wußte nun, daß ihre »Neugier« auf dieses Geburtserlebnis zurückging. Ihr späteres Bedürfnis, so viel zu wissen, war eine unbewußte Anstrengung, der Verwirrung des frühen Erlebnisses Herr zu werden. Der Zwang ihres Neugier-»Triebes« war somit eine Reaktion auf eine schmerzhafte Situation - ein Versuch auf der dritten Ebene, sie zu bewältigen -, und er ließ merklich nach mit dem Wiedererleben des ursprünglichen Feelings.
Verwirrung
Wir müssen verstehen, daß Verwirrung um die Zeit der Geburt herum etwas ganz allgemein Übliches ist. Ereignisse finden statt, für die das Kind keinen Namen und über die es keine Kontrolle hat und für die es keine Präzedenzfälle gibt. Es hat nicht die Ausstattung, um alles, was geschieht, zu ordnen, zu etikettieren und zu verstehen. Es kann nur darunter leiden. Das ist der Grund dafür, daß so viele von uns verwirrt werden, wenn sie später im Leben Streß ausgesetzt sind. Wir kehren zu unseren prototypischen Reaktionen zurück. Das gilt besonders in den Fällen, in denen Schmerzen der ersten Ebene unversehens ausgelöst werden — oder wenn jemand in seiner Therapie schon weit vorangeschritten ist und Zugang zu perinatalem Schmerz hat.
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Eine zeitweilige Verwirrung ist in diesem kritischen Augenblick allgemein üblich, weil sich auftretende Schmerzen der ersten Ebene der Begriffsbildung entziehen. Wenn sie auftauchen, gibt es keine Möglichkeit, sie in Sprache umzusetzen. Wir können diese Schmerzen nur in ihren eigenen Begriffen erleben. Für einen Intellektuellen, der gewohnt ist, alles auf der dritten Bewußtseinsebene in Begriffen auszudrücken, ist das sehr schwierig. Intellektuellen fällt es schwer, die Vorstellung von präverbalen Schmerzen zu akzeptieren und sich ihr anzupassen.
Es gibt, je nach der späteren Erfahrung, viele Möglichkeiten, auf diese frühe Verwirrung zu reagieren. Der eine kann sie bekämpfen, indem er versucht, alles zu wissen. Ein anderer kann ihr erliegen und hoffnungslos verwirrt bleiben. Letzteren Weg schlägt mit größerer Wahrscheinlichkeit jemand ein, dessen späteres Leben ebenfalls verwirrend war: jemand, der oft seinen Wohnort wechselte, neue Stiefväter bekam, unerklärliche Wutanfälle der Mutter erlebte und so fort.
Verwirrung kann eine psychologisch unselbständige Persönlichkeit zur Folge haben - jemanden, der in beinahe allen Dingen Weisungen braucht, weil ihn der kleinste Input verwirrt. Das ist das genaue Gegenteil der überwachen Person, die ständig ihre Umgebung beobachtet, um sich gegen diese frühe Verwirrung zu schützen. Ihre Augen prüfen jeden Aspekt der Situation, während sie krampfhaft, aber unbewußt die Beherrschung zu wahren versucht. Unglücklicherweise ist und war die Situation, die sie wirklich zu beherrschen versucht, vollkommen unbeherrschbar.
Eine Patientin, die unter dem Zwang litt, Listen anzufertigen, schrieb:
»Ich bin eine Besessene. Die wahre Bedeutung dieses Wortes wurde mir erst klar, nachdem ich mehrere darauf bezügliche Geburts-Feelings gehabt hatte. Ich bin immer sehr steif gewesen und hatte Angst vor Veränderungen. Um damit fertig zu werden, wurde ich eine Listenmacherin: ich machte jeden Tag meines Lebens Listen von Dingen, die ich zu tun hatte. Ich schrieb diese Listen immer wieder neu, fügte neue Dinge hinzu oder änderte die Reihenfolge, in der sie zu erledigen waren. Ich plante meine Listen eine ganze Woche voraus. Ich dachte mir ein System aus, um aufzuzeichnen, welche Dinge wirklich getan werden mußten und welche nur eine >Draufgabe< waren.
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Zu diesem System gehörte es, daß ich verschiedene Posten auf der Liste methodisch unterstrich, einrandete und mit Sternchen versah. Ich schrieb sogar auf, was ich jeden Tag aß, und gab die Gesamtmenge der verzehrten Kalorien an.
Während ich das nun schreibe, kommt es mir recht exzentrisch vor, aber lange hielt dieses System den Schmerz nieder und gab mir das Gefühl, Gewalt über mein Leben zu haben. Der Preis, den ich dafür zahlte, war, daß ich täglich mit einer tiefen Besorgnis in bezug auf das, was ich zu tun hatte, aufwachte und daß ich an nichts, was ich tat, wirklich Freude hatte.
Meine Obsessionen erstreckten sich auch auf Probleme, die mit Listen nichts zu tun hatten, aber immer noch Dinge betrafen, die ich >tun< mußte. Diese Probleme waren: meine Unfähigkeit, neuen Menschen, vor allem Männern gegenüber offenherzig oder freundlich zu sein und ihnen zu sagen, wie mir zumute war, vor allem, wenn ich mich ärgerte. Ein Gedanke kam mir, zum Beispiel: >Eds ständiges Gerede irritiert mich.< Dann quälte ich mich damit, wie ich es Ed sagen sollte. Wichtig sind hier die Worte ich quälte mich. Anstatt Ed einfach zu sagen, wie mir zumute war, und die Sache damit zu erledigen, dachte ich Stunden und Tage darüber nach, wie ich es ihm sagen sollte. Zuletzt sagte ich zwar immer, was ich sagen mußte, aber die Situation ließ mich so unspontan und nervös werden, daß die Art, wie ich es sagte, unangebracht war und die Aussprache das Gegenteil zu bewirken schien.
In mancher Hinsicht wurde die Therapie zunächst auch ein >Ding< für mich, mit dem ich mich quälte. Durch meine Feelings lernte ich dann aber, daß meine Obsession ein Versuch ist, an etwas festzuhalten — an einem Gedanken, einem Plan, einer Idee —, aber es war immer ein Festhalten angesichts von schrecklichem Schmerz.
Das erste Eindringen in meine Obsession und Starrheit und mein erster Schritt, mich davon zu lösen, kamen nach einem Feeling, im Schoß schrecklich herumgestoßen zu werden und voller Angst zu sein. Ich fühlte einen ziellosen, endlosen Aufruhr, und die Angst war quälend. Danach verstand ich, warum ich mich immer vor leichten Flugzeugen, Berg- und Talbahnen und allgemein rascher Bewegung gefürchtet habe.
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Bei den wenigen Malen auf einer Berg- und Talbahn fühlte ich nur tödliches Entsetzen, während meine Freunde vor Fröhlichkeit und Aufregung schrien. Ich war sprachlos vor Schrecken und dachte nur an das Ende der Fahrt.
Zwei Wochen nach diesem Primal flog ich mit einem Freund im Hubschrauber zum Grand Canyon. Es gefiel mir, auch als der Pilot die Maschine auf die Seite legte. Einen Sekundenbruchteil kam mein altes Entsetzen wieder herauf — das Feeling des Anklammerns, das ich immer gehabt hatte. Dann erinnerte ich mich an das Primal und sagte mir: >Du weißt doch nun, wo dieses Feeling hingehört. Du kannst es fahrenlassen und den Tag genießen — mach mit.< Und ich tat es. Die Schönheit war erstaunlich, ebenso das Gefühl der Bewegung. Es ist eine Erinnerung, die mir immer lieb sein wird.
Das war vor fünf Monaten. Seither hatte ich viele Primais über meine Geburt, die mir mein obsessives Verhalten klargemacht haben. Die tiefsten Feelings waren die, in denen ich unerträglichen Schmerz spürte. Mein Körper fühlte sich an, als werde er in der Hüfte zerbrochen, und ich hatte ein heftiges Unbehagen im Kreuz und in der Beckengegend. Ich weiß keine Tatsachen über meine Geburt, da meine beiden Eltern tot sind, aber aus meinen Feelings weiß ich, daß sie außerordentlich schmerzhaft war. (Ich nehme an, der Schmerz wurde durch die Angespanntheit meiner Mutter verursacht, denn sie war ein ungewöhnlich nervöser Mensch.) Nach diesen Primais verstand ich, daß ich zu einer Listenmacherin wurde, um zu versuchen, mit dem reinen, rohen körperlichen Urschmerz fertig zu werden, den ich zu bewältigen hatte. Listen waren die einzige Methode, geistig gesund zu bleiben, einen Sinn herzustellen, an der Wirklichkeit festzuhalten.
Ich hörte vor ungefähr anderthalb Monaten auf, Listen zu machen, außer solchen, die ich zum Einkaufen brauche. Ich schreibe auch nicht mehr meine Kalorien auf. Es ist wunderbar - ich fühle mich ganz befreit. Jetzt schrecke ich vor dem bloßen Gedanken zurück, eine Liste zu machen.
Ich hatte unlängst mehr Einsichten in bezug auf meine Unfähigkeit, mich >gehenzulassen<. Die einzige Droge, die ich je nahm, war Marihuana. Ich hatte zu viel Angst davor, die Beherrschung zu verlieren, um etwas anderes zu nehmen.
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Es war gut, daß ich es nicht tat - meine Neurose erhielt mich gesund, bis ich Hilfe bekam. Ich glaube jetzt, wenn ich LSD oder eine ähnliche bewußtseinsverändernde Droge genommen hätte, wäre ich verrückt geworden. Ich hätte den frühen Urschmerz nicht bewältigen können; er wäre durchgebrochen.
Die letzte und wertvollste Einsicht, die ich aus all dem gewonnen habe: ich bin bis vor ganz kurzer Zeit nicht imstande gewesen, mich gehenzulassen und mein Leben zu genießen. Ich habe festgehalten - auch an meinem Schmerz, weil das alles war, was ich von allem Anfang an hatte.«
Primäre Ausdrücke
Viele Ausdrücke, die wir in der Alltagssprache gebrauchen, haben eine buchstäbliche Bedeutung, wenn man sie im Zusammenhang mit dem Geburtserlebnis betrachtet. Wir sagen, zum Beispiel, daß jemand »mit dem Kopf gegen die Wand rennt«, daß einer immer »den Weg des geringsten Widerstandes geht«, daß einer »mit den Füßen voran« in etwas hineinspringt. Menschen werden beschrieben als »starrköpfig«, »streberisch« oder »völlig verdreht«. Sie tragen »eine große Last auf ihren Schultern«, oder sie »wissen nicht, wo sie hin sollen«.
Diese Ausdrücke oder primären »Versprecher« verraten oft unbewußte Primärfeelings und ebensooft primäre Geburts-Feelings. Sie gehören so sehr unserer Kultursprache an, weil wir alle so viele frühe Erlebnisse gemein haben.
1 Oktober 1979, Vol. II, No. 2.
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Nick Barton, der stellvertretende Leiter des Primal Institute in Los Angeles, beschrieb sehr gut primäre Versprecher in einem Artikel für <The Primal Newsletter>1.Es folgen einige gekürzte Auszüge aus diesem Artikel:
»Viele unserer metaphorischen Wendungen sind nicht einfach willkürlich oder zufällig gewählt. Betrachtet man sie im Kontext unserer frühen Jahre, so ist ihre Bedeutung gar nicht metaphorisch, sondern ganz buchstäblich. Bemerkenswerterweise scheinen so viele dieser Ausdrücke auf spezifische körperliche Erlebnisse zurückzugehen.
Wenn jemand einen Freund bittet: >Hilf mir aus<, so nimmt man an, das sei eine bloße Bitte um Beistand. Aber warum nicht: >Hilf mir über< oder einfach >Hilf mir<? Die Präposition aus kann verwendet werden, weil sie an ein Ereignis erinnert, bei dem dem Betreffenden körperlich aus Umgebungen aus-, d.h. herausgeholfen werden mußte, die tatsächlich körperlich beengend waren. Wenn man an ein Kind denkt, das hilflos in einem zu engen Geburtskanal gefangen ist, während sich seine Mutter gegen die Entbindung verspannt, versteht man die spätere Wortwahl. Vielleicht war die Geburt tatsächlich oder vermeintlich ohne äußere Hilfe unmöglich. Diese Erinnerung ist so stark und formend, daß sie die Ausdrucksweise eines Erwachsenen beeinflußt.
Typischerweise wird ein Ausdruck wie »hilf mir aus< in einer nichtkörperlichen Lage angewandt. Er bezieht sich vorwiegend auf eine finanzielle, gesellschaftliche oder berufliche Situation. Der springende Punkt ist, daß absolut kein Hinweis auf eine gegenwärtige körperliche Beengung vorhanden ist und die Wortwahl dennoch eindeutig eine anzeigt.
... Der Gebrauch von physischen Metaphern in nichtphysischen Situationen deutet vielerlei an. Er ist ein Zeichen dafür, daß bestimmte Ereignisse in der frühen Kindheit als permanenter Einfluß bleiben und sogar unsere Sprechweise formen. In seinen verschiedenen mißlichen Lagen hat ein Säugling nur die Wahl, sich körperlich auszudrücken, das heißt zu zappeln, zu weinen, zu kauen, zu strampeln etc. Und diese Notlagen werden auf der körperlichen Ebene assimiliert. In späteren Situationen, die symbolisch die Erinnerung an eine frühe ungelöste Situation — zum Beispiel das Steckenbleiben bei der Geburt — wachrufen, übersetzt das Denkvermögen diese körperliche Einprägung durch das schon symbolische Medium der Sprache in eine Vielfalt psychologischer Ausdrücke. Die Verwendung körperlicher Metaphern, um Geisteszustände zu vermitteln, veranschaulicht die ständige Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen Ebenen des menschlichen Bewußtseins ... Durch sorgfältige Beobachtung der Wortwahl eines Patienten kann der Therapeut eine Vorstellung davon bekommen, was unter der scheinbaren Bedeutung der Worte des Patienten vorgeht. Er kann bestimmen, wie nahe gewissen Arten von Feelings der Patient ist, indem er eine Bevorzugung von Redewendungen und die Wiederholung derselben Sätze beobachtet.
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Wenn er sie als buchstäblich auffaßt, kann er dem Patienten helfen, die wirkliche Quelle seines Feelings zu finden. Wörter und Sätze können den Schlüssel zu sonst verborgenen Erlebnissen in der Vergangenheit liefern. Sie sind verräterische Zeichen. Es scheint mir, daß uns Menschen zuverlässig sagen, wo sie (auch chronologisch) wirklich sind — ob sie nun die Absicht haben, es uns zu sagen, oder nicht.
Der Begriff des Sichversprechens (der verbalen Fehlleistung) ist den Psychologen nichts Neues. Die Tatsache, daß Menschen geheime Gedanken und Gefühle haben, die nur versehentlich ausgedrückt werden, wurde schon von Freud diskutiert. Der Unterschied, der hier gemacht wird, ist der, daß sie zurückverweisen können auf eine Zeit vor der Fähigkeit zur Sprache oder Ideenbildung, auf eine sehr frühe Entwicklung, auf präverbale körperliche Zustände und Erlebnisse — Erlebnisse, die vielen Theorien zufolge gar keinen formenden Einfluß haben.
Wir sprechen nicht einfach von einem Durchsickern von zurückgehaltenen Gedanken und Emotionen, sondern von der Übersetzung und Projektion in und durch Sprache von tatsächlichen infantilen körperlichen Erlebnissen, die auf einer viel tieferen Ebene im Bewußtsein registriert werden. Dazu kommt, daß ein »Primär-Versprecher« gewöhnlich einen Kontext zu dem verdrängten Material liefert. Das heißt: er zeigt an, daß der Betreffende nicht nur auf verborgene Kräfte, sondern auf eine spezifische Art von verdrängter Erinnerung oder verdrängtem Erlebnis reagiert.«
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Es folgt eine Zusammenstellung von üblichen idiomatischen Wendungen und den möglichen Geburtsereignissen, auf die sie zurückgehen können. Der Kursivdruck wird verwendet, um die Tendenz hervorzuheben, ein Wort oder einen Ausdruck physischer Natur zu verwenden, um eine nichtphysische, gewöhnlich psychologische, Situation zu beschreiben (siehe Tabelle auf Seite 318/319).
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Idiomatische Wendung
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Möglicher Geburtskontext
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Ich komme nicht weiter ... mit diesem Problem, im Beruf in meiner Ehe. |
Kind ist während der Geburt im Geburtskanal steckengeblieben. |
Alles dringt auf mich ein. |
Spannung oder Konstriktion im Geburtskanal. |
Alles/Jeder ist mir im Weg. |
Tumor, Nabelschnur, Beckenring, Geburtszange, Hände des Arztes. |
Ich kann nicht in Gang kommen. |
Keine Hilfe von der Mutter; durch Narkotika gehemmt; durch Nabelschnur stranguliert. |
Du hältst mich zurück, du hemmst mich. |
Mutter verspannte sich; Ärzte oder Schwestern verzögerten die Geburt aus Zeitgründen. |
Du treibst mich zu weit. |
Mutter strengte sich zu sehr an, die Entbindung hinter sich zu bringen, oder die Bewegungen des Kindes wurden durch wehenauslösende Mittel beschleunigt. |
Ich habe keinen Raum zum At-men. Ich brauche Platz. Ich fühle mich in der Falle. |
Konstriktionen des Geburtskanals; nicht genug Raum für eine leichte Passage; Blockierung durch Tumor oder Nabelschnur. |
Ich stehe unter Druck. Ich finde das bedrückend. Generalisierte Empfindung bei der Geburt.
Ich habe ein Gewicht auf den Schultern. Er fällt mir zur Last. Du
gehst mir auf die Nerven.
Spezifische
Körperpartien waren bei der Geburt Druck und/oder Verletzung ausgesetzt.
Ich fühle mich hin- und hergerissen.
Zurückhaltung seitens der Mutter und Zug durch die Hände des Arztes
oder die Zange.
Ich ersticke ... in Arbeit, in Problemen, in Sorgen.
Überschüssiges
Fruchtwasser verursachte zeitweilige Erstickung.
Ich werde von Schmerz, Angst etc. gepackt.
Druck im Geburtskanal, grobe Behandlung durch die Hände des Arztes
oder der Schwestern.
Ich
komme nicht durch zu dir. Ich kann nicht durchkommen.
Geburtssignale
des Kindes wurden von einer narkotisierten Mutter nicht beachtet; Konstriktion
im Geburtskanal; blockierter Austritt.
Ich
weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Alles ist drunter und
drüber.
Falsche
Lage vor der Geburt, oder das Kind wurde nach der Geburt an den Füßen
hochgehoben.
Ich fange alles verkehrt an. Steißgeburt.
Unterstütze mich. Jemand soll das Kind sicher halten.
Ich
verliere den Kontakt, habe keinen Kontakt, fühle mich isoliert.
Kann sich auf den Verlust des
Kontakts mit der Mutter nach der Entbindung beziehen; Inkubator oder nicht genug
zärtliche Berührung später.
Mich
hungert nach Liebe. Ich fühle mich leer. Ich brauche dringend
Zuneigung.
Wenn
Liebe Nahrung bedeutet: die richtige Menge zur rechten Zeit von der richtigen
Person. Säugling bekam aber Flasche nach Plan.
318
»Ich verlasse meine Frau, weil sie mir keinen Raum zum Atmen läßt«, lautete die Klage eines Patienten vor der Therapie. Er verließ seine Frau tatsächlich. Später, nach einer Reihe von Geburts-Primals, sah er, daß er in bezug auf sie eine Überreaktion gehabt hatte. Sie war zwar wirklich dominierend, aber das war nur unerträglich wegen seiner Schmerzen der ersten Ebene. In einem gewissen Sinne hatte er auch nicht wirklich überreagiert; er hatte vielmehr auf ein altes Ereignis in der Gegenwart reagiert.
*
Eine andere Patientin hatte große Schwierigkeiten mit ihrem Mann, mit dem sie bis dahin gut ausgekommen war. In ihrer Therapiesitzung beklagte sie sich darüber, daß er sie nun zu erdrücken und zu ersticken begann. Sie sagte, seine Herrschsucht sei unerträglich. Sie werde beim geringsten Anlaß ihre Sachen packen und gehen. Sie müsse einfach »hinaus«! Der geringfügigste Anlaß konnte eine solche Überreaktion auslösen, weil sie tatsächlich hinaus mußte. Es war zu viel für sie, in der gegenwärtigen Situation zu bleiben, so wie es für sie beim ursprünglichen Geburtstrauma, bei dem sie unter Sauerstoffmangel gelitten hatte, zu viel gewesen war, nicht geboren zu werden. Das war eine lebensbedrohende Situation gewesen.
»Ich habe das Gefühl, von den Wänden erdrückt zu werden«, lautete die Feststellung eines Patienten, und wieder hatte die Wortwahl eine direkte und eine übertragene Bedeutung. Er konnte keine Beziehung lange aufrechterhalten, weil dieses alte Feeling immer dazwischentrat: er mußte ständig »weitergehen«, »sich herauswinden«, »ausbrechen« und so fort. Es gab in seinem Erwachsenenleben keine Wände, die ihn erdrückten, aber es hatte bei der Geburt solche Wände (den Geburtskanal) gegeben.
319
Wieder eine andere Patientin begann die Therapie mit einer Vorstellung von ihrer Ehe, die sie so formulierte: »Wohin ich mich auch wende, ich sehe keinen Ausweg.« Dieses Gefühl quälte sie monatelang, bis sie es mit ihrem ursprünglichen Geburtserlebnis verknüpfte; sie hatte sich gefangen gefühlt, und es hatte keinen Ausweg gegeben.
Interessant ist, daß eine solche Ideation zum Zeitpunkt ihrer Anwendung nie ohne Kontext zu sein scheint. Ich glaube, der Grund dafür ist, daß wir auf eine dominierende Wirklichkeit reagieren. Diese Wirklichkeit nimmt die erste Stelle in unserem Denken ein, weil für den Augenblick die Wahrheit von einer tieferen Ebene an die erste Stelle gerückt ist: das Kindergehirn übernimmt die Führung und das Erwachsenengehirn versucht, sich anzupassen. Der Fetus denkt nicht: »Wohin ich mich auch wende, ich sehe keinen Ausweg«, wenn er sich durch den Geburtskanal kämpft.
Aber wenn das Begriffe bildende Gehirn reif genug ist, faßt es diese Erinnerung in Worte. Da der Durchschnittsmensch vollkommen vom Kontext der Erinnerung (der Geburt) abgeschnitten ist, wirken die Klagen oft übertrieben — freilich nicht für den, der sie vorbringt. Er stellt eine Art von Sinn her, zumindest in den Begriffen seines Innenlebens. Er glaubt, daß der und der ihm keinen Ausweg läßt, weil das eben das Feeling ist, das ihm zu schaffen macht. Allerdings geht dieses Feeling nicht auf das Verhalten von dem und dem zurück — es kommt aus einer inneren Kraft. Es wird auf die andere Person übertragen und wird in diesem Augenblick neurotisch.
Wir haben beobachtet, wie oft ein einziger Satz, ein einziges Wort plötzlich im Geist eines Menschen aulblitzt, wenn er aus einem Geburts-Primal kommt. Der Satz wird dann nur Grundlage für einen Strom von Einsichten.
Eine Patientin kam aus ihrem Primal und sah vor sich ein Schild leuchten, auf dem KEIN AUSGANG stand. Sie erkannte, daß das Schild symbolisch für ihr ganzes Leben war. Sie fand nie einen Ausweg: sie konnte sich nicht aus einer schlechten Ehe, einer schlechten beruflichen Stellung, einer schlechten Wohnung befreien — weil sie ständig, wenn auch unbewußt, dieses spezifische Feeling — kein Ausgang — nachschuf. Sie hielt fortwährend sich selbst gefangen.
320
Eine andere Patientin kam aus ihrem Primal mit dem Satz: »Es ist nie genug.« Die Einsicht, die sie gewonnen hatte, war, daß der Geburtskampf nicht ausgereicht hatte, um geboren zu werden, und dieses prototypische Erlebnis war später durch Eltern verstärkt worden, die nie das Gefühl hatten, daß das, was sie tat, gut genug war. Dieses Feeling hinderte sie daran, irgend etwas richtig zu machen, weil sie von vornherein das Gefühl hatte, daß nichts, was sie tun konnte, genug wäre — um geboren zu werden.
Wieder eine andere Patientin kam aus dem Primal mit dem Satz: »Es muß sein.« Nach dem Wiedererleben der Geburtssequenz verstand sie die absolute Notwendigkeit des Kampfes: er hatte von allem Anfang an Überleben bedeutet. Sie hatte kämpfen müssen, um geboren zu werden. Sie hatte kämpfen müssen, um am Leben zu bleiben. Der Kampf mußte sein. Sie machte aus allem einen Kampf, ihr Leben war nie einfach. Aber trotz aller Anstrengungen war nie etwas ganz richtig. Dadurch wurde ihr Leben neurotisch: sie hatte das richtige Gefühl im falschen Kontext. Sie war vom Beginn des Lebens an unnatürlich geworden, weil der natürliche Ablauf ihres Geburtsvorgangs verhindert worden war.
Schlußfolgerungen
Aus dem, was ich geschrieben habe, sollte nun klar geworden sein, daß Ideen und ihr Kontext oft zwei verschiedene Dinge sind. Zu glauben, daß die Neurose eine psychische Erkrankung sei, die durch Psychotherapie geheilt werden könne — eine Therapie, die in erster Linie mit Ideen arbeitet —, heißt, einen sehr oberflächlichen Standpunkt einnehmen, nicht nur im konventionellen Sinne, sondern auch in einem zutiefst biologischen. Ideen sind in einer dunklen, urtümlichen Vergangenheit verankert. Sie schießen wie Bojen an die Oberfläche, jede in einer anderen Farbe, jede mit ihren eigenen Charakteristika — aber dennoch fest mit demselben Fundament verbunden.
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Unsere Ideen unterscheiden sich nicht sehr ihrem Inhalt nach, und sie treiben auch nicht leicht in neue Gebiete ab, denn sie werden durch chemische Bande ebenso festgehalten wie durch die Glieder einer Ankerkette. Diese chemischen Prozesse zusammen mit den elektrischen sind ebenso real wie stark. Sie ändern sich nur, wenn das Fundament verändert wird.
Wir haben Beweise dafür in zwei voneinander unabhängigen Untersuchungen an Primärpatienten gefunden. Es zeigte sich nach einer Therapie von acht Monaten, daß sich die elektrische Spannung zwischen der rechten und der linken Hirnhälfte verschob, und zwar zugunsten eines größeren Gleichgewichts, einer besseren Harmonie. Wenn die repressiven Schranken des Gefühls fallen, bewegt sich das Gehirn automatisch in Richtung größerer Harmonie. Oder anders gesagt, der Wirklichkeit ins Auge sehen — wirklich sein — macht einen Menschen harmonisch.
Das Körpersystem als ganzes gleicht einem wunderbaren harmonischen Konzert, einer Sinfonie, die auch ohne Dirigenten gespielt wird. Sich selbst überlassen, ist alles aufeinander abgestimmt. Aber jede fremde Kraft, sei es eine Mikrobe oder ein Schmerz, wird zu einem Mißton, der das Orchester (das System) zu kompensieren zwingt. Gewisse Teile müssen den Ausgleich übernehmen. Das Orchester spielt weiter, aber manche Teile sind schwach und können ihre Last nicht tragen. Andere machen sich zu laut bemerkbar und müssen gedämpft werden.
Im Falle des Gehirns muß eine Hälfte eine Aufgabe übernehmen, für die sie nicht gerüstet ist. Sie muß sich überarbeiten, und wir erkennen das an der Kraft oder Spannung, die sie bei ihren täglichen Tätigkeiten braucht. Diese Kraft verringert sich rasch und dauerhaft, sobald die Verdrängung aufgehoben wird. Die Ausschaltung von Schmerz macht alle Schaltkreise frei, die für die irrealen, durch das Trauma nötig gewordenen Gedanken zuständig waren. Der von seiner irrealen Aufgabe entbundene Hirnbereich kann endlich ausruhen, und diese Ruhe wird von unseren elektronischen Instrumenten auch angezeigt. Nachdem er mit der Wirklichkeit zu tun gehabt hat, kann er die Unwirklichkeit aufgeben und zu der wirklichen Arbeit des Lebens zurückkehren.
Ideen sind am weitesten entfernt von den frühen präverbalen Erlebnissen. Sowohl in der Entwicklung der Spezies als auch in der des individuellen Gehirns sind Ideen das letzte, was erscheint. Das bedeutet nicht, daß Ideen notwendigerweise Entstellungen der Wirklichkeit seien.
Bei einem integrierten Menschen ist der Neokortex direkt verbunden mit den beiden niedrigeren Bewußtseinsebenen, so daß die von ihm produzierten Ideen exakte Repräsentationen dieser Wirklichkeiten auf den niedrigeren Ebenen sind.
Ideen, die entstehen, um Schmerz zu unterdrücken, sind die entferntesten Produkte dieses Schmerzes. Viszerale Produkte der ersten Ebene und Gefühle und bildhafte Produkte der zweiten Ebene sind viel näher verwandt. Ideen, die gebildet werden, um Schmerz aus einem eingeprägten Geburtstrauma zu unterdrücken, steigen noch weiter in die psychologische Stratosphäre hinauf. Zum Glück bewegen sich die Ideen eines Neurotikers nicht in einem Vakuum: sie werden belebt und begründet durch eine Primärkraft, die auf die eine oder andere Weise — früher oder später — ihre Herkunft enthüllt. Und sobald diese Herkunft einmal enthüllt ist, bedeutet das auch ihr Ende.
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